Surrealismus:

Die Spiele der Surrealisten: Yves Tanguy und der „köstliche Leichnam“

Yves Tanguy (1900–1955) gehört zu der ersten Generation von Malern unter den Surrealisten. Er prägte die Gruppe maßgeblich mit – und er erfand, wie die Kuratorin Kyllikki Zacharias weiß, das bis heute beliebte Spiel „köstlicher Leichnam“.

Text von Kyllikki Zacharias

In einem kleinen Haus in der Pariser Rue du Château begann Yves Tanguys Karriere als Künstler. 1923 hatte es der junge Hotelier Marcel Duhamel, den Tanguy über seinen Freund, den späteren Autor Jacques Prévert, kannte, von einem Hasenfellhändler in Montparnasse übernommen. Über einen Zeitraum von nahezu fünf Jahren bot es den dreien und ihren Lebensgefährtinnen die einmalige Möglichkeit, sich ohne äußere Zwänge zu entfalten: Duhamel zahlte die Miete, brachte Essen aus dem Hotel, in dem er arbeitete, und finanzierte die täglichen Vergnügungen der unzertrennlichen Truppe.

Endlich vom verhassten Militärdienst befreit, begeisterten Tanguy und seine Freunde sich für ein Leben in völliger Freiheit: Sie unternahmen Ausflüge in verruchte Vergnügungsviertel, lasen in großen Mengen Kriminal- und Abenteuerromane und frönten einer wahren Kinosucht. Rasch wurde das Häuschen zum lebendigen Treffpunkt eines stetig wachsenden Freundeskreises, zu dem Ende 1926 auch André Breton und andere Surrealisten stießen.

Unbekannter Fotograf: Wohnraum in der Rue du Château 54, ca. 1924/25  Privatsammlung, Berlin
Unbekannter Fotograf: Wohnraum in der Rue du Château 54, ca. 1924/25 Privatsammlung, Berlin

Anders als in der Wohnung von André Breton in der Rue Fontaine, wo dieser ein strenges Regiment über seine Surrealisten-Freunde führte, war das Haus in der Rue du Château vor allem ein Ort der Freiheit und der Späße. Tanguy schreinerte Möbel für die Gemeinschaftswohnung und kümmerte sich um den Dekor. Hier entstanden die berühmten Spiele der Surrealisten, wie der »köstliche Leichnam« (Cadavre exquis) und diverse Frage-und-Antwort-Spiele. Mit ihnen wurden neue Wege des assoziativen Denkens erprobt, ähnlich wie man zuvor, in der sogenannten Zeit der Schlafexperimente (um 1919–1920), das automatische, d.h. von rationaler Kontrolle befreite Schaffen erkundet hatte. Durch Autosuggestion in einen hypnotischen Trance-Zustand versetzt, vermochte es beispielsweise der Surrealist Robert Desnos, das, was er gerade erlebte, seinen Freunden in die Feder zu diktieren.

Im „Kleinen Lexikon des Surrealismus“, das 1938 anlässlich der ersten großen Surrealismus-Ausstellung in Paris erschien heißt es: „CADAVRE EXQUIS – Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann.“ Das klassisch gewordene Beispiel, das dem Spiel seinen Namen gegeben hat, bildet den ersten Teil eines auf diese Weise gewonnenen Satzes: Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau (frz. = „Der köstliche-Leichnam-wird-den-neuen-Wein-trinken“)

Max Morise, André Breton, Man Ray und Yves Tanguy, Cadavre exquis, 1927, Tinte und Farbstift  Sammlung Kummer, Köln Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Andres Kilger © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Max Morise, André Breton, Man Ray und Yves Tanguy, Cadavre exquis, 1927, Tinte und Farbstift Sammlung Kummer, Köln Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Andres Kilger © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Und in einem Frage-und Antwort-Spiel, an dem auch Yves Tanguy teilnahm, findet man folgende Kurzdialoge:

„Was ist die physische Liebe?“
„Die Hälfte des Vergnügens.“

„Was ist die Philosophie?“
„Ein Frauenhaar.“

„Was ist deine Mutter?“
„Eine Attacke bei Nacht.

„Was ist deine Malerei“?
„Ein kleiner weißer Rauch.“

Pariser Surrealisten

Von dieser letzten Antwort weiß man, dass sie von Yves Tanguy stammt.

Die Ausstellung „Im Reich der Misteldruiden. Das grafische Werk von Yves Tanguy“ läuft noch bis 8.4.2018 in der Sammlung Scharf-Gerstenberg.

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