Die Ausstellung „Hello World. Revision einer Sammlung“ im Hamburger Bahnhof wurde von einem internationalen, 13-köpfigen Team entwickelt. Wir haben die Beteiligten zu dem Projekt befragt. Gabriele Knapstein hat den Ausstellungsteil „Plattformen der Avantgarde. Der Sturm in Berlin und Mavo in Tokio“ entwickelt.
Welche Schwerpunkte oder Leerstellen haben sich in der Sammlung der Nationalgalerie für Sie gezeigt?
Obwohl die Nationalgalerie zu den führenden Museen in Europa gehörte, die ihre Sammlungen bereits im frühen 20. Jahrhundert der Gegenwartskunst öffneten, wurden interdisziplinäre und transnationale Strömungen wie der Futurismus, der Dadaismus oder der Konstruktivismus damals kaum berücksichtigt. Nur eine überschaubare Zahl an Werken dieser Kunstrichtungen befindet sich heute im Bestand der Nationalgalerie. Der Schwerpunkt der Sammlungserweiterung lag zunächst auf der zeitgenössischen französischen Kunst, dem Impressionismus, und dann auf dem deutschen Expressionismus.
Mit welchen Objekten knüpft Ihr Ausstellungsteil an diese Bestände an?
Aus dem Bestand der Nationalgalerie, der Kunstbibliothek, des Kupferstichkabinetts und der Staatsbibliothek zu Berlin werden Werke und Dokumente des Dadaismus, des Konstruktivismus und der abstrakten Kunst von KünstlerInnen gezeigt, die in den 1920er-Jahren in transnationalen Netzwerken miteinander im Austausch standen. Diese Netzwerke reichten bis nach Japan, wo die 1923 gegründete Künstlergruppe Mavo ihre multi-disziplinären Aktivitäten als Manifestationen eines „bewußten Konstruktionismus“ verfolgte. Zu den prägenden Figuren in dieser Gruppe gehörte Tomoyoshi Murayama, der 1922 in Berlin war und hier über die Galerie Der Sturm Kontakte zu internationalen KünstlerInnen geknüpft hatte. Werke von Murayama und die 7 Ausgaben der von ihm mit herausgegebenen Künstlerzeitschrift Mavo wurden aus bedeutenden japanischen Museen für die Ausstellung zur Verfügung gestellt.
Welche Perspektive trägt Ihr Kapitel zur Ausstellung als Ganzes bei?
Im Ausstellungsteil „Plattformen der Avantgarde: Der Sturm in Berlin und Mavo in Tokio“ geht es um transnationale KünstlerInnennetzwerke der 1920er-Jahre. Beispielhaft geht es um Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen Avantgardebewegungen in verschiedenen Regionen der Welt. Im Sinne einer von Christian Kravagna vorgeschlagenen „Kunstgeschichte des Kontakts“ geht es dabei um die Berücksichtigung konkreter Kontakte und Allianzen zwischen Künstler*innen, die sich über große geografische und kulturelle Distanzen hinweg gebildet haben.
Welche Verbindungen gibt es zu Ihrer bisherigen kuratorischen Arbeit?
Mit den Verbindungen zwischen KünstlerInnen aus Europa und Japan habe ich mich vor vielen Jahren im Zusammenhang mit meinen Forschungen zur Fluxus-Kunst der 1960er-Jahre befasst. Zahlreiche japanische Künstler*innen waren an den Fluxus-Aktivitäten beteiligt. 2006 konnte ich im Rahmen des von der Nationalgalerie gemeinsam mit dem Mori Art Museum in Tokio erarbeiteten Ausstellungsprojekts „Berlin-Tokio/Tokio-Berlin. Die Kunst zweier Städte“ den Radius meiner Recherchen zum Austausch zwischen japanischen und europäischen Kunstbewegungen erweitern. An die damaligen Fragestellungen habe ich jetzt angeknüpft, wobei ich mich verstärkt mit der interdisziplinären Ausrichtung der Mavo-Gruppe befasst habe und der Schwierigkeit, wie solche zum Teil ja ephemeren Aktivitäten wie Performances oder das Herausgeben einer Kunstzeitschrift museal überhaupt überliefert und vorgestellt werden können.
Warum ist es heute dringend notwendig, die Kunstgeschichtsschreibung und die Idee des Kanons zu hinterfragen?
Die Konzentration auf eine Kunstgeschichte Europas und Nordamerikas hat sowohl die transkulturellen Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen wie die Entstehung moderner Kunst und alternativer Kunstbegriffe in anderen Regionen der Welt lange gar nicht oder entschieden zu wenig berücksichtigt. Im Austausch mit ForscherInnen und KollegInnen weltweit gilt es heute, die Perspektiven zu erweitern und zu vervielfältigen. Dabei geht es zwar auch um die Ausbildung eines neuen, erweiterten Kanons und die Frage, wer an der Herausbildung eines solchen erweiterten Kanons wie beteiligt ist. Vor allem aber geht es um die Erkenntnis, dass kulturelle Dynamik wesentlich durch Austausch und Konflikt entsteht und sich der Aneignung und Transformation von Ideen, Haltungen und Formen verdankt.
Was kann ein Museum und eine Sammlung im Besonderen dabei leisten?
Museen stehen heute in der Verantwortung, ihre eigene Entstehungsgeschichte und den Kunstbegriff, der ihre Sammlungen geprägt hat, kritisch zu befragen. Dabei geht es zum einen um die Erforschung von Provenienzen, zum anderen um die Erweiterung des Kanons und um alternative Erzählungen, die einerseits künstlerische und kulturelle Austauschprozesse stärker berücksichtigen, andererseits aber auch die Differenzen, Besonderheiten und Ungleichzeitigkeiten in der künstlerischen Produktion aufzeigen.
Die Ausstellung „Hello World. Revision einer Sammlung“ findet noch bis 26.8.2018 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin statt.
Titelbild: (c) Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
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