Lieblingsstücke:

Amor mit Kopfschuss

François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich

Der bogenschnitzende Amor von François Duquesnoy ist zurzeit in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“ im Bode-Museum zu sehen. Fabian Fröhlich, Mitarbeiter für Werbung und Kommunikation in der Generaldirektion, schätzt die Skulptur seit vielen Jahren – doch sein Blick auf sie hat sich durch die Ausstellung verändert.

Zum ersten Mal habe ich den Amor von François Duquesnoy im Jahr 2006 gesehen. Ich weiß das Jahr noch, weil ich damals im Bode-Museum ein Foto von ihm gemacht habe, fasziniert von dieser beschädigten Marmorskulptur, die in eigentümlich gebeugter Haltung und mit geschlossenen Augen, wie schlafwandelnd, mitten im Raum stand. Ich habe eigentlich kein besonderes Faible für Kleinkinder in der Kunst; häufig sind sie mir in der angestrebten Wirkung zu berechnend: zu niedlich, zu lieblich, schlimmstenfalls zu süßlich. Doch im Gegensatz zu vielen anderen (in der Regel ja recht lebensfrohen) Putten und Liebesgöttern wirkte dieser Amor auf mich traurig und in sich gekehrt, ja er hatte etwas geradezu morbides, und das nicht nur wegen des fehlenden Arms und der verstümmelten Flügelchen. Der gesenkte Kopf, überhaupt die gesamte Pose irritierten mich – in einem durchaus positiven Sinne.

Auch bei späteren Besuchen in Berlin habe ich die Skulptur gesehen und fotografiert (immer im Anschnitt und immer frontal von vorne, wohl wegen des seitlich einfallenden Lichts). Aber ich beschäftigte mich nie mit ihrer Geschichte oder mit der Frage, wie sie ursprünglich einmal ausgesehen hatte. Dass es sich eigentlich um einen „Bogenschnitzenden Amor“ handelte, las ich vermutlich auf dem Label, aber diese Information setzte sich nicht wirklich fest, sie wurde von dem unmittelbaren Eindruck überdeckt, den der fragmentarische Zustand der Figur auf mich machte.

François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufnahmen im Großen Marmorsaal des Bode-Museums von 2006 und 2010. Fotos: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufnahmen im Großen Marmorsaal des Bode-Museums von 2006 und 2010. Fotos: Fabian Fröhlich

Wiederbegegnet ist mir Duquesnoys Amor dann Anfang 2015 bei der Sichtung der möglichen Motive für die von mir betreuten Werbung zur Ausstellung „Das verschwundene Museum“, in der die Skulptur noch bis Ende September zu sehen ist. Als zentrales Motiv für Plakat, Einladungskarte, Banner etc. wählten wir Andrea Rosselinos Madonna mit Kind. Der Grafiker brachte sie unter einer roten Fläche zunächst zum Verschwinden, um sie dann in markanten Details, wie durch Fenster, wieder sichtbar zu machen. Auf der Außenseite des Ausstellungs-Folders stellten wir ihr Dusquenoys Amor zur Seite, in dem sich ebenso wie in dem wiederhergestellten Relief der Madonna zentrale Fragen der Ausstellung bündeln: Welche Verluste und Beschädigungen hat der Zweite Weltkrieg in den Beständen der Gemäldegalerie und der Skulpturensammlung hinterlassen, und wie gehen Kuratoren und Restauratoren heute damit um?

Außenseite des Folders zur Ausstellung „Das verschwundene Museum“
Außenseite des Folders zur Ausstellung „Das verschwundene Museum“

Der hier für den Amor gewählte Bildausschnitt sollte das in den Mittelpunkt rücken, was ich selbst in den Jahren zuvor in dieser Drastik gar nicht wahrgenommen (oder inzwischen wieder vergessen) hatte, ein Detail, das mich auf dem Foto von Jörg P. Anders aber nun geradezu ansprang: Die „Wunde“, die sich von der Schläfe und dem zerstörten Ohr wie ein Spinnennetz über den Kopf der Skulptur ausbreitet – eine Kriegsverletzung, ein Kopfschuss im ganz buchstäblichen Sinne. Aus der seitlichen Perspektive wirkt dieses Kind nicht einfach nur traurig oder in sich gekehrt, es scheint tödlich getroffen.

François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich

Zunächst auf Fotografien, dann anhand eines alten Gipsabgusses, der für die Ausstellung aus dem Depot geholt worden war, sah ich nun aber auch, wie der Amor ursprünglich einmal ausgesehen hatte. Die beim fragmentarisch erhaltenen Original so eigenartig wirkende Körperhaltung und die gesenkten Augenlider ergaben plötzlich Sinn. Dieser pummelige Knabe ist weniger in sich selbst versunken als in seine Tätigkeit, das Bogenschnitzen. Außergewöhnlich erscheint mir diese Skulptur immer noch, untere anderem weil sie so lebensnah wirkt, im Grunde nicht anders als ein heutiges Kind, dass mit seinen Legosteinen spielt und dabei die Welt um sich vergisst. Aber morbide? Morbide ist an diesem Kunstwerk, so wie Duquesnoy es sich gedacht hat, natürlich überhaupt nichts.

François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, Gipsabguss, vor 1945. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, Gipsabguss, vor 1945. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, Gipsabguss, vor 1945. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, Gipsabguss, vor 1945. Aufstellung in der Ausstellung „Das verschwundene Museum“. Foto: Fabian Fröhlich

Der in Rom arbeitende flämische Bildhauer François Duquesnoys (1597-1634) war schon zu Lebzeiten berühmt für seine anrührenden, genau beobachteten Kinderfiguren. Zeitgenossen nannten ihn auch „fattore de’Putti“, Rubens schrieb über seine Werke, man wisse nicht, „ob Natur oder Kunst sie gemacht haben, oder der Marmor sich zum Leben erweicht habe.“ Bevor Duquesnoy um 1625 den bogenschnitzenden Amor schuf, hatte er vor allem in weicheren Materialien wie Ton, Holz und Elfenbein gearbeitet. Die lebensgroße Skulptur sollte Kritiker und Konkurrenten davon überzeugen, dass er auch den anspruchsvollen Marmor meistern konnte – anfangs mit mäßigem Erfolg, der Amor fand lange keinen Käufer. Über einen Kunsthändler wurde er nach Amsterdam vermittelt, wo der Rat der Stadt ihn als Geschenk für Prinzessin Amalie von Oranien erwarb, die ihn an prominenter Stelle in ihrem Garten in Den Haag aufstellte. Von dort gelangte er nach Brandenburg, seit 1659 ist er im Inventar der kurfürstlich-brandenburgischen Kunstkammer verzeichnet – er gehört also gewissermaßen zum Urbestand, zur Keimzelle der Staatlichen Museen zu Berlin.

Im Laufe der Jahrhunderte erlitt die Figur mehrfach Beschädigungen, vor allem Bogen und Schnitzmesser zerbrachen und wurden wieder zusammengeflickt. Die eigentliche Katastrophe ereilte den Amor jedoch, nachdem er im Zuge des Zweiten Weltkrieges in den Flakbunker Friedrichshain ausgelagert worden war. Nach den dortigen großen Bränden im Mai 1945, die viele Hauptwerke der Berliner Sammlungen zerstörten, galt er als verschollen. 1958 kehrte er jedoch zusammen mit 450 weiteren Werken der Skulpturensammlung aus der Sowjetunion zurück, wohin er nach Kriegsende verbracht worden war. Wie viele andere der Skulpturen war er schwer beschädigt, Schnitzmesser und Bogen sowie der rechte Arm und Teile der Flügel waren nun verloren. Ein Foto aus der Nachkriegszeit dokumentiert den traurigen Zustand, in dem die Figur sich befunden hatte, bevor sie – bereits in Leningrad – wieder zusammengesetzt wurde. Wie auch die markante „Wunde“ am Kopf zeigt, hatte sie nicht nur unter dem Feuer, sondern mehr noch unter absichtsvollem Vandalismus gelitten. Offensichtlich war der Liebesgott in den letzten Kriegstagen selbst zur Zielscheibe geworden.

François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Zustand nach 1945 und vor der Rückkehr der Skulptur aus der Sowjetunion 1958. Foto: Archiv Skulpturensammlung
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629. Zustand nach 1945 und vor der Rückkehr der Skulptur aus der Sowjetunion 1958. Foto: Archiv Skulpturensammlung

Ende der 1990er-Jahre wurde die Skulptur grundlegend restauriert, die fehlenden Teile und Beschädigungen wurden dabei bewusst nicht ergänzt, obwohl dies mit Hilfe der alten Abgussform möglich gewesen wäre. In der Ausstellung „Das verschwundene Museum“ und im auch online abrufbaren audiovisuellen Guide kann man die Diskussion unter Restauratoren und Kuratoren nachvollziehen, die sich bis heute um den „Bogenschnitzenden Amor“, um seine Schicksal und seine Restaurierung entspinnt.

Auch ohne je selbst darüber entscheiden zu müssen, kann sich jeder Ausstellungsbesucher eine eigene Meinung bilden, ob er die Skulptur lieber in ihrem jetzigen Zustand bewahren oder eher, so wie Rosselinos Madonnonenrelief, vervollständigt wissen möchte. Für beides gibt es gute Argumente. Ich selbst würde den Amor so, wie ich ihn kennengelernt habe, wohl gerne erhalten. Ich sehe die Spuren der Geschichte und will sie nicht ausradiert wissen. Weniger, weil ich in der Skulptur vorrangig ein Mahnmal für die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sehe – das wäre für mich eine moralisch motivierte Instrumentalisierung auf Kosten des Kunstwerks. Sondern eher, weil auch die Fehlstellen für mich zu einem integralen Teil des Werks geworden sind, den man nicht mehr negieren sollte (was ohnehin nur in begrenztem Maße möglich wäre).

Natürlich bin ich froh, dass die Figur nicht mehr in Einzelteilen im Depot liegt. Doch gerade in ihrem heutigen Zustand (und mit dem Wissen um ihre ursprünglichen) erscheint mir diese Skulptur so anrührend, so vielschichtig, auf so vielen Ebenen lesbar wie kaum ein anderes Werk im Bode-Museum. Mir ist bewusst, dass vieles, das ich darin sehe, sehr wenig mit der Intention des Künstlers zu tun hat und ich habe selbst erlebt, wie die späteren Spuren und eine einmal eingenommene Perspektive den Blick auf das darunter liegende verstellen können. Aber auch als Kunsthistoriker bezweifle ich, dass es „das Eigentliche“, den wahren, ursprünglichen Kern eines Kunstwerks überhaupt gibt. Große Kunstwerke bedeuten eben nicht nur das, „was der Künstler uns damit sagen wollte“. Ihre Bedeutung speist sich mindestens im gleichen Maße aus ihrer Geschichte, ihrer Rezeption und ihrer Wirkung auf jeden einzelnen Betrachter.

Am liebsten wäre es mir wohl, wenn auch in Zukunft jeder Besucher des Bode-Museums das fragmentarische Original und den vollständigen Abguss nebeneinander sehen könnte. Ich weiß nicht, ob und wie das auf Dauer möglich sein kann, ohne dass man ein didaktisches Lehrstück daraus macht. Der Ausstellung „Das verschwundene Museum“ ist diese Gratwanderung jedenfalls in wunderbarer Weise gelungen.

François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629, Original und Abguss. Foto: Fabian Fröhlich
François Duquesnoy, Bogenschnitzender Amor, vor 1629, Original und Abguss. Foto: Fabian Fröhlich

Kommentare

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  • Herzlichen Dank für diesen wunderbaren, aus der Seele gesprochenen Beitrag. Auch ich habe lange vor diesem Exponat gestanden. Ein regelrechtes Lieblingsstück auszuwählen, fällt mir schwer. Für mich ist die gesamte Ausstellung ein einziges Lieblingsstück, denn darin fand ich so viele Dinge, die mir viel zu sehr in der Museumswelt fehlen. Schon immer interessierten mich die Meisterwerke, sondern die Geschichten, die hinter den Exponaten stehen. Kunstwerke haben so viel erlebt, uns so vieles zu berichten. Ich wünschte, diese Ausstellung könnte zu einem permanenten Teil des Museums werden. Sie hat so viele Facetten und berührt die Besucher auf unterschiedlichste Weise. Schade, dass sie bald zu Ende geht!

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