Lieblingsstücke:

Die Decke aus dem Flüchtlingslager

Direktorin Elisabeth Tietmeyer mit einer Strickdecke aus dem Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia
Direktorin Elisabeth Tietmeyer mit einer Strickdecke aus dem Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia © Ute Franz

Elisabeth Tietmeyer ist Direktorin des Museums Europäischer Kulturen. Eines der Stücke aus Ihrer Sammlung, das sie am meisten berührt, ist eine alte Tischdecke mit einer bewegten Geschichte.

2002 schenkte der Berliner Textilkünstler Horst Schulz dem Museum Europäischer Kulturen eine gestrickte Tischdecke aus Sackgarn. Ich fand sie von Anfang an faszinierend, weil sie aus anderthalb Metern ungewöhnlichem recyceltem Material in sehr guter Qualität von Hand hergestellt war. Aber vor allem die damit verbundene Geschichte – die Biografie des Objekts – macht dieses Stück so interessant und wertvoll für unser Museum. Wir führten mehrere Gespräche mit dem Künstler, und dies ist seine Geschichte:

Strickdecke aus dem Museum Europäischer Kulturen.
Strickdecke aus dem Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia

Im Januar 1945 flüchtete die Familie Schulz aus Westpreußen nach Dänemark, wo sie fünf Jahre lang in verschiedenen Lagern lebte. Dort lernte Horst Schulz – damals zwölfjährig – eine ältere Frau kennen und sah ihr beim Handarbeiten zu: Sie entzog Jutesäcken, mit denen die Baracken gescheuert werden sollten, die Fäden und strickte daraus Spitzenstrickdecken. Diese Arbeit begeisterte ihn so sehr, dass er der Frau seine Hilfe anbot. Er kopierte handschriftlich ihre zerschlissenen Strickvorlagen, die sie auf der Flucht mitgenommen hatte, damit man sie wieder lesen konnte. Weil ihm das aber bald zu langweilig wurde, wollte er auch das Stricken lernen. Die Frau gab ihm ein Stück Draht, dessen Enden mit einem Stein spitz geklopft wurden, und lehrte ihn verschiedene Stricktechniken. Während seines Lageraufenthaltes stellte er dann 36 große, runde Decken her. Da diese bei den dortigen Mitinsassen sehr begehrt waren, tauschte er sie gegen Lebensmittel und Kleidung.

Horst Schulz lebt heute in Berlin, wo er viele Jahre als Dekorateur arbeitete. In den 1980er-Jahren entdeckte er das Stricken wieder und wurde durch seine Erfindung des „Patchworkstrickens“ in Fachkreisen international bekannt. Mit dieser Methode werden kleine Stücke in verschiedenen Farben und Mustern direkt aneinander gestrickt, ohne dass sich die Fäden ineinander verwickeln. Seine außergewöhnlich gearbeiteten Unikate, wie Westen, Jacken, Mäntel, Kissen, Bettdecken etc., stellte Horst Schulz in den großen Kunstgewerbe- und Textilmuseen Europas aus.

Die Tischdecke behielt er als Andenken aus dem Flüchtlingslager, bevor er sie unserem Museum schenkte, einem Haus, das europäische Objekte der Alltagskultur und deren Geschichten bewahrt. Je bekannter diese sind, desto größeren Wert haben die Stücke für unser Museum, denn die Geschichten werden von Menschen erzählt und Menschen stehen bei unserer Arbeit im Mittelpunkt.

Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums Europäischer Kulturen, mit der Strickdecke
Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums Europäischer Kulturen, mit der Strickdecke. Foto: Salwa Joram

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