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Ein friedliebender Prinz Eisenherz in antiker Tradition

Carl Heinrich Gramzow, Genius des Friedens, 1848, Marmor, Inv. Nr. B I 10, Alte Nationalgalerie © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger
Carl Heinrich Gramzow, Genius des Friedens, 1848, Marmor, Inv. Nr. B I 10, Alte Nationalgalerie © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger

Als Praktikant in der Alten Nationalgalerie begegnete Alexander Reich eine Figur, die ihn direkt faszinierte. Obwohl der „Genius des Friedens“ des unbekannten Bildhauers Carl Heinrich Gramzow an Prinz Eisenherz erinnert, ist seine Botschaft eine friedliche – und sehr aktuelle.

Text: Alexander Reich

Die Skulptur eines nackten Jünglings mit kinnlangem Haar ist mir bei Recherchen in den Skulpturenbeständen der Alten Nationalgalerie sofort aufgefallen. Die knapp einen Meter große Marmorfigur „Genius des Friedens“ von Carl Heinrich Gramzow (geb. 1807) zeigt keinen sagenumwobenen Ritter der Tafelrunde; der fast gänzlich unbekleidete Jüngling ist vielmehr eine Personifikation des Friedens und vermittelt anhand seiner romantisch verklärten Erscheinung das stilisierte Bild einer tugendhaften griechisch-römischen Antike.

Die nahezu unbekannte und äußerst faszinierende Skulptur befindet sich zurzeit im Depot, weswegen ich an dieser Stelle die Chance nutzen möchte, diesen Schatz ins Licht zu rücken. Der Jüngling streckt dem Betrachter den rechten Arm entgegen und verbirgt gleichzeitig in seiner linken Hand ein Schwert hinter dem Oberkörper. Bereits an der Art und Weise, wie er das mit einem Lederriemen verschlossene Schwert hält – nämlich kopfüber und an der Scheide – wird deutlich, dass es hier nicht zum Kämpfen dienen soll.
Neben der gestalterischen Schönheit und der interessanten Ikonografie der Statuette geben vor allem die sozialgeschichtlichen Hintergründe ihrer Entstehungszeit ihr eine neue Relevanz, denn die 1840er Jahre waren eine Zeit blutiger Auseinandersetzungen und politischer Umwälzungen. Wer also war der Schöpfer dieses heute noch aktuellen Werks?

Carl Heinrich Gramzow, Genius des Friedens, 1848, Marmor, Inv. Nr. B I 10, Alte Nationalgalerie © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger
Carl Heinrich Gramzow, Genius des Friedens, 1848, Marmor, Inv. Nr. B I 10, Alte Nationalgalerie © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger

Trotz bedeutender Aufträge nicht berühmt
Am 11. März 1807, kurz nach Napoleon Bonapartes Einmarsch und der Niederlage Preußens, wurde Carl Heinrich Gramzow im klassizistischen Berlin geboren. Im Alter von 19 Jahren arbeitete er zum einen als Lehrling in der Preußischen Akademie der Künste und zum anderen als Gehilfe des Bildhauers Carl Friedrich Wichmann in der Werkstatt eines der bedeutendsten Bildhauer des deutschen Klassizismus, Christian Daniel Rauch. Sein Ausstellungsdebüt gab Gramzow vermutlich 1826 bei der Berliner Akademieausstellung.

Ab 1835 war Gramzow an der Akademie der Bildenden Künste in München eingeschrieben und reiste im Oktober 1838 für über drei Jahre nach Rom. Anschließend arbeitete er in seiner Heimatstadt Berlin. Obwohl er einige bedeutende Aufträge ausführte, wurde Gramzow niemals berühmt. Er fertigte die Karyatiden, tragende Säulen in Frauengestalt, im Weißen Saal des zerstörten Berliner Stadtschlosses und ein Soldatendenkmal vor dem ehemaligen preußischen Kriegsministerium in der Leipziger Straße an. Außerdem war er an der Ausführung der allegorischen Statuen am Nord- und Südrisalit sowie den Kinderfiguren der Fensterkreuze im ersten Obergeschoss des Neuen Museums beteiligt.

Flucht nach Übersee
Im Verlauf der späten 1840er Jahre verstrickte sich Gramzow dann zusehends in politische Angelegenheiten. Er engagierte sich als demokratischer Aktivist während der deutschen Märzrevolution von 1848/49 gegen die Monarchie und musste – wie viele andere seiner national und liberal gesinnten Zeitgenossen – schließlich nach Amerika fliehen. Nach seiner Rückkehr aus den USA im September 1849 versuchte er erneut in Rom Fuß zu fassen, jedoch ohne Erfolg. Im April 1850 verließ er Rom wieder und stellte sein künstlerisches Schaffen schließlich ganz ein. Seine Spur verliert sich endgültig in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts.

Detailaufnahme Künstlersignatur Carl Heinrich Gramzow © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger
Detailaufnahme Künstlersignatur Carl Heinrich Gramzow © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger

In der Hochphase seines politischen Engagements entstand Gramzows bedeutendste Skulptur: der „Genius des Friedens“ von 1848. Der Künstler setzte mit diesem Werk ein eindringliches Zeichen gegen die andauernde Gewalt und formulierte einen Friedensappell an seine Zeitgenossen. Dass es sich bei der Statuette um eine Personifikation des Friedens handelt, ist für den heutigen Betrachter jedoch nur noch schwer zu erkennen. Vor allem weil der aus Metall angefügte Friedenszweig (Ölzweig), der dem Betrachter damals noch demonstrativ entgegengestreckt wurde, heute leider fehlt. Wer die Skulptur jedoch genau betrachtet, entdeckt noch einen zweiten Verweis auf den von Gramzow geforderten Frieden: das umgekehrte, in der Scheide verborgene Schwert, das der Genius vor dem Betrachter geradezu versteckt. Diese Geste ist ein deutliches Zeichen dafür, die Kämpfe zu beenden und den Frieden wiederherzustellen.

Innere Freiheit vs. klassische Ideale
Die Friedensikonografie wird von weiteren im Werk aufgerufenen kunsthistorischen Zitaten gestützt. Gramzows Verweise auf den überaus beliebten „Apoll von Belvedere“ aus dem späten 4. Jhd. v. Chr. deuten auf seine klassische Bildhauerausbildung hin und es wäre überraschend, wenn er den Apoll bei seinem Aufenthalt in Rom nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Im Klassizismus erfreute sich die antike Skulptur des Bildhauers Leochares – erhalten nur als römische Kopie aus hadrianischer Zeit (120–140 n. Chr.) – großer Beliebtheit. Vor allem durch die Lobeshymnen der Schriftsteller Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verbreiteten sich Kopien des Apolls in ganz Europa.

Innere Freiheit vs. klassische Ideale
Die Friedensikonografie wird von weiteren im Werk aufgerufenen kunsthistorischen Zitaten gestützt. Gramzows Verweise auf den überaus beliebten „Apoll von Belvedere“ aus dem späten 4. Jhd. v. Chr. deuten auf seine klassische Bildhauerausbildung hin und es wäre überraschend, wenn er den Apoll bei seinem Aufenthalt in Rom nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Im Klassizismus erfreute sich die antike Skulptur des Bildhauers Leochares – erhalten nur als römische Kopie aus hadrianischer Zeit (120–140 n. Chr.) – großer Beliebtheit. Vor allem durch die Lobeshymnen der Schriftsteller Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verbreiteten sich Kopien des Apolls in ganz Europa.

Apoll von Belvedere, 350-325 v. Chr., Gips, Abguss-Sammlung des Archäologischen Seminars der Philipps-Universität Marburg / Martina Klein
Apoll von Belvedere, 350-325 v. Chr., Gips, Abguss-Sammlung des Archäologischen Seminars der Philipps-Universität Marburg / Martina Klein

Mit dem Aufkommen der Romantik und dem Verblassen des winckelmannschen Ideals der „stillen Größe und edlen Einfalt“ verlor der „Apoll von Belvedere“ für die Künstler des auslaufenden Klassizismus jedoch zunehmend an Bedeutung. Die Merkmale, die ihn ursprünglich berühmt gemacht hatten – seine edle Erscheinung, die idealisierte Mimik, die ein starkes Inneres frei von menschlicher Unzulänglichkeit zeigt und somit, laut Winckelmann, als Vorbild für die Zeitgenossen dienen sollte – standen nun nicht mehr an erster Stelle. Die Menschen suchten in den Wirren des 19. Jahrhunderts nach den napoleonischen Kriegen und den Revolutionen eine neue innere Freiheit, die sie fortzog von den als starr, kalt und belehrend empfundenen klassischen Idealen. Die Romantik der Natur, das idealisierte tugendhafte Mittelalter und die inneren Empfindungen spielten fortan eine wichtige Rolle.

Detailaufnahme, Hermann Stilke, Raub der Söhne Edouards IV., 1850, Öl auf Leinwand, (Inv. Nr. W.S. 239), © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger
Detailaufnahme, Hermann Stilke, Raub der Söhne Edouards IV., 1850, Öl auf Leinwand, (Inv. Nr. W.S. 239), © Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Andres Kilger

Romantische Ritterlichkeit
Diese soziale und künstlerische Entwicklung spiegelt sich auch in Gramzows „Genius des Friedens“ wider: der ausgestreckte Arm, die Beinstellung, der Kontrapost und der mit einem runden Spangenknopf befestigte Schulterumhang zeigen noch deutlich die Nachwirkungen des „Apoll von Belvedere“ und der Ideale Winckelmanns; allerdings überformt Gramzow die klassizistischen Merkmale mit einer neuen Sensibilität, die in den weichen Körperformen und den „lieblich-empfindsamen Gesichtszügen“ zum Ausdruck kommt. Diese Lieblichkeit des Gesichts ist der Antike und dem herb-strengen Ideal des Berliner Klassizismus fremd. Die mittig gescheitelten kinnlangen Haare, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch in anderen Bildwerken auftauchen, sind ein Verweis auf die zu dieser Zeit starke Auseinandersetzung mit dem Spätmittelalter und die romantisierten Vorstellungen von Ritterlichkeit, die seit dem Aufschwung der Romantik die Kunst und Literatur bereicherten.

Auch die reduzierte Dynamik der Skulptur trägt zu einer veränderten Wahrnehmung bei: Während der „Apoll von Belvedere“ noch stärker ausschreitet und den Kopf stark in Richtung seines ausgestreckten Armes dreht, verweilt der Blick des Genius’ leicht gesenkt und still auf dem ehemals dem Betrachter präsentierten Friedenszweig. Der Umhang, der in der antiken Tradition noch raumgreifende Falten ausbildete, findet bei Gramzows „Genius des Friedens“ seinen Gegenpol. Die starren senkrechten Falten des Umhangs fallen am Rücken der Figur elegant herab und verbinden sich mit dem aufragenden Baumstamm am rechten Fuß. Der Umhang erhält so eine begrenzende Funktion, wird zur Fläche, die den Genius vom Zurückweichen abhält und die Schutzlosigkeit seines entblößten Körpers unterstreicht.

Der Friedensappell, den Gramzow mit seinem „Genius des Friedens“ in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs formulierte, ist für mich heute aktueller denn je. Vor allem die Feindseligkeit gegenüber dem „Fremden“ muss verschwinden. Um es mit Gramzows Skulptur zu sagen: Die Waffen müssen beiseitegelegt und der Ölzweig des Friedens den Hilfsbedürftigen entgegengestreckt werden.

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