Neue Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof: Kirchner Abstrakt

„Ernst-Ludwig Kirchner als abstrakten Künstler wiederentdecken“ – das ist der Anspruch einer neuen Ausstellung der Nationalgalerie. Alexander Robinet-Borgomano sprach mit Joachim Jäger, Leiter der Neuen Nationalgalerie, über die Wiederentdeckung Kirchners im Zeichen der Abstraktion.

Ernst Ludwig Kirchner zählt zu den bekanntesten Künstlern in Deutschland und gilt als Symbol des deutschen Expressionismus. Ist seine „Wiederentdeckung“ überhaupt noch möglich?
Joachim Jäger: Aus meiner Sicht wird Kirchner heute viel zu sehr als „expressiver Realist“ gesehen und auf seine figürlichen Motive reduziert. Werke wie „Der Potsdamer Platz“, der „Belle-Alliance Platz“, „Erna Schilling“ oder „Frauenkirch“ würde ich am liebsten umbenennen in „Untitled Number one“, „Untitled Number Two“ und so weiter – um sie aus ihrer gegenständlichen Festlegung etwas zu befreien. Mit dieser Ausstellung jedenfalls, möchte ich den Blick verstärkt auf die zeichnerischen und formalen Mechanismen von Kirchner lenken, auf den großen, beeindruckenden Akt der Übersetzung, den er geleistet hat.

Kirchner hat also durch seine Bilder ein eigenes Schriftsystem entwickelt? Dafür scheint ja der der Titel dieser Ausstellung zu stehen: „Hieroglyphen“.
Der Begriff stammt vom Künstler selbst. Er verstand darunter Liniengerüste, die er aus seinen Skizzen herausdestilliert hat. Von „fertigen Hieroglyphen“ sprach er gar einmal, die „in der unmittelbaren Ekstase die reinsten und feinsten Gefühle des Schaffenden an der Fläche erfassen“. „Linien und die von ihnen gebildeten Formen“, sagt Kirchner an anderer Stelle, seien „Hieroglyphen in dem Sinne, dass sie Naturformen in einfachere Flächenformen bringen und dem Beschauer ihre Bedeutung suggerieren wie das geschriebene Wort ‚Pferd‘ jedem die Form ‚Pferd‘ vor Augen stellt“. Die Ausstellung ist eine Einladung, dieses Denken in Zeichen wiederzuentdecken.

Joachim Jäger, Leiter der Neuen Nationalgalerie, im Gespräch. (c) Staatliche Museen zu Berlin, Juliane Eirich
Joachim Jäger, Leiter der Neuen Nationalgalerie, im Gespräch. (c) Staatliche Museen zu Berlin, Juliane Eirich

Sie sprachen in Ihrer Eröffnungsrede von Kirchner als „abstrakten Künstler“. In welchen Werken kommt dieser unerwartete Abstraktionsbegriff am besten zum Vorschein?
Wie stark und eigen das Bildsystem von Kirchner ist, macht vor allem das Spätwerk deutlich. Es wurde lange verschmäht, kann aber auch wie eine Kulmination von Kirchners Denken erscheinen. Sein später, so genannter Teppichstil – wunderbar abzulesen in dem „Stilleben mit Katze“ – zeigt, wie radikal Kirchner gedacht hat und weist voraus auf heutige abstrakte Malweisen zeitgenössischer Künstler. Diese so zeichenhafte Malerei behauptet sich aus meiner Sicht jedenfalls sehr gut gegenüber dem Frühwerk. So ist die Ausstellung auch als Schleife, als Loop angelegt: Wenn Sie in der Ausstellung in der Davoser Zeit angekommen sind, können Sie wieder von vorne beginnen – weil ich eben glaube, dass man das Frühwerk anders sieht, wenn man es mit den Augen des Spätwerks betrachtet und umgekehrt.

Wie verweist die Ausstellung auf die Inspirationen, die Kirchners Schaffen am meisten geprägt haben?
Einzelne Referenzen – Zeichnungen, Bücher, Fotos – lenken den Blick pointiert auf einzelne Aspekte oder Inspirationen. Das eigene Fotografieren war zum Beispiel wichtig für Kirchner. Formale Ideen der Gemälde sind oft in seinen Fotos bereits angelegt. Kirchner-Skizzen die wir zeigen, dokumentieren den Besuch des „Völkerkundemuseums“ in Dresden, der natürlich auch einen wichtigen Inspirationspunkt darstellte. Oder Carl Einsteins Buch über die „Negerplastik“: ein Buch, das von Kirchner und seinen Zeitgenossen reichlich rezipiert wurde.

Ernst Ludwig Kirchner: Wiesenblumen und Katze, 1931/32 © bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Volker-H. Schneider
Ernst Ludwig Kirchner: Wiesenblumen und Katze, 1931/32 © bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Volker-H. Schneider

Prägt Kirchers Beschäftigung mit den afrikanischen Kulturen sein Schaffen?
In Carl Einsteins Buch erscheinen die Objekte und Skulpturen freigestellt auf weißem Fond – ausgeblendet blieb damit jede Vorgeschichte, jede kulturelle Praxis. Von diesem Buch zurück auf Kirchner geblickt, etwa auf die wunderbare Skulptur der „Stehenden“ oder auf den „Großen Sitzenden Akt“, wird deutlich, wie formal und abstrakt Kirchner vorgegangen ist. Mandelförmig geschnitzte Augen, nicht als Bezug zu einer spezifischen afrikanischen Kultur, sondern als Chiffre einer damals als positiv, inspirierend empfundenen „Fremdheit“. Andere Zeichen und Kürzel in den Werken von Kirchner stehen für Gesten, Mienen, für Häuser, Bäume, für Landschaftselemente.

Das Wort „abstrakt“ evoziert demnach eher die Reduzierung der Darstellung auf elementare Zeichen, als die Abwesenheit eines konkreten Gegenstandsbezuges.
Ja, richtig. Und ähnlich anspielungsreich verhält es sich mit dem Film der italienischen Künstlerin Rosa Barba, der die Ausstellung einleitet. Die Künstlerin hatte 2010 in zwei Depots der Neuen Nationalgalerie gedreht. Die im Film gezeigten Kunstwerke, darunter viele Hauptwerke der Nationalgalerie, sind auf den ersten Blick kaum zu erkennen, so mystisch, abgedunkelt, magisch wirkt die filmische Atmosphäre. Die Klassische Moderne erscheint hier als eine ferne, kaum zu entschlüsselnde Welt. Gefilmte Skulpturen könnten dabei von Kirchner, aber ebenso gut von anderen Künstlern stammen. Denn darum geht es nicht. Es geht um kulturelle Codes, um sprechende Ausschnitte, Objektdetails, Silhouetten. Insofern ist der Film ein guter Einstieg in das Nachdenken über Zeichen oder über das Hieroglyphische bei Kirchner.

Die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner: Hieroglyphen“ läuft noch bis 26. Februar 2017 in der Neuen Galerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin.

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