100 Jahre alt und topaktuell: Die Sammlungspräsentation der Neuen Nationalgalerie
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Die Werke der aktuellen Sammlungspräsentation „Die Kunst der Gesellschaft 1900–1945“ in der Neuen Nationalgalerie sind am Beginn des letzten Jahrhunderts entstanden – und greifen Themen auf, die heute aktuell wie nie sind. Kurator Dieter Scholz erklärt, warum.
Die Neue Nationalgalerie eröffnete im August diesen Jahres nach sanierungsbedingter Schließung mit der Sammlungspräsentation „Die Kunst der Gesellschaft 1900–1945“. In 250 Gemälden und Skulpturen, unter anderem von Otto Dix, Hannah Höch, Ernst Ludwig Kirchner, Lotte Laserstein und Renée Sintenis, reflektiert die Ausstellung die gesellschaftlichen Fragen einer wechselvollen Geschichte: Reformbewegungen im Kaiserreich, Erster Weltkrieg, „Goldene“ Zwanziger Jahre der Weimarer Republik, Verfemung der Avantgarde im Nationalsozialismus sowie Zweiter Weltkrieg und Holocaust spiegeln sich in den Werken wieder. Im Interview spricht der Kurator Dieter Scholz über den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft, nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch im Hinblick auf aktuelle Herausforderungen in Zeiten einer Pandemie.
Constanze von Marlin: Die Neue Nationalgalerie war sechs Jahre sanierungsbedingt geschlossen. Während dieser Zeit befanden sich die Kunstwerke in Außenlagern und dein Schreibtisch temporär im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. Was hat dich in dieser Zeit beschäftigt und wie war die Arbeit mit der Sammlung in dieser besonderen Situation?
Dieter Scholz: Während der Schließzeit habe ich konstant mit der Sammlung weitergearbeitet. Zunächst waren im Oktober 2015 die Meisterwerke der Klassischen Moderne im Israel Museum in Jerusalem zu sehen. Dazu war ich vor Ort bei der Hängung dabei. Parallel dazu habe ich „Die schwarzen Jahre. Geschichten einer Sammlung. 1933–1945“ kuratiert. Diese Schau im Hamburger Bahnhof fand mit 205.000 Besucherinnen und Besuchern eine überraschend starke Resonanz und zeigte, dass auch gesellschaftlich relevante Themen auf großes Interesse treffen und geradezu Blockbuster-Zahlen erzeugen können. Es war der Auftakt zu einer Serie von Ausstellungen, die jeweils von unserer eigenen Sammlung ausgingen, zu Ernst Ludwig Kirchner, Rudolf Belling, Otto Mueller und Emil Nolde. Außerdem ist in den vergangenen Jahren der Bestandskatalog zur Klassischen Moderne entstanden, für den ich neben etwa 100 Werktexten auch einen längeren Essay zur Sammlungsgeschichte der Nationalgalerie geschrieben habe. Der Leihverkehr lief weiter, es waren wie immer die unterschiedlichsten Anfragen zu beantworten, Gutachten und Anträge zu schreiben, Erwerbungen und Schenkungen zu akquirieren. Zuletzt lag die Konzentration auf der Wiedereröffnung. Vor und hinter den Kulissen ging die Arbeit also auf vollen Touren weiter.
CvM: Zur Wiedereröffnung hast du mit Joachim Jäger und Irina Hiebert Grun die Sammlungspräsentation „Die Kunst der Gesellschaft 1900–1945“ kuratiert. Wer ist „die Gesellschaft“ und welche Idee steht hinter der Sammlungspräsentation?
DS: Als „Gesellschaft“ gilt laut Definition im Duden die „Gesamtheit der Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen leben“. Doch innerhalb nationaler Gesellschaften gibt es natürlich Unterschiede, beispielsweise im Hinblick auf Teilhabe an der Gesellschaft. Es gibt Ausgrenzungen sowie den Kampf um Gleichberechtigung. Wir zeigen Kunst aus der Zeit zwischen 1900 und 1945. In diesen Jahren wurden enorme Fortschritte erkämpft, etwa der Achtstundentag oder das Frauenwahlrecht. Gleichzeitig blieben soziale Spannungen bestehen. All das findet sich auch in den Werken unserer Sammlung. Die Themen darin sind auch heute noch von Interesse, gerade in Zeiten der Corona-Pandemie. Nach meinem Eindruck war aktuell „Gesellschaft“ eines der am häufigsten verwendeten Worte in den Medien, und mir war daran gelegen zu zeigen, wie eng die Kunst mit der jeweiligen Gesellschaft verflochten ist. Als Museum handeln wir ja immer im Auftrag der Gesellschaft und bewahren die als überlieferungswürdig angesehenen Werke. Der Ausstellungstitel ist übrigens von einem Buch des Soziologen Niklas Luhmann abgeleitet. Im übertragenen Sinne meint der Titel für mich aber auch die Kunstfertigkeit, die es für ein gelingendes Zusammenleben in der Welt braucht. Denn was Corona auch gezeigt hat: Alles hängt mit allem zusammen. Es ist sicher wichtig, zunehmend im Sinne einer Weltgesellschaft zu denken.
CvM: Welche Highlights der Sammlung sind zu sehen und welche eher unbekannten Werke hast du für die Präsentation neu entdeckt?
DS: Selbstverständlich sind Highlights wie Ernst Ludwig Kirchners „Potsdamer Platz“ oder Lotte Lasersteins „Abend über Potsdam“ sowie Hauptwerke des Surrealismus aus der Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch zu sehen. Außerdem natürlich die „Stützen der Gesellschaft“ von George Grosz. In diesem „modernen Historienbild“ stellte Grosz 1926 die Frage, ob gesellschaftliche Protagonisten wie der Zeitungsverleger Alfred Hugenberg tatsächlich loyal zur Weimarer Republik standen oder diese nicht in Wirklichkeit untergruben. Auch heute gibt es Gefährdungen der Demokratie und unser Publikum kann durchaus Überblendungen mit der Gegenwart finden. Mir war es wichtig, die Kunst der Jahre 1900 bis 1945 nicht nur als Abfolge bekannter avantgardistischer Stile zu zeigen, sondern die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ausdrucksweisen zu betonen. Die durch die deutsche Teilung bedingte Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sammlungsprofile spielt ebenfalls eine Rolle. Daher sind auch weniger bekannte, in der DDR als „proletarisch-revolutionäre Kunst“ bezeichnete Werke von Heinrich Ehmsen, Otto Nagel, Curt Querner oder Alice Lex-Nerlinger zu sehen. Entdeckt habe ich in unserer Sammlung unter anderem einen eindrucksvollen Bronzekopf aus dem Jahr 1919, der Ludwig Thormaehlen zeigt. Dieser war Kurator der Nationalgalerie im Kronprinzen-Palais, einem Haus, das dezidiert der künstlerischen Moderne gewidmet war. Ganz neu ist das Gemälde „Bogenschützen“ von Sascha Wiederhold mit seinen nahezu psychedelischen Farbwirbeln. Als ich dieses Großformat vor einigen Jahren in der Berliner Galerie Brockstedt sah, war ich sofort begeistert und habe es zum Ankauf vorgeschlagen. Das fauvistische „Porträt Erich Mühsam“ von Auguste Herbin aus der Pariser Galerie Lahumière ist ebenfalls eine sensationelle Entdeckung für mich gewesen. Als Neuerwerbung durch die Freunde der Nationalgalerie wird dieses großartige Gemälde die Sammlung zukünftig entscheidend bereichern.
CvM: Lange bevor die Kunstwerke aus den Außenlagern in die Depots der Neuen Nationalgalerie zurückkehren konnten, mussten die konkreten Gemälde und Skulpturen ausgewählt werden. Wie ist das ganz praktisch vor sich gegangen?
DS: Anhand unserer Datenbank habe ich mir überlegt, welche Kunstwerke unbedingt dabei sein sollten und welche Werke diesen Kernbestand sinnfällig ergänzen könnten. Auf diese Weise kam beispielsweise zu den Gemälden der Brücke-Künstler das Porträt der Kunsthistorikerin und Brücke-Unterstützerin Rosa Schapire hinzu, das von Walter Gramatté stammt, der selbst nicht der Brücke angehörte. Irina Hiebert Grun hat einen schönen Text dazu geschrieben. Die anfangs noch sehr große Werkauswahl habe ich dann zur Diskussion gestellt. Im nächsten Schritt kam ein Architekturmodell ins Spiel, darin wurden maßstäbliche Verkleinerungen hin und her geschoben. Im Laufe der Zeit gab es einige Veränderungen. So wurden zwei Themenräume verworfen, dafür habe ich die Filminstallationen der zeitgenössischen Künstler Julian Rosefeldt und Javier Téllez vorgeschlagen.
CvM: Wie sieht die Praxis des Hängens aus, wenn die Kunstwerke schon ausgewählt sind, es sind ja immerhin 250 Objekte, die ihren Platz finden müssen. Funktioniert der vorab ausgedachte Plan oder passieren durch die räumliche Konstellation und Sichtbeziehungen auch Überraschungen, auf die reagiert werden muss?
DS: Joachim Jäger und ich kennen die Räume der Neuen Nationalgalerie ja sehr gut. Die Klassische Moderne war dort zuletzt 2010/11 unter dem Titel „Moderne Zeiten“ ausgestellt. Mir war wichtig, nichts in derselben Anordnung zu wiederholen. Den vielen Badenden der Brücke-Künstler war damals der Gartensaal gewidmet, also habe ich im Kontrast zu der großzügigen Einzelhängung die Verdichtung auf einer einzigen Wand vorgeschlagen. Insgesamt hat es bei der Hängung der Gemälde wenig Änderungen gegenüber dem Plan gegeben, weil wir wie gesagt alles in maßstäblicher Verkleinerung vorher ausprobiert hatten. Das unbekannte Element waren die Textilbanner mit den Vertiefungstexten. Diese zusätzlichen Informationen wollte ich in den Raum verlagern. Das hatte zur Folge, dass wir die Skulpturen hin und wieder anders setzen mussten als gedacht, um optische Überschneidungen mit den Textbannern zu vermeiden.
CvM: Unter den Kunstwerken der Sammlungspräsentation befinden sich auch einige Leihgaben. Warum war es so wichtig, sie in die Auswahl zu integrieren?
DS: Die Leihgaben stammen nicht zufällig von Künstlerinnen aus unterschiedlichen Weltteilen: Hilma af Klint aus Schweden, Irma Stern aus Südafrika, Tarsila do Amaral aus Brasilien und Nadeschda Udalzowa aus Russland. Sie verstärken nicht nur die globale Perspektive. Die Sammlung der Nationalgalerie besteht im Bereich der Klassischen Moderne zum allergrößten Teil aus deutscher und französischer Kunst, die von Männern geschaffen wurde. Seit langem wird gefordert, Künstlerinnen mehr Platz einzuräumen. Der „Kampf um Sichtbarkeit“, wie eine Ausstellung der Alten Nationalgalerie hieß, ist nicht beendet. Daher hatte Joachim Jäger die Idee, mittels dieser Leihgaben die Präsenz von Künstlerinnen zu erhöhen, auch wenn es sich erst einmal nur um einen symbolischen Akt handelt. Aber es ist ein Versprechen für die Zukunft: In der Ankaufspolitik soll dieser Aspekt verstärkt Berücksichtigung finden. Zwar haben wir herausragende Werke von Paula Modersohn-Becker, Hannah Höch, Natalja Gontscharowa und anderen, aber in der Sammlung fehlen viele wichtige Namen wie Georgia O’Keeffe, Ljubow Popova, Alice Neel oder Sonia Delaunay. Und hier sind wir wieder beim Thema: In der Gesellschaft gibt es den überaus berechtigten Wunsch nach stärkerer Repräsentation von Künstlerinnen, und da die Museen hier nicht vorangegangen sind, haben sie nun einiges nachzuholen.
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