Audiowalk im Museum: Ein Mischwesen aus Vermittlung und Fiktion
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Ein künstlerisches Vermittlungsformat, das Besuchende herausfordert, begleitet die aktuelle Ausstellung „Zerreißprobe“ in der Neuen Nationalgalerie. Im Interview erklären Norbert Lang und Lisa Vera Schwabe, das Autor:innenduo des experimentellen „Audiowalks“, was dahinter steckt.
Interview: Sven Stienen
Was ist der Unterschied zwischen einem klassischen Audio-Guide und einem Audiowalk, wie ihr ihn umgesetzt habt?
Norbert Lang: Ein Audiowalk ist ein Format, bei dem es darum geht, mit Text oder Musik auf den Ohren durch einen bestimmten Raum geleitet zu werden. Ganz oft enthalten Audiowalks fiktive Elemente, man kann sie sich wie ein Hörspiel für einen Raum vorstellen. Die Grundidee unseres neuen Audiowalks für die Neue Nationalgalerie ist, dass man hier im Museum mit den Kopfhörern den Raum erkundet und auch diesen realen Raum hört – aber es passieren andere Dinge als in der Realität. Man ist quasi bei einer fiktiven Führung dabei, die irgendwie anders funktioniert als ein normaler Rundgang. Da gibt es zum Beispiel einen Musiker und einen Chor der Bürger:innen, der wie im antiken Theater die Rolle einer moralischen Instanz einnimmt. Wenn also Fragen zu der Ausstellung aufkommen, dann äußert sich der Chor dazu.
Wie ist die Idee entstanden?
Norbert Lang: Ich bin dafür tatsächlich auf die Straße gegangen und habe Leute gefragt, ob sie gerne teilnehmen möchten. Ich habe sie dann individuelle Sätze einsprechen lassen. Ein ganz einfaches Beispiel ist das Alter: die Teilnehmenden konnten die Frage danach individuell beantworten und sagen „Ich bin in den 80er Jahren geboren“, oder „Ich bin in den 90er Jahren geboren“, et cetera. Man hatte also diese Auswahlmöglichkeiten und die Teilnehmenden sagten jeweils, was wirklich auf sie zutraf. Daraus entstanden dann später im Schnitt mehrere Chöre, also ein Abbild dieser Leute, die ich auf der Straße getroffen habe, und die im Audiowalk dann auch ihre tatsächliche Meinung äußern. Ich habe natürlich nicht nur nach dem Alter gefragt, sondern auch nach aktuellen politischen Themen, zum Beispiel nach den Aktionen der „Letzten Generation“. Es geht um echte, ehrliche Kommentare zu den Themen und im Audiowalk finden sich dann auch verschiedene Positionen, manche stimmen zu und andere nicht. Es gibt aber auch Interviews, die ich geführt habe, unter anderem mit Irma Trommer von der „Letzten Generation“.
Lisa Vera Schwabe: Neben den Mitschnitten und Interviews arbeiten wir auch viel mit Archivmaterial, mit O-Tönen aus der jeweiligen Zeit. Das ermöglicht eine Reise in den Zeitraum zwischen 1945 und 2000, der in der Ausstellung abgedeckt wird. Es ist also ein ganz elementarer Teil, besonders auch der Familien-Audiowalks, dass man die Stimmen aus diesen vergangenen Jahrzehnten hört. Da wird etwas vermittelt, das man gar nicht in Form eines redaktionellen Textes rüberbringen kann. Es ist viel unmittelbarer und näher, man wird quasi in der Zeit zurückversetzt.
Du hast gerade die letzte Generation erwähnt. Welcher Bezug besteht dazu in der Ausstellung und in dem Audiowalk?
Norbert Lang: Es geht in der Ausstellung auch um das Verhältnis von Kunst und Natur und es hat uns interessiert, wie wir zum Beispiel heute auf Arbeiten wie „Wheatfield“ von Agnes Denes blicken. Das ist eine Arbeit, für die die Künstlerin in den 1980er Jahren auf einem unglaublich teuren Grundstück in Manhattan ein Weizenfeld angelegt hat. Der Weizen wurde später geerntet und ging unter anderem mit einer Wanderausstellung um die Welt, wo die Besuchenden sich ein bisschen was davon mitnehmen konnten. Da geht es natürlich um Landnutzung, den Umgang mit der Natur, aber auch Welthandel und globalen Güterverkehr. Gleichzeitig hat die Arbeit etwas sehr Poetisches, wenn man das goldene, winddurchpflügte Weizenfeld inmitten der Metropole, zwischen dem World Trade Center und der Freiheitsstatue sieht. Und da hat es mich interessiert, wie jemand von der „Letzten Generation“ heute auf dieses Werk reagiert. Gleichzeitig gibt es die Stimmen aus dem Bürger:innenchor, wo viele die Aktionen der „Letzten Generation“ nicht toll finden. Also wir bilden die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt ab.
Lisa Vera Schwabe: Es gibt in der Ausstellung auch den Raum „Schlachtfeld Deutschland“, in dem es darum geht, was unsere Gesellschaft damals und heute spaltet. Heute reagieren die Medien sehr extrem auf die „Letzte Generation“ und das hat viele Ähnlichkeiten zu anderen Themen der Nachkriegsgeschichte, etwa den Studierendenprotesten der 1960er Jahre oder die Zeit von Terror und Rasterfahndung in den 1970er Jahren.
Wie kann man sich die Erzählstruktur des Audiowalks vorstellen? Ist es eine modulare Geschichte, deren Kapitel an bestimmten Punkten im Haus getriggert werden oder ist es eine durchlaufende Erzählung mit festem Ablauf?
Norbert Lang: Es gibt für jeden Raum einen Track, der sich auf die jeweilige Station bezieht. Und es macht schon Sinn, mit Track eins im Foyer anzufangen und der Gliederung der Kapitel zu folgen. Man kann auch mal etwas auslassen, überspringen oder in anderer Reihenfolge erkunden, aber grundsätzlich ist es so gedacht, dass es einen Anfang, ein Ende und einen Ablauf dazwischen gibt.
Lisa Vera Schwabe:
Wir haben uns bemüht, durch diese zusätzliche Hörspur einen eigenen Erfahrungsraum aufzumachen, deswegen haben wir die Arbeitin Abgrenzung zu einem klassischen Audioguide-Format auch „Audiowalk“ genannt. In der Ausstellung gibt es Wandtexte und Bildmaterial, die als Einstimmung in die jeweilige Epoche funktionieren. Mit dem Audiowalk wollen wir, ausgehend von den Kapiteln der Ausstellung und den Themen der Räume, neue, überraschende Zugänge zu den Kunstwerken und den Inhalten zu schaffen. Es geht eben nicht nur darum, zu erklären, sondern auch die Möglichkeit zu schaffen, einer anderen Spur zu folgen.
Würdet ihr euren Audiowalk als eine eigene künstlerische Leistung, ein künstlerisches Projekt betrachten?
Norbert Lang: Ja, das würde ich schon so sehen. Es ist eigentlich ein Mischwesen, es möchte vermitteln und Hintergründe erklären, aber es soll auch darüber hinaus gehen und einen eigenen, theatralen Raum aufmachen. Denn in solchen theatralen Räumen sind wir auf einmal fähig, ganz anders zu schauen und uns ganz anders auf Dinge einzulassen. Das ist die zentrale Idee hinter dem Projekt. Es gibt zum Beispiel die fiktive Figur Frau Sterz, eine Art „Archivbeauftragte“ die für die Besucher:innen viele O-Töne vorbereitet hat. Dadurch, dass sie immer wieder angesprochen wird und diese O-Töne abspielt, wird sie, auch wenn sie selbst gar nicht zu Wort kommt, zu einer Figur in unserem Kopf. Man beginnt, sich Menschen in der Geschichte vorzustellen und plötzlich steht man in einer imaginären Gruppe und wird Teil einer Führungssituation. Das passiert natürlich nicht die ganze Zeit, aber in manchen Momenten, und die eröffnen uns dann vielleicht neue Perspektiven.
Lisa Vera Schwabe: Wir wurden dazu eingeladen, uns ganz frei diesen kuratierten Räumen zu nähern und eben nicht nur in einem erklärenden Modus zu schreiben. Das finde ich als Autorin natürlich spannend, und es ist zudem ein hervorstechendes Zeichen des Hauses, neue Wege zu gehen. Es ist schön, dass hier offenbar der Mut vorhanden ist, sich an solche Formate heranzutrauen.
Norbert Lang: Das ist schon etwas Besonderes. Mir ist kein anderer Versuch irgendeines Museums bekannt, solche Formate auszuprobieren. Es ist ja wirklich eine Art Hörspiel für das Museum und dass das Team der Neuen Nationalgalerie uns dabei soweit vertraut, finde ich wirklich toll.
Lisa Vera Schwabe: Dazu muss auch gesagt werden, dass die Mitarbeiter:innen aus der Vermittlung sich alle einig waren, dass das Publikum dieses Hauses hier auch sehr offen ist und gern neue Formate ausprobiert.
Wie seid ihr bei der Konzeption vorgegangen, was hat euch dabei inspiriert?
Norbert Lang: Ganz viel Inspiration kam aus der Recherche an den Werken. Dabei haben wir selber noch sehr viel gelernt, über gesellschaftliche Entwicklung, Krisen und Terrorismus, aber auch die Biografien interessanter Künstler:innen wie Charlotte Posenenske, die sich 1968 als recht erfolgreiche Künstlerin aus politischen Gründen dagegen entschieden hat, weiter Kunst zu machen. Damit stellte sie auch die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst und gab ihre eigene, sehr radikale Antwort. An anderen Stellen geht es eher um eine Art Gesamtschau und den Versuch einer klangkünstlerischen Positionierung dazu. Zu einem Raum habe ich eine Art Song geschrieben, ein anderer Track ist eine klangkünstlerische Antwort auf ein Kunstwerk in dem jeweiligen Raum – so kann es in ganz unterschiedliche Richtungen gehen.
Wie seid ihr konkret vorgegangen, wie kann man sich den Entstehungsprozess für so ein Format vorstellen?
Norbert Lang: Wir haben uns zuerst mit dem Vermittlungsteam hier vor Ort in Verbindung gesetzt, sind gemeinsam durchs Haus gelaufen und haben viele Tipps und Hinweise zur Literatur und zu den Kunstwerken bekommen, die wir gesammelt haben. Danach ging es dann ans Schreiben, und parallel auch immer wieder diese Recherchearbeit, die ich gerade beschrieben habe. Und der letzte Schritt ist dann die Produktion, also das Aufnehmen und Zusammenschneiden der einzelnen Bausteine.
Was ist euch besonders im Gedächtnis geblieben und worauf freut ihr euch am meisten, wenn das Projekt fertig ist?
Lisa Vera Schwabe: Ich bin insgesamt sehr gespannt auf die Kunstwerke. Wenn wir die Inhalte schreiben, arbeiten wir nur mit Abbildungen, denn die Ausstellung wird ja erst noch aufgebaut. Das eine oder andere Werk haben wir vielleicht schon im Original gesehen, aber die genaue Konstellation, für die wir den Audiowalk erarbeiten, die gibt es eben nur in dieser Ausstellung und ich freue mich sehr darauf, es live zu sehen. Ich bin vor allem gespannt auf die Arbeit „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“ von Barnett Newman, denn ich habe auch einen Text darüber geschrieben wie es ist, vor diesem Bild zu stehen. Die Arbeit ist ja sehr bekannt und hat eine spannende Rezeptionsgeschichte, weil sie das Schauen herausfordert und sehr starke emotionale Reaktionen hervorruft und ich bin einfach gespannt darauf, selbst vor ihr zu stehen.
Norbert Lang: Bei mir ist es die titelgebende Performance „Zerreißprobe“ des Wiener Aktionisten Günter Brus von 1970. Diese Arbeit in ihrer Radikalität hat mir bei der Recherche ganz deutlich die Schattenseiten der Nachkriegsgeschichte vor Augen geführt. Der Künstler hat sich damit gegen die Kontinuitäten der NS-Zeit gewendet und ich fand es unglaublich bedrückend, wie real das in der Beschäftigung damit auch für mich wurde. Das ist also eine ziemlich radikale Arbeit und der Track, der dazu entstanden ist braucht auch eine Triggerwarnung, weil es eine sehr harte und intensive Konfrontation ist. Trotzdem empfand ich das als etwas Richtiges und Wichtiges, das nicht fehlen durfte.
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