Eigenwillige Chronisten der Großstadt: Flaneure in der Kolonnaden Bar
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Die Kolonnaden Bar auf der Museumsinsel bietet dieses Jahr Musik, Drinks – und Literatur. Verantwortlich für das literarische Programm ist der Germanist Thomas Wohlfahrt. Im Interview erklärt er, welche Rolle der Flaneur in den Straßen und der Literatur Berlins spielte und warum die Figur heute aktueller denn je ist.
Die Kolonnaden Bar auf der Museumsinsel startet heute wieder und wird die Menschen bis 1. September mit Musik, Getränken und auch Literarischem versorgen. Diesmal ist es ja so, dass der Ort das Programm vorgibt. Die historischen Kolonnaden sind wiederhergestellt, man kann bis hinter die Alte Nationalgalerie spazieren – oder flanieren. Ein ideales Thema für die Literatur?
Thomas Wohlfahrt: Haha, ja. Das Flanieren haben deutsche Intellektuelle aus Paris in die deutsche Hauptstadt mitgebracht. Berlin ist um 1900 in rasendem Tempo zur Großstadt geworden. Etwa zeitgleich mit der Fertigstellung der wilhelminischen Museumsinsel fand die moderne Großstadt Berlin im Flaneur den zeitgenössischen Chronisten dieser Entwicklungen. Flaneur zu sein bedeutete, die Stadt kontrapunktisch zu ihrem Tempo zu er-bummeln, ausführlich wahrzunehmen, aber immer in Distanz zum Geschehen zu bleiben. Eine bourgeoise Lebens- und Welthaltung eben, die in den Feuilletons und anderen Publikationsformen ihre äußerst interessierten Leser fand und bei aller Geschwätzigkeit oder Tratschsucht sehr durchdachte soziale Studien zu dieser Zeit lieferte, die, wenn man so will, zur demokratischen Willensbildung in Vielfalt beitrugen. Und Berlin galt um 1900 wie heute wieder als das Mekka von Freizügigkeit, weil Jugendlichkeit.
Bibiana Beglau, Katharina Thalbach und Ulrike Tscharre werden Texte lesen. Welche dieser Texte haben Sie ausgewählt und warum?
Wir werden Texte der literarischen Moderne hören, geschrieben von Leuten wie Walter Benjamin, Franz Hessel, Siegfried Kracauer, Carl Moreck, Alfred Döblin und anderen. Von ihnen werden Texte gelesen zur Friedrichstadt, auch in ihrem Bedeutungsverlust angesichts des mondänen Westens um den Kurfürstendamm herum. Der proletarische Osten jenseits des Alexanderplatzes wird erfahren, von Jazz, Charleston, Bubiköpfen und Tanzpalästen ist die Rede. Was auch mich beim erneuten Lesen der über 100 Jahre alten Texte überraschte, ist der Umstand, dass vieles bereits Thema war, was uns auch heute umtreibt, wie etwa die Frauenemanzipation oder die Schwulen- und Lesbenbewegung. Die Menschen damals haben in kürzester Zeit erleben dürfen und müssen, wie Berlin Weltstadt wurde. Der Erste Weltkrieg mit all seinen Verwerfungen, die Novemberrevolution, die schlimmste Inflation; all das wollte und musste durch Körper hindurch und gelebt werden. Aus allen Provinzen Deutschlands kamen enorm viele Leute nach Berlin. Migration aus aller Herren Länder fand statt und wurde im Wesentlichen als Bereicherung erfahren. Die Flaneure damals nahmen auch wahr, wie Hassreden und völkisch-nationaler Wahn um sich griffen und beschrieben diese Entwicklung, ohne ihr Ende auch nur zu erahnen. Bei aller Heiterkeit und Leichtigkeit der Texte – wir wissen heute, wie die sozialen und kulturellen Modernisierungsschübe dieser Zeit mit der Machtergreifung der Nazis abrupt zum Ende kamen. Da ist auch ein Grusel! Walter Benjamin nahm sich das Leben, Gabriele Tergit, die einzige Frau unter den damaligen Literaten, musste als Jüdin fliehen und noch viele weitere Schicksale waren betroffen.
Sind die Menschen in Berlin heute noch zum Flanieren fähig oder ist das aus der Zeit gefallen?
Lassen Sie mich zwei Linien nennen: Nicht ursächlich aber doch miteinander verquickt kam das Flanieren als Lebenshaltung und Textsorte in den späten 1920er Jahren zum Erliegen, weil die benötigte Horizontale, das Schreiten von Schaufenster zu Schaufenster, geradezu vollständig von der Vertikale, den Kaufhäusern, aufgesogen war. Der Bau von Kaufhäusern setzte mit dem Phänomen Großstadt, also seit 1900, ein und war siegreich gegenüber den einzelnen Läden. Hertie eröffnete 1904, das KaDeWe 1907. Die Flaneure schrieben um 1930 ihre Rückblicke. Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ erschien 1929. In seiner Rezension feierte Walter Benjamin den Geist der alten Zeit. Dass es in der Hochzeit des Flanierens keine Flaneusen, also schreibende Frauen gab, hat damit zu tun, dass Frauen das Herumstehen und Beobachten an öffentlichen Plätzen als vermeintliche Prostitution ausgelegt wurde. Wahnsinn, gell! Beschrieben hat das zum Beispiel Vigina Woolf. In jüngster Zeit beschäftigen sich Autorinnen mit dem Flanieren als Haltung und Textform. Im Berliner „Verbrecher Verlag“ erschien zuletzt der Sammelband „FLEXEN. Flâneusen* schreiben Städte“, in dem Frauen, PoC und queere Menschen ihre Perspektiven schildern. Mit der englischsprachigen Zeitschrift „Flaneur“ wird in Berlin von dem Schriftsteller Saul Fabian außerdem das meines Wissens nach einzige Medium zum Thema herausgegeben. Der Reiz liegt sicher in der Freiheit und Modernität dieser Textform, die beim nicht linearen Aberzählen von Gegebenheiten Raum für Erinnerungen, Spekulationen, Fantasien, Wissensvermittlung bietet.
Die Museumsinsel wird im kommenden Jahr 200 Jahre alt. Was wünscht sich ein Mann der Literatur, der Poesie für diesen Ort?
Die Museumsinsel ist und muss Publikumsmagnet bleiben. Das wird so bleiben. Aber ist sie auch ein Ort des Lebens? Hier ist noch manche Luft nach oben, weil jedes Museum ein Umfeld hat. Die Bauten zu öffnen heißt die Flächen ringsum zu bespielen. Es gibt kaum einen Ort in Berlin, der per se zu Lyrik passte, so wie die Freitreppe der Alten Nationalgalerie und der Kolonnadenpark davor. Keine Angst vor´m Gedicht! Als ich im Verbund mit Daimler ab 2000 das Format „Weltklang“ entwickelte, wurden am Potsdamer Platz Straßen für Gedichte gesperrt, und mehr als 3.000 Menschen kamen, um Konzerte der Worte in Versen und Sprachen zu erleben. Die Flaneure nach 1920 nahmen die Friedrichstraße als das wahr, was sie heute auch wieder ist: in ihrem Niedergang und Leerstand begriffen. Die Trias von Wohnen, Arbeiten und Leben muss zurück in diese Straße. Ein kräftiger Beginn wäre es, wenn die Stadt- und Landesbibliothek im gerade freiwerdenden Lafayette-Gebäude unterkäme. Das ist die Chance des Jahrhunderts, nicht nur für die Bibliothek, sondern auch für die Friedrichstraße und darüber hinaus. 1,5 Millionen Nutzer pro Jahr würden die Friedrichstrasse und das ganze Umfeld beleben. Touristen und Berliner könnten die ganze Gegend vom Bahnhof Friedrichstraße über das Humboldt Forum bis hin zur Museumsinsel neu erkunden und lebendiger machen. Davon nur zu träumen, wäre zu wenig – die Auseinandersetzung mit Berlin als Stadt, wie wir sie jetzt in drei Veranstaltungen in der Kolonnaden Bar erleben werden, wäre ein guter Auftakt.
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