Kirchner-Konvolut: Die Illustration als begleitende Melodie
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In der Kunstbibliothek liegt seit 1924 ein Schatz von Ernst Ludwig Kirchner: 58 Blätter, die sein grafisches Werk in Bezug auf Buchillustrationen dokumentieren und verraten, wie der große Expressionist dachte und arbeitete.
Text: Irene Bazinger
Das Wort Kompromiss fängt mit einem „K“ an, ebenso der Name Kirchner, Vorname: Ernst Ludwig. Trotzdem hat die zwei nicht viel verbunden: Kirchner lehnte Kompromisse konsequent ab. Der 1880 in Aschaffenburg geborene Maler, Grafiker und Mitbegründer der Künstlergruppe „Die Brücke“ wusste bereits früh, was er wollte – und was nicht. Von seinen bildnerischen Vorstellungen ließ er sich nicht abbringen, weder durch Menschen noch durch die Umstände oder durch andere Auffassungen. Die kamen ihm nicht unbedingt bei seiner Malerei in die Quere, sondern eher, wenn er ein Buch illustrierte und darauf angewiesen war, dass der Druck exakt nach seinen Wünschen ausgeführt wurde. Da konnte er als Meister des Holzschnitts für den Drucker schon mal wütende Bemerkungen auf den Probeabzug kritzeln, um danach als Experte detailliert zu kritisieren: „Der Druck ist schlecht und roh und so unverwendbar. Es darf die Farbe nicht glänzen. Das Druckpapier muss gelblich sein und weniger Korn haben. / Dieser Druck ist augenscheinlich von Galvanos gemacht, das geht nicht, da das Zink die Farbe anders, viel roher druckt als das poröse Holz. Grün ganz falsch. / Das Grün muss mehr bläulich werden und etwas Chremserweiss erhalten. Das Violett muss etwas heller, leuchtender werden. Violett ist zuerst zu drucken, dann das Grün das mehr decken muss. Papier hat zu viel Leim.“
Wieso das alles so genau belegt werden kann? Weil die Nationalgalerie einen direkten Draht zu Ernst Ludwig Kirchner hatte und seine Wertschätzung genoss. Ihr Direktor Ludwig Justi hatte nämlich 1919 im Kronprinzenpalais eine weltweit erste öffentliche Sammlung moderner Kunst des 20. Jahrhunderts eingerichtet. Erst 1929 folgte das Museum of Modern Art in New York, nachdem der Gründungsdirektor Alfred Barr zwei Jahre zuvor diese „Neue Abteilung der Nationalgalerie Berlin“ besucht hatte, die im Volksmund bald „Galerie der Lebenden“ hieß. Deren Schwerpunkt bildeten natürlich die deutschen Expressionisten und deswegen wollte unbedingt auch Ernst Ludwig Kirchner vertreten sein, der allerdings seit 1917 seinen Wohnsitz in der Schweiz hatte.
Geschenkte Einblicke in die Werkstatt des Meistergraphikers
Justi schlug Landschaftsbilder vor, Kirchner war – kompromisslos – dagegen. Seinen Beitrag sah er als unverwechselbar auf anderen Gebieten an, nämlich den Großstadt-Tableaus, den Varieté-Szenerien, den Akten. Man einigte sich schließlich auf die Ölgemälde „Rheinbrücke in Köln, verso: Mädchen am Strand 1913“ (1914, jetzt in der Neuen Nationalgalerie) sowie auf eine „Straßenszene“ (1922), die nach einer turbulenten Geschichte inzwischen im MoMA hängt. Wenn es zu dieser Aufnahme in die „Neue Abteilung“ nach seinen Intentionen käme, hatte Kirchner die Schenkung seiner buchkünstlerischen Arbeiten an die Kunstbibliothek versprochen. Da diese im Umfeld des Kunstgewerbemuseums als Ausbildungsstätte fungierte, war anzunehmen, dass Kirchner damit durchaus pädagogische Absichten verfolgte. Und so kamen die 58 Blätter – Entwürfe, Probedrucke und Druckvarianten – 1924 in die Kunstbibliothek, wo sie bis heute liegen. Michael Lailach, der Leiter der Sammlung Buchkunst, freut sich sichtlich, wenn er auf die sieben Archivkästen blickt, in denen sie, mit säurefreien Passepartouts gerahmt, verwahrt werden. „So etwas hat kein anderes Museum“, erläutert er: „Man kann hier aus der Nähe betrachten, wie Kirchner gedacht und gearbeitet hat. Dieser direkte Einblick in den Schaffensprozess macht das Konvolut zu einem der bedeutendsten der Kunstbibliothek, und für mich ist es auch eines der schönsten.“ Am umfangreichsten sind die Blätter zu dem Band „Umbra Vitae“ mit nachgelassenen Gedichten des expressionistischen Lyrikers Georg Heym, erschienen 1924 im Kurt Wolff Verlag München. Kirchner kannte den 1912 beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ertrunkenen Heym nicht persönlich, was möglich gewesen wäre, denn sie verkehrten in ähnlichen Berliner Kreisen. Dessen Poesie freilich muss ihn stark angesprochen haben, wie die grafische Auseinandersetzung bezeugt. Explizit ist nachzuvollziehen, wie systematisch sich Kirchner das Zusammenspiel von Text und Bild überlegte, wie er eine Druckschrift auswählte, die sich optisch in die Seitengestaltung einfügte, wie er souverän über das richtige Papier und den Auftrag der Farben entschied. Er probierte verschiedene Motive für den Umschlag aus, variierte Kolorit und Tönung, prüfte die Helligkeitsstufen, um eine ausgewogene Tonalität der einzelnen Komponenten zu erwirken.
Schritt für Schritt zu einer Einheit von Text und Bild
Interessant außerdem, wie er Gedichtzeilen und Grafik miteinander verschränkte und eine optische Einheit zu erzielen suchte. Besonders deutlich zeigt sich das bei dem Gedicht „Alle Landschaften haben“ – weil ihm keine Überschrift zugeordnet war, hob Kirchner diese Zeile quasi als solche am Kopf der Seite heraus, ehe die nächste Zeile mit „Sich mit Blau erfüllt“ folgte. Hier verwendet er eine andere Schrift als für die übrigen Gedichte. Fließend mit dem Holzschnitt verwoben entwickelt sich daraus ein engmaschiges grafisches Geflecht.
An Kirchners Handabzügen sind anschaulich die Schritte erkennen, wie er sich zu den endgültigen ästhetischen Lösungen vortastete. Zwar illustrierte er nur drei Bücher, doch hatte er Pläne für mehr, aber derartige Projekte – wie Boccaccios „Decamerone“ – scheiterten. In der Kunstbibliothek gibt es indes lose Blätter, die er „Textillustration“ nannte, ohne das zugehörige Buch zu erwähnen. Das lässt sich auch kaum eruieren, denn Kirchner transformierte die jeweiligen Inhalte nicht einfach ins Medium der Zeichnung, sondern verstand seine Illustrationen als „begleitende Melodie“. Michael Lailach definiert die Herangehens- und Umgehensweise so: „Kirchner findet dank seiner spezifischen Formensprache eigene Bilder, die er zum Beispiel für Heyms Lyrik adäquat hält.“
Die Arbeiten sind von ihrer Dimension her auf die Buchausgabe zugeschnitten und insofern klein. In der inzwischen beendeten Ausstellung „Die gerettete Moderne“ im Kupferstichkabinett war zu sehen, dass Kirchner ebenso das viel größere Format überragend beherrschte, wie der Holzschnitt „Der Berg“ (1924), der Farbholzschnitt „Portraet Otto Mueller“ (1915) oder das verstörende Selbstporträt „Kopf eines Kranken“ (Holzschnitt, 1917/1918) beweisen.
Alles tun, um verstanden zu werden – selbst unter Pseudonym
Außer Illustrationen zu dem Erzählband „Neben der Heerstraße“ von Jakob Bosshart, einem Schweizer Schriftsteller, der mit Kirchner befreundet war, erschien ebenfalls 1924 eine weitere, allerdings erheblich aufwändigere Publikation: „Das graphische Werk von Ernst Ludwig Kirchner“. Dieses Werkverzeichnis, das im Berliner Euphorion-Verlag herauskam, hatte der Hamburger Kunsthistoriker, Richter und Mäzen Gustav Schiefler in mehrjähriger Arbeit und intensiver Abstimmung mit Kirchner erstellt, welcher an der Buchgestaltung wieder maßgeblich beteiligt war. Neben Holzschnitten als zusätzlicher Originalgrafik schuf Kirchner überdies für den Anfang der drei Kapitel – Holzschnitte, Lithographien, Radierungen – eigens neue Farbholzschnitte.
So erfolgreich er in der Öffentlichkeit und bald auf dem Kunstmarkt war, so sehr ärgerte er sich, wenn – seiner Meinung nach – nicht kompetent über ihn und seine Ästhetik geschrieben wurde. Also beschloss Ernst Ludwig Kirchner, sich selbst darum zu kümmern, und erfand den französischen Kunstkritiker Louis de Marsalle, wie es Michael Lailach zu berichten weiß. In der Zeitschrift „Genius“ etwa legt er diesem fiktiven Autor und verheimlichten Alter Ego die Philosophie seiner Arbeit in den Mund und gestattet ungewöhnliche Einblicke in seine kreative Praxis: „Der Wille, der den Künstler zur graphischen Arbeit treibt, ist vielleicht zum einen Teile das Bestreben, die einmalige lose Form der Zeichnung fest und endgültig auszuprägen. Die technischen Manipulationen machen andrerseits gewiß im Künstler Kräfte frei, die bei der viel leichteren Handhabung des Zeichnens und Malens nicht in Geltung kommen. Der mechanische Prozeß des Druckens faßt die einzelnen Arbeitsphasen zu einer Einheit zusammen.“
Das Oeuvre von Ernst Ludwig Kirchner ist heute in den Staatlichen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz „unglaublich gut vertreten“, so Michael Lailach: „Das Kupferstichkabinett hat über 300 Blatt, und die Neue Nationalgalerie hat mit ‚Potsdamer Platz‘ von 1914 eines seiner malerischen Hauptwerke.“ Obwohl vorerst keine Kirchner-Ausstellung geplant ist, kann man in der Kunstbibliothek seine hier deponierten Schaffenszeugnisse betrachten. Dafür braucht man lediglich ein amtliches Personaldokument und einen Benutzerausweis, der unkompliziert ausgehändigt wird. Für Personen unter 18 Jahre ist eine volljährige Begleitung nötig. Und dann kann man sich im Studiensaal die vortrefflichen Arbeiten anschauen, allein am Tisch und in aller Ruhe. Sozusagen kompromisslos. Es lohnt sich!
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