Kulturgut ist Verhandlungssache: Stefan Weber und die Syrian Heritage Initiative
Seit 2013 gibt es am Museum für Islamische Kunst ein Projekt zum syrischen Kulturgut. Angefangen hat alles mit dem Aufbau einer immensen Datenbank, doch mit der Zeit wuchs das Projekt stetig an. Inzwischen umfasst die „Syrian Heritage Initiative“ mehrere Teilprojekte, die die Dokumentation des Kulturerbes mit gesellschaftlicher Partizipation verbinden.
Text von Jonas Dehn
„Wir sahen den Krieg in Syrien, sahen das Land kaputtgehen, aber wir wussten nicht, was wir tun sollten“, sagt Stefan Weber. Der Direktor des Museums für Islamische Kunst hat enge Kontakte in das Land, in dem seit 2011 ein Bürgerkrieg tobt. Um der gefühlten Machtlosigkeit zu begegnen, fingen er und sein Team an, zu sammeln und zu dokumentieren. Denn Material zur Dokumentation gab es genug, Syrien ist seit über 100 Jahren stark in der deutschen Forschungslandschaft verankert. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) und finanziert durch das Auswärtige Amt begann das Expertenteam im Museum für Islamische Kunst den Aufbau eines Archivs. Grundlage dieser Datenbank bildeten umfangreiche Fotosammlungen von Wissenschaftlern, die in Syrien geforscht hatten. Jedes Foto musste lokalisiert und in einer systematischen Ortsdatenbank eingetragen werden – das Syrian Heritage Archive Project war geboren. Inzwischen umfasst die Datenbank des Projektes über 340.000 Digitalisate.
Während der Krise handeln
Weil das Syrian Heritage Archive Project im Gegensatz zu vergleichbaren Projekten in den letzten sechs Jahren eine Kontinuität wahren und wachsen konnte, wurde es bald international bekannt. Viele Forscher, auch über Deutschland hinaus, trugen ihre zum Teil noch unveröffentlichten Daten zu Syrien bei, um das Archiv zu stärken.
„Wichtig war die Einsicht, dass man schon während der Krise etwas tun muss, nicht erst danach“, erklärt Weber. Der reinen Dokumentation des syrischen Kulturguts folgte bald eine weitere Schiene der Archivarbeit, die eng mit den direkten Kriegsfolgen zusammenhängt. Denn bei der Arbeit an der Datenbank kamen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern immer wieder Bilder von zerstörten Gebäuden unter. „Wir waren uns einig, dass wir alle hereinkommenden Informationen systematisch ablegen müssen“, erinnert sich Weber. „Daraufhin hat das Team eine gründliche Zerstörungsdokumentation angelegt, um eine Basis für den Wiederaufbau einzelner Gebäude zu haben.“ Die Schadenskartierung ist dank der Förderung der Gerda-Henkel-Stiftung seit 2017 ein eigenes Teilprojekt.
„Aleppo ist etwas ganz besonderes“
Ein Schwerpunkt des Syrian Heritage Archive Project liegt in Aleppo. Die Stadt ist viel weitgehender zerstört als Damaskus und – anders als Palmyra – bewohnt. Deshalb ist hier die Dokumentation des Kulturguts in Vorbereitung des künftigen Wiederaufbaus besonders wichtig. Doch was macht diese Stadt aus? Stefan Weber erklärt: „Aleppo ist etwas ganz besonderes. Es ist die älteste durchgehend bewohnte Stadt der Welt und gleichzeitig über Jahrhunderte ein Handelsplatz und Drehkreuz für die Warenströme vom Mittelmeer über die Seidenstraße bis nach Indien und China.“ Als wichtige Handelsstadt hatte Aleppo eine reiche bürgerliche Schicht und eine erstaunliche kulturelle Vielfalt. Alle Religionen um das Mittelmeer waren auch in Aleppo vertreten. Die Menschen lebten dort nicht einfach nur nebeneinander, sondern ganz praktisch miteinander, in einer angewandten Pluralität. Eine Folge dieser Vielfalt ist unter anderem das hervorragende Essen, das Aleppo zu bieten hat, wie Weber weiß. Aber auch in musikalischer Hinsicht ist Aleppo interessant, weil es im Gegensatz zur syrischen Hauptstadt Damaskus nicht so stark durch europäische Musik beeinflusst wurde und so zur Hochburg der klassischen arabischen Musik avancierte.
„Kulturerbe wird in jeder Gesellschaft ausgehandelt“, sagt Stefan Weber. Die enge praktische Zusammenarbeit mit Syrerinnen und Syrern ist daher ein wichtiger Aspekt, der sich durch alle Teilprojekte zieht. „Partizipation ist ein Schlüssel zum Erfolg“, meint Weber, „wir müssen lernen, dass vieles nur funktioniert, wenn die Perspektiven junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berücksichtigt werden, die von dort herkommen.“
Kulturerbe hat mit jedem zu tun
Aus dem Kreis der syrischen Teammitglieder entsprang zum Beispiel auch die Idee zum Projekt Multaka (arabisch für „Treffpunkt“), bei dem syrische und irakische Geflüchtete zu Museums-Guides fortgebildet werden und Führungen in arabischer, aber auch in deutscher und englischer Sprache anbieten. Doch auch darüber hinaus möchten Stefan Weber und sein Team eine breite gesellschaftliche Zugänglichkeit zum Kulturerbe schaffen: „Kulturerbe bedeutet für viele Menschen etwas anderes. Wir wollten diese verschiedenen Wertigkeiten aufnehmen und so zeigen: Kulturerbe hat etwas mit jedem einzelnen zu tun.“ Aus diesem Gedanken entwickelte sich das jüngste Teilprojekt: eine interaktive Kulturerbekarte. Die Daten des Archivs werden hier um traditionelles lokales Wissen, persönliche Geschichten und Erinnerungen ergänzt – das archivierte Material erhält so eine direkte Verbindung zu den Menschen.
Die anfängliche Machtlosigkeit konnten Stefan Weber und sein Team so zumindest in ihrem konkreten Arbeitsbereich überwinden. Was mit dem Archiv begann, hat sich inzwischen zu einer ganzen Reihe verzahnter Projekte entwickelt, die das abstrakt erscheinende Thema Kulturerbe mit der heutigen Gesellschaft in Verbindung bringen und so greifbar machen. Ab Ende Februar 2019 wird all dies in der Ausstellung „Kulturlandschaft Syrien. Bewahren und Archivieren in Zeiten des Krieges“ im Pergamonmuseum präsentiert. Besucherinnen und Besucher können sich dann anhand von Fotos, Objekten, Filmen und interaktiven Bildschirmen auf eine virtuelle Reise durch die Kulturlandschaft Syrien begeben und die Praxis des Kulturguterhalts im Syrien-Projekt des Museums für Islamische Kunst kennenlernen – und vielleicht auch Verbindungen zwischen dem Erbe und sich selbst finden.
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