Lieblingsstücke: Ein Aquarell mit Tiefgang
Ein besonderes Aquarell von František Kupka ist der Liebling von Kyllikki Zacharias, Leiterin der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Warum das Bild sie mehr fasziniert als die Werke weltberühmter Künstler wie Evard Munch, Max Ernst oder Picasso, erklärt sie hier.
Unter den Werken der Sammlung Scharf- Gerstenberg befindet sich ein kleines Aquarell, das ich schon bei meinem ersten Rundgang durch die Sammlung zu meinen Lieblingen erkor. Es stammt von dem tschechischen Maler und Grafiker František Kupka (1871–1957), ist das einzige Werk dieses Künstlers in der Sammlung und keinesfalls repräsentativ für sein Gesamtwerk, das sich – noch vor Kandinsky – mit der Abstraktion der Form und dem Zusammenspiel von Musik und Farbe beschäftigt. Gleichwohl könnte man Kupkas titelloses Aquarell als den geheimen Botschafter der Sammlung bezeichnen, die Werke von über fünfzig Künstlern verschiedener Richtungen umfasst.
Denn das Blatt beinhaltet eine Fülle von Elementen, auf die wir auch in den anderen Räumen der Charlottenburger Dependance der Nationalgalerie stoßen – angefangen bei den ägyptischen Reliefs, die uns am Eingang zum Marstall begrüßen (das Kalabscha-Tor ist eine Hinterlassenschaft des Ägyptischen Museums und genießt bis zur Fertigstellung des geplanten Erweiterungsbaus auf der Museumsinsel Gastrecht), über die uterinären Formen, die in den Kohlezeichnungen und Pastellen des Symbolisten Odilon Redon auftauchen und das fließende Werden und Vergehen von Leben und Traum symbolisieren, bis hin zum Skelett, dem wir in immer wieder neuer Umgebung begegnen: In Edvard Munchs Radierung »Vampir« (1894) sitzt es entspannt im Hintergrund und schreibt einen Brief oder führt Tagebuch, auf einer 1929 entstandenen Collage von Max Ernst räkelt es sich vor dem Hintergrund geheimnisvoll aufsteigender Dämpfe in einer nicht weiter zu definierenden mechanischen Box, während es in Georges Hugnets Blatt »Das Geheimnis ist frei von Schamhaftigkeit« von 1935 an einem aus Meereswogen aufsteigenden Gitter mit einem Herrn in gesittetem Anzug (dem Künstler selbst?) konferiert. Auch eine Verbindung zum gegenüberliegenden Museum Berggruen ist in Kupkas Aquarell zu finden: Das Absinthglas, aus dem sich Kupkas Embryo nährt, hat dort als Skulptur von Pablo Picasso eine (kubistische) Form angenommen.
„Mit Schmalztolle und Monokel“
Zum Zeitpunkt der Entstehung des Blattes, 1907, lebte František Kupka bereits in Paris, wo er sich seinen Lebensunterhalt zunächst als Karikaturist und Illustrator verdiente. Bekannt sind seine Zyklen zu den Themen »Geld«, »Religion« und »Frieden«, die zwischen 1902 und 1904 in der satirischen Zeitschrift »L’Assiette au Beurre« erschienen. Das vorliegende Blatt scheint in Zusammenhang mit zumindest einem anderen Aquarell entstanden zu sein, das sich auf den 1909 erschienenen Gedichtband »La Négresse blonde« des surrealistischen Dichters Georges Fourest bezieht. Während dieses tatsächlich eine blonde Negerin darstellt, sind auf dem Blatt der Charlottenburger Sammlung allerdings keine konkreten Bezüge zum Inhalt des Buches zu finden. Allenfalls ließen sich die assoziativen Ketten der (Sprach-)Bilder miteinander vergleichen. Ähnlich wie sich die Bilder zu Füßen des Skelett-Matrosen stapeln, generiert Fourest seine Reime durch das Repetieren von silbenähnlichen Wörtern.
Die zentrale Aussage des Aquarells verdankt sich jedoch nicht allein dem (typisch surrealistischen) Prinzip der assoziativen Multiplikation. Betrachten wir die Arbeit genauer, so entdecken wir, dass sie auch eine ironische Reflexion der künstlerischen Produktion enthält. Die Spannbreite der Kunst wird durch ihre verschiedenen Medien angedeutet: Unten rechts ist ein ägyptisches Relief zu sehen, das die Götter Thot und (vermutlich) Horus darstellt, während auf der linken Seite in exakt derselben Höhe eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie lehnt, die gewissermaßen den Endpunkt der Kunstentwicklung vom religiösen Inbild des Göttlichen zum profanen Abbild der weltlichen Freuden zeigt: Den Arm lässig auf eine ansonsten funktionslose Marmorsäule gelegt, präsentiert sich kokett eine rauchende nackte Dame mit einem Federbusch im aufgesteckten Haar.
Das männliche Skelett, dessen linkes Bein wie ein Schatten aus dem altägyptischen Relief hervorzuwachsen scheint, steht hierzu in ironischer Paraphrase. In grotesker Kombination von Attributen eines Lebemannes produziert es sich vor dem Betrachter: mit Schmalztolle und Monokel, im Matrosenhemd und rauchend mit einem riesigen Phallus. Doch ist, wie der Pantoffel an seinem Fuß schon signalisiert, seine demonstrative Potenz nur eine Farce: Die sich entwickelnde Leibesfrucht, die das Skelettmit einem Lederhandschuh am Wickel hält, nährt sich über die Nabelschnur aus dem Absinthglas zu seiner Rechten, und der riesige Phallus ist in Wirklichkeit eine große Prothese, die es sich vor den Bauch geschnallt hat – welch ein mächtiges Gleichnis über die Paradoxie von schöpferischer Macht und Impotenz, die sich in der künstlerischen Produktion begegnen.
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