Besuch indigener Delegation: Die Geschichte von Coixtlahuaca
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Eine indigene Delegation aus der mexikanischen Region Oaxaca war zu Besuch im Ethnologischen Museum / Humboldt Forum. Bei einem Workshop ging es u.a. um den Lienzo Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II und seine Konservierung.
Text: Ute Schüren und Irina Seekamp
Das Ethnologische Museum hat einen Dialogprozess mit Delegierten des indigenen Volkes der Chocholteca begonnen. Diese Zusammenarbeit soll u.a. den Zugang der Chocholteca zu den gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Lienzo Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II gewährleisten. Dieses spektakuläre und wunderschöne Bilddokument – heute eines der Highlights des Berliner Museums – erzählt die Geschichte des Tals von Coixtlahuaca und angrenzender Gebiete vom 11. bis zum 16. Jahrhundert. Im Wesentlichen thematisiert es die politische und ideologische Vereinigung einer Region in Oaxaca, Mexiko, die noch heute von Chocholteca bewohnt wird. Der Lienzo wurde von Eduard Seler im April 1897 während seiner zweiten Amerikareise erworben. Er befindet sich gegenwärtig im Bereich Mesoamerika im 2. Obergeschoss des Humboldt Forums im Berliner Schloss.
Die Chocholteca leben heute in 19 Gemeinden (municipios) und 67 Ngigua–Ngiba-Orten (comunidades) im Norden von Oaxaca. In vorspanischer Zeit war der Hauptort Coixtlahuaca im gleichnamigen Tal eine der bedeutendsten Städte in Oaxaca. Seine größte Ausdehnung erreichte er um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Coixtlahuaca war berühmt für seinen großen Markt und das Prestige seiner Herrschenden, die sich von der toltekischen Kultur, welche man damals als besonders prägend und wichtig erachtete, ableiteten. Die Geschichte von Coixtlahuaca ist in den 13 bekannten Lienzo-Gemälden und Kodizes dokumentiert. Unter anderem aufgrund von Plünderungen und Aneignungen befinden sich heute jedoch nur noch fünf Lienzos in den Gemeinden. Während der Kolonialzeit war das Ngigua–Ngiba oder Chocholteco eine der vier Sprachen Oaxacas, die eine lange Schreibtradition aufwiesen. Paradoxerweise ist es heute vom Aussterben bedroht. Im 20. Jahrhundert haben Diskriminierung und Migration die Weitergabe der chocholtekischen Kultur gefährdet und die Identität der Chocholteca geschwächt.
Der Besuch der Delegation, der vom 22. bis 27. April 2024 in Berlin stattfand, erfolgte im Rahmen des „Kollaborativen Museums“ (CoMuse), einem zentralen Projekt des Ethnologischen Museums, das Herkunftsgemeinschaften und seine Sammlungen enger miteinander verbinden möchte. Der Austausch in Berlin wurde von Dr. Ute Schüren, Kuratorin der Sammlungen zu Mesoamerika und Irina Seekamp, Textilrestauratorin des Ethnologischen Museums sowie von Dr. Geert Bastiaan (Sebastián) van Doesburg von der Forschungsbibliothek Juan de Córdova in Oaxaca in Abstimmung mit dem Rat der Chocholteca koordiniert. Das Projekt wurde von Dr. Stephen A. Kowalewski von der University of Georgia, Atlanta, mitinitiiert. Es beinhaltet einen zweiten Workshop in Coixtlahuaca, der im Jahr 2025 stattfinden wird und bei dem die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen dem Ethnologischen Museum und den indigenen Gemeinden präsentiert werden sollen.
Auf der Seite der Chocholteca nahmen der Präsident des Rates der traditionellen Regierung der Chocholteca Ngigua–Ngiba (Concejo de Gobierno Tradicional del Pueblo Chocholteco Ngigua–Ngiba) sowie Delegierte, die von den Gemeindeversammlungen von San Juan Bautista Coixtlahuaca, Santa María Nativitas, San Miguel Tulancingo, San Jerónimo Otla und San Miguel Tequixtepec bestimmt worden waren, teil. Die letztgenannten vier Gemeinden sind jene, die auch heute noch eigene Lienzos vor Ort bewahren. Einer der beiden Repräsentanten aus San Juan Bautista Coixtlahuaca ist Mitglied des kommunalen Museums NCHA NI DEXÄ NI BOLLE RRU NGIGUA (Museo Comunitario Coixtlahuaca), mit dem das Ethnologische Museum ebenso wie mit den Textilrestauratorinnen der Coordinación Nacional de Conservación del Patrimonio Cultural (CNCPC) des Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH) in Mexiko-Stadt seit geraumer Zeit zusammenarbeitet.
Im Laufe der Woche fanden verschiedene Aktivitäten mit den Delegierten der indigenen Dörfer und Gemeinden und den mexikanischen Textilrestauratorinnen der Abteilung für Textilrestaurierung der Coordinación Nacional de Conservación del Patrimonio Cultural (CNCPC) des Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH) statt. Der Austausch wurde von weiteren Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Sprach- und Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften (BAM und Rathgen-Forschungslabor) begleitet. Thematisiert wurden nicht nur die Inhalte des Lienzo Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II und weiterer Lienzos des Tals von Coixtlahuaca. Der Workshop beschäftigte sich auch mit der heute gelebten chocholtekischen Kultur sowie mit den Fragen der Konservierung von Lienzos im Allgemeinen und insbesondere des Lienzos Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II in Berlin.
Seit dem Umzug von Sammlungen des Ethnologischen Museums ins Humboldt Forum wird der Lienzo Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II in einer speziell für seine Anforderungen angefertigten Vitrine präsentiert, die sich lediglich während bestimmter Zeiten öffnet und klimatisiert ist. Während der Entwicklung des Ausstellungskonzeptes hatten sich viele Fragen zum Erhaltungszustand und zur Notwendigkeit einer erneuten Konservierung des Objekts aufgetan, die im Rahmen eines Expertengespräches geklärt werden sollten. Das Expertengespräch, an dem sich die beiden Textilrestauratorinnen aus Mexiko sowie zehn weitere in Berlin tätige Textilrestaurator*innen beteiligten, beinhaltete einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Daneben wurden herstellungstechnische und materialtechnologische Themen sowie Fragen der Konservierungsmethodik und –ethik behandelt. Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit einer erneuten Konservierung des Lienzo Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II diskutiert. Die Expert*innen kamen zu dem einhelligen Ergebnis, dass die Abnahme des Lienzos von seinem derzeitigen Trägergewebe, die bei einer erneuten Konservierung notwendig wäre, nicht ohne Materialverlust durchgeführt werden könnte und somit zu risikoreich wäre. Gleichzeitig befanden sie, dass der Lienzo in dem konstanten Klima, das die neue Vitrine bietet, am besten verwahrt sei. Die Expert*innen empfahlen aber ein fortlaufendes Monitoring des Zustands des Lienzos, um etwaige kleinste Objektveränderungen zu erkennen. Alle befürworteten zudem weitere nichtinvasive materialtechnologische Untersuchungen, um die verwendeten Materialien und Farbstoffe, die den kulturhistorischen Kontext und die Kenntnisse über den Lienzo bereichern würden, durchzuführen. Abschließend wurden Möglichkeiten und Verfahren zur Anfertigung einer 1:1 Kopie des Lienzos besprochen. Die Kopie soll dem historischen Vorbild gleichen und für das Gemeindemuseum in Coixtlahuaca angefertigt werden. Die Textilrestauratorinnen aus Mexiko hatten darüber hinaus Gelegenheit, Konservierungsmethoden und Projekte in den Restaurierungswerkstätten des Deutschen Historischen Museums, des Museums für Islamische Kunst sowie des Museums für Europäische Kulturen kennenzulernen.
Bei der Wiedervereinigung mit dem Lienzo Coixtlahuaca II / Lienzo Seler II wies Horacio Miguel Cruz, Präsident der Gemeinde von San Juan Bautista Coixtlahuaca und Präsident des Rates der traditionellen Regierung des Volkes der Chocholteca Ngigua–Ngiba (Concejo de Gobierno Tradicional del Pueblo Chocholteco Ngigua–Ngiba) darauf hin, dass der Lienzo die Größe der Chocholteca-Kultur deutlich zeige. Die Chocholteca befinden sich derzeit im Prozess der politischen, sozialen und kulturellen Neukonstituierung. Die Mitglieder der Chocholteca-Delegation waren sich einig, dass der Moment, den sie in Berlin erlebten, historisch war: „Die großformatige Dimension des Lienzo von Coixtluahuaca II ist überraschend und beeindruckend, ebenso wie die künstlerische, wissenschaftliche und kulturelle Leistung unserer Vorfahren. Ihre Spiritualität bewegt mich sehr; es ist für mich etwas Besonderes und ein schwer vermittelbares Gefühl, den Lienzo mit eigenen Augen zu betrachten und mich über ihn mit meinen Chocholteca-Vorfahren zu verbinden. Es macht mich aber auch traurig, dass ich ihn vielleicht nicht wiedersehen werde und ich darüber nachdenke, ob zukünftige Generationen die Ehre haben werden, ihn zu sehen so wie ich es konnte“, sagte Fernando Juárez, Vertreter des Gemeindemuseums von Coixtlahuaca. Auf der anderen Seite wurde von den Delegierten die Arbeit der Restauratorinnen und Restauratoren gewürdigt, die eindrucksvoll dazu beigetragen hätten, dass das kulturelle Erbe erhalten werde. Horacio Miguel Cruz stellte fest, der Lienzo befände sich in guten Händen.
Ihrerseits dankte die Leitung des Ethnologischen Museums den Delegierten für ihren Besuch, den sie als großen Vertrauensbeweis der Chocholteca betrachtete. Sie bekräftigte ihr Interesse an einer künftigen Zusammenarbeit, etwa zum Zweck des Austausches von Informationen und Wissen, im Bereich der Bildung und Vermittlung, bei der Entwicklung gemeinsamer Wechselausstellungen und der kooperativen Organisation von Projekten zum Erhalt und der Aufwertung des kulturellen Erbes der Chocholteca.
Am Nachmittag des 25. April wurde die Delegation in der mexikanischen Botschaft in Deutschland von Botschafter Francisco Quiroga und dem Verantwortlichen der Abteilung für Mexikos historisches und kulturelles Erbe, David Esquivel Palomares, empfangen. Beide brachten ihre Begeisterung für das Projekt zum Ausdruck und bekundeten ihr Interesse, es aktiv zu unterstützen.
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass indigene Völker (pueblos indígenas) im Sinne des Völkerrechts kollektive Subjekte sind. Bei der Umsetzung ihrer Grundrechte klafft jedoch eine Lücke. Daher ist der Beginn des Dialogs über das in ausländischen Institutionen bewahrte kulturelle Erbe eine wichtige Aufgabe. Die Zusammenarbeit soll Maßnahmen unterstützen, die zum Aufbau und Wiedererlangen des historischen Gedächtnisses zum Wohle der zukünftigen Generationen der Chocholteca beitragen.
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