Bilder formen Welten: Rugendas‘ Reisemalerei im Globalen Kontext
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Wie schufen europäische Künstler Weltbilder, die bis heute nachwirken? Und welche Machtverhältnisse ermöglichten dies? Ändert sich dadurch heute der Blick auf Kunst? Julia Richard und Sven Haase stellen sich diese Fragen anhand der Zeichnung Tanzende Mädchen von Johann Moritz Rugendas und werfen dabei einen Blick auf Reisemalerei im Globalen Kontext.
Text: Julia Richard und Sven Haase
Seine Forschungsreisen verhalfen Alexander von Humboldt bereits zu Lebzeiten nicht nur zu weitreichender Bekanntheit, sie weckten bei den Zeitgenossen auch das Interesse für Lateinamerika, insbesondere bei deutschen Malern. In der Nachfolge Humboldts unternahmen Johann Moritz Rugendas (1802–1858), Ferdinand Bellermann (1814–1889) und Eduard Hildebrandt (1817–1868) ausgedehnte Reisen in diese Weltregion und versuchten, ihre vielfältigen Eindrücke im Stil der europäischen Maltradition abzubilden, von der sie kamen. Sie erschufen damit gewissermaßen eine ästhetische Ethnographie des amerikanischen Subkontinents. Die dabei entstandenen Zeichnungen, Ölskizzen und Studien der Landschaften, von Flora und Fauna, Ortschaften, Lebenswelten und kulturellen Praktiken verschiedener Menschen wurden populär, verbreiteten sich als Druckgraphiken und prägten in ganz Europa das zeitgenössische Bild von Südamerika. Darüber hinaus fanden sie aber auch Eingang in die Kunstgeschichten Brasiliens, Mexikos und Venezuelas.
2009: Fokus auf Ästhetik und Sammlungsgeschichte
Bereits im November 2009 widmete das Kupferstichkabinett den drei reisenden Malern die Ausstellung „Kunst um Humboldt“. Ausstellung und Katalog zeigten die Zeugnisse der Studienreisen, verschlossen die Augen aber nicht vor den sozialen Missständen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Südamerika herrschten und die auch den Künstlern nicht verborgen geblieben waren. So ging man auf die Darstellung Indigener Personen, die brutale Gewalt gegen versklavte Schwarze Menschen und die wenig zimperliche Aneignung und Unterwerfung der Natur ein. Schon allein, weil etwa Rugendas diese Realitäten gesehen und teilweise abgebildet hatte, die Kunstwerke sie also in gewisser Weise wiederspiegelten. Allerdings wurden diese Themen eher am Rande angeschnitten. 2009 lag der Fokus auf Ästhetik und Sammlungsgeschichte, wovon etwa die Feststellung zeugte, dass die Künstler „ein faszinierendes, vielfältiges und authentisches Bild“ der von ihnen besuchten Länder entworfen hatten.
Der Tod des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1909–2009) lag bei der Eröffnung wenige Tage zurück. Nachrufe hatten Feuilletons und Sonderseiten gefüllt. Sein wissenschaftliches Leben lang war es ihm darum gegangen, das vermeintlich „Andere“ in Beziehung zum „Eigenen“ zu setzen. Die Frage, ob und wie sich der Versuch, andere Kulturen zu verstehen, letztlich darin erschöpft, selbstreferenzielle und bekannte Deutungsmuster zu reproduzieren, prägte z.B. Lévi-Strauss‘ 1955 erschienenes Buch „Traurige Tropen“, in dem er die ethnographische Beobachtung, Interpretation und Dekodierung bzw. ihre Grenzen und Möglichkeiten kritisch hinterfragte. Ein klassischer Topos der Ethnologie: The West and the Rest. Genau das war auch Gegenstand der Kunst von Rugendas, Bellermann und Hildebrandt. Doch die Frage wie die Künstler diese Realitäten erlebten und verarbeiteten, welche Position sie einnahmen, ob ihnen ihre Rolle und die „europäische Brille“, die sie zweifelsohne trugen, bewusst war, blieb 2009 noch offen.
Fragen nach der Relation von Porträtiertem und Porträtist
Das mag aus heutiger Sicht verwundern, muss es aber nicht. Fragen und Themen waren damals andere als heute. Zu weit lagen diese Diskurse in der Museumswelt zu Beginn des 21. Jahrhunderts auseinander, zu „fremd“ waren sich Kunstgeschichte und Ethnologie noch. Das tat dem Erfolg der Ausstellung „Kunst um Humboldt“ damals keinen Abbruch. Aber der Blick auf Kunst erweitert sich. Es gehört zum wissenschaftlichen Kerngeschäft, Bekanntes zu hinterfragen und dabei andere Disziplinen mit einzubeziehen. Ein Beispiel in Bezug auf die Interpretation europäischer Künstler in Südamerika, konkret auf ein Blatt von Johann Moritz Rugendas, zeigte jüngst die Ausstellung „(Un)seen Stories. Suchen, Sehen, Sichtbarmachen“ der Volontär*innen der Staatlichen Museen zu Berlin im Kulturforum – und geht dabei weit über Levi-Strauss hinaus.
Vier junge Frauen und ein kleines Kind sind inmitten einer üppigen, dunkelgrünen Vegetation zu sehen. Zwei der Frauen tanzen in farbenfrohen Röcken, während die anderen beiden in ruhigeren Posen verharren.
Man kennt sie als „Reisemalerei“, die Gemälde und Zeichnungen europäischer Künstler des 19. Jahrhunderts, die Landschaften und Menschen während ihrer Aufenthalte außerhalb Europas darstellten. Die fast ausschließlich männlichen und europäischen Maler wurden im kunsthistorischen Kanon lange als Entdecker und Pioniere verehrt, ihre Werke als ästhetisch, pictoresque und authentisch gepriesen. Und auch wenn sie dies aus eurozentrischer Sicht lange Zeit waren (und für viele vielleicht immer noch sind) verstellen diese Interpretationen allzu oft den Blick auf die Komplexität von Kunst in ihrem globalen Kontext. Jüngere Forschungsansätze, z.B. aus der postkolonialen Kritik, dem Schwarzen Feminismus oder auch der kritischen Weißseinsforschung, fordern schon seit längerem einen machtkritischen Umgang mit Bildern.
Denn vor allem bei europäischer „Reisemalerei“ stellt sich die Frage nach der Relation von Porträtiertem und Porträtist, sowie nach der Rezeption von Kunst im Globalen Raum und aus sozial situierten Positionen. Wie schufen europäische Künstler Weltbilder, die bis heute nachwirken? Welche Machtverhältnisse machten dies möglich? Und welche Gegenbilder gibt es?
Künstler profitierten vom Vermächtnis des Kolonialismus
Die Ausstellung „(Un)seen Stories“, die bis August 2024 am Kulturforum lief, bot einem interdisziplinären Team von Volontär*innen der Staatlichen Museen zu Berlin die Möglichkeit, Werke der historisch gewachsenen Sammlungen neu zu kuratieren. So wurde auf Vorschlag der Kuratorin am Kupferstichkabinett, Anna Pfäfflin, auch die Zeichnung „Tanzende Mädchen“ von Rugendas in die Ausstellung aufgenommen und von der Volontärin Julia Richard aus dem Zentralarchiv für die Ausstellung neu interpretiert.
Die oben beschriebene Ölzeichnung „Tanzende Mädchen“ wurde um 1831–1834 in Mexiko Veracruz angefertigt. Rugendas schuf dieses Werk also kurz nach dem mexikanischen Unabhängigkeitskrieg, als die junge Nation gerade erst zehn Jahre alt war – in einem Land, das fast 290 Jahren unter Kolonialherrschaft stand und damit auch die kolonialrassistischen Strukturen des spanischen Imperiums geerbt hatte. Weiße europäische Maler wie Rugendas profitierten (wenn auch indirekt) vom Vermächtnis des Kolonialismus, das auf weißer Vorherrschaft beruhte und inhärent auf der systematischen Ausbeutung Indigener und Schwarzer Personen basierte. Seine Zeichnungen zeigen jedoch wenig von den großen politischen Umwälzungen dieser Zeit, da sie überwiegend im „costumbristischen“ Stil (von spanisch costumbre „Sitte“) gehalten sind, der sich auf die Darstellung romantisierter Alltagsszenen konzentriert.
Heute ist vieles über das Verhältnis von Künstler und Porträtierten nur noch schwer nachvollziehbar. Betrachtet man jedoch die Porträtsammlung der Berliner Rugendas-Zeichnungen, fällt auf, dass nur Personen europäischer Herkunft (sogenannte „Mestizen“) namentlich erwähnt werden, während Indigene und Schwarze Personen namenlos und nach vermeintlich ‚ethnischer‘ oder beruflicher Positionierung dargestellt werden.
Im kolonialen Blickregime steht hinter der Namenlosigkeit immer auch eine Strategie
Für die Zeichnung „Tanzende Mädchen“ ist die Anonymität der vier Frauen nicht per-se problematisch. Sie spiegelt die Konventionen der Genremalerei wider, in der Personen auch in Europa anonym dargestellt wurden. Für Rugendas‘ Porträts ist die Namenlosigkeit jedoch durchaus kritisch zu sehen und in einem umfassenderen kolonialen Kontext zu reflektieren. Denn Namen helfen uns, Menschen in ihrer Individualität wahrzunehmen. Im kolonialen Blickregime steht hinter der Namenlosigkeit immer auch eine Strategie der de-humanisierung und der rassistischen Konstruktion eines Typus nach europäischer Vorstellung. So wurde das Konzept des „Weißseins“ im langen 18. Jahrhundert in der Malerei eingeführt, erreichte jedoch im Museum seinen Höhepunkt in der ideologischen Fotografie, die sich heute vor allem in ethnologischen Sammlungen befindet.
Ähnlich wie der Begriff des Orientalismus der den westlichen Blick auf die SWANA Region kritisch hinterfragt, können die Konzepte der „Tropikalität“ oder des „Tropischen Romantizismus“ helfen, den Blick Rugendas‘ in die kolonial geprägten Bildgeschichte Europas einzuordnen und kritisch zu hinterfragen. So wirkt auch die bereits erwähnte Zeichnung „Tanzende Mädchen“ wie eine klischeehafte Darstellung des vermeintlich „Anderen“, die sich durch den übersättigten botanischen Hintergrund in seinem Verhältnis zu den jungen Frauen äußert. In Rugendas‘ komponierten Darstellungen tropischer Landschaften und weiblicher Figuren spiegeln sich so auch europäische Projektionen von Exotik, Abenteuer und Wildnis wider. Diese ästhetische Form der Verfremdung war geprägt von männlich-deutschen, vorkolonialen Phantasien über Lateinamerika, die sich vor allem in den literarischen Schriften während der Epoche Alexander von Humboldts niederschlugen.
Doch Bilder kennen keine starren Grenzen. Ihre Bedeutungen können gedehnt, erweitert und durch Neu-Aneignungen anders aufgeladen werden. Gegenbilder zu historisch problematischen oder sensiblen Inhalten werden heute häufig durch einen zeitgenössischen Wertewandel hervorgerufen. Interessanterweise lassen sich im Falle der Berliner Rugendas-Zeichnungen die globalen Rezeptionspfade bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen, wie es die Untersuchungen der ehemaligen Südamerika-Kuratorin des Ethnologischen Museums Manuela Fischer zeigten.
Nach dem Besuch einer mexikanischen Delegation modernistischer Maler in Berlin 1920 wurden 37 Zeichnungen von Rugendas, die sich zu diesem Zeitpunkt im Museum für Völkerkunde befanden, an Mexiko übergeben, das Land, in dem sie entstanden waren. Dort wurden sie in den 1920er–40er Jahre im Kontext des „Indigenismo“ – einer postrevolutionären mexikanischen Kulturpolitik, die eine neue mexikanischen Identität im ländlichen und Indigenen Charakter des Landes suchte – neu interpretiert. Bereits kurz nach ihrer Ankunft wurden die Berliner Zeichnungen in einer Einzelausstellung gewürdigt und sind bis heute im Nationalen Historischen Museum Mexikos zu sehen. Die Zeichnung „Tanzende Mädchen“ war damals nicht Teil der Schenkung. Die Interpretation dieses Blattes durch die mexikanischen Kolleg*innen steht also bislang noch aus.
Potenzial für Neu-Aneignungen aus selbstermächtigten Positionen
Auch die Person Rugendas‘ selbst erfuhr, ähnlich wie Humboldt, eine anhaltende Rezeption auf dem lateinamerikanischen Kontinent, u.a. als Protagonist einer Novelle des argentinischen Schriftstellers César Aira. Dies verdeutlicht auch die Ambivalenz von Bildern und Künstlern: Zum einen verkörpert Rugendas‘ Werk eine romantisierte und kolonial geprägte Sicht auf Lateinamerika, zum anderen zeigt seine anhaltende Rezeption das Potenzial für Neu-Aneignungen aus selbstermächtigten Positionen.
Vor dem Hintergrund öffentlicher Debatten um Provenienz und Restitution von Kulturgütern aus dem Globalen Süden sind westliche Museen gefordert, sich kritisch mit ihrem kolonialen Erbe auseinanderzusetzen. Zunehmend rücken diese Fragen auch in den Fokus kunsthistorischer Häuser, wie auch die Ausstellungen „Der Blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit“ (Kunsthalle Bremen, 2017) und „Paul Gauguin. Why are you so Angry?“ (Alte Nationalgalerie, 2022) zeigten. Dabei sind machtkritische Betrachtungsweisen eine Übung im Aushalten des Unbehagens: dass Bilder schön und problematisch zugleich sein können.
Für die 300 Rugendas-Zeichnungen in den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin, aber auch für sein druckgraphisches Werk, stellen sich heute viele neue Fragen. „Es geht nicht mehr nur darum, den Künstler aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Zeit und aus seiner Herkunft heraus zu verstehen und zu erläutern“, sagt Anna Pfäfflin vom Kupferstichkabinett. „Gerade in der Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Menschen bleiben Kunstwerke lebendig und regen dazu an, einander kennenzulernen und die jeweiligen Positionen besser zu verstehen. Das Werk der Künstler um Alexander von Humboldt bietet ein weites Feld für die kollaborative Zusammenarbeit über Herkünfte und Kontinente hinweg.“
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