„(Un)seen Stories“ im Kupferstichkabinett: Geschichten aus dem Museum neu erzählt
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Von skurril bis abenteuerlich: Ein Team aus 27 Volontär*innen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zeigen in der Ausstellung „(Un)seen Stories. Suchen, Sehen, Sichtbarmachen“ im Kupferstichkabinett außergewöhnliche Objekte und ihre Geschichten. Hier stellen sechs der Jungkurator*innen ihre persönlichen (Un)seen Stories vor.
Eine Reise hinter die Kulissen des Museums, spannende Geschichten aus dem Arbeitsalltag der Museums-Volontär*innen – das und mehr erwartet Besuchende in der Schau „(Un)seen Stories“. Es wartet nicht nur tatsächlich „Ungesehenes” auf das Publikum, wie ein hinter einer Leinwand verstecktes Bild, sondern auch Gegenstände, die dramatische Umbrüche und Neubewertungen erfahren haben. Die Ausstellung im Kupferstichkabinett, das sonst mit seiner einzigartigen Sammlung von Druckgrafiken glänzt, bietet einen Einblick in die Diversität der Museumssammlungen.
Entdeckung im Depot: ungewollte „Kellerbilder”
Text: Jill Praus, ehemalige Volontärin Neue Nationalgalerie
Mehr als 70 Jahre nach ihrer Entstehung werden die Gemälde „Revolutionäre Arbeiter“ (1952) und „Erschießung revolutionärer Matrosen” (1951/52) des Künstlers Horst Strempel zum ersten Mal überhaupt ausgestellt und ihre Geschichte untersucht. 1953 wurden sie vom Ministerium für Kultur der DDR in den Keller des Alten Museums verbannt und gerieten dort in Vergessenheit. Obwohl sie auf den ersten Blick der staatlich vorgegebenen Kunstrichtung der DDR entsprachen, wichen sie in ihrer Gestaltungsweise von den strikten Prinzipien des Sozialistischen Realismus ab. In den Augen des Staates orientierte sich Strempel zu sehr an den abstrahierenden Ausdrucksformen der westlichen Moderne. Als ein Haftbefehl der Stasi gegen ihn erlassen wurde, floh er am 26. Januar 1953 nach West-Berlin.
Eigentlich sollten die Gemälde noch im selben Jahr auf der Dritten Deutschen Kunstausstellung in Dresden (1. März – 25. Mai 1953) gezeigt werden. Doch meine Recherchen ergaben, dass sie weder ausgestellt, noch von Strempel mitgenommen wurden. 1953 sind sie mit dutzenden anderen Werken in einem Sammeltransport zur Museumsinsel gebracht worden. Von dort aus sollten alle Werke an ihre Eigentümer*innen zurückgehen. Strempel konnte seine Bilder jedoch aus besagten Gründen nicht abholen. Sie verblieben auch nach dem Mauerfall im Depot – lange Zeit als ideologisch und unästhetisch gebrandmarkt. Nun wurde endlich die Grundlage dafür geschaffen, die Eigentumsverhältnisse der Bilder aufzuklären und einen viel zu langen Schwebezustand zu beenden. Glücklicherweise konnte ich den Kontakt zu dem Erben von Horst Strempel herstellen. Die Gemälde zeigen nicht nur den Wertewandel, den ein Kunstwerk durchlaufen kann, sondern erzählen von der Sammlungsgeschichte und der DDR-Kulturpolitik.
Vom Gipfel des schlechten Geschmacks zum Sammlerstück
Text: Thomas MacMillan, Volontär Staatliches Institut für Musikforschung
Das Grafton-Saxophon aus den 1950er Jahren wurde einst als Gipfel des schlechten Geschmacks verschrien: Es wurde im Spritzguss gefertigt und verband einen cremefarbenen Plastikkörper mit Applikationen und Tasten aus Metall. Inzwischen ist das Instrument aber ein begehrtes Sammlerstück. Trotz inhärenter Mängel wie Brüchigkeit und ungeschmeidiger Tasten erfreute es sich großer Beliebtheit. Vor allem der niedrige Preis lockte Musiker wie Jazzlegende Ornette Coleman an, der das Instrument wegen seiner Einzigartigkeit und charakteristischen Klangfarbe schätzte. Die Zerbrechlichkeit des in der Ausstellung gezeigten Instruments spiegelt sich bereits in seinem Korpus wider, der einen langen Riss aufweist. 2016 wurde das Saxophon vom Musikinstrumenten-Museum erworben, doch seine Vorgeschichte bleibt bis heute größtenteils unbekannt. Das unkonventionelle Design des Grafton-Saxophons verkörpert den Fortschritt in der Musikinstrumenten-Herstellung der 1950er Jahre und symbolisiert bis heute radikale Innovationen im Jazz. Das Grafton-Saxophon inspiriert, über die Grenzen des Konventionellen hinauszudenken. Es lädt dazu ein, die Vielfalt und den Reichtum musikalischer Innovation zu erkunden. Für mich ist es ein Symbol für die kreative Freiheit und den Mut, neue Wege zu gehen – sowohl in der Musik als auch in der Instrumentenherstellung.
Das zerschnittene Gemälde
Text: Sarah Hampel, Volontärin Neue Nationalgalerie
Auf dem Gemälde von Conrad Felixmüller (1897–1977) ist Otto Rühle im Frühjahr 1920 bei einer Rede im Dresdner Kristall-Tanzpalast porträtiert. Rühle (1874–1943) war Mitglied der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD). Er spricht hier vor Arbeiter*innen, die laut Felixmüller ein bürgerliches Zeitungshaus besetzen wollten und dabei gewaltsam zurückgedrängt wurden. Felixmüller skizzierte und zeichnete Rühle mehrfach, bevor das Gemälde entstand.
In der Dresdner Ausstellung „Entartete Kunst“ wurden 1933 40 von Felixmüllers Werken gezeigt und der Künstler damit schon früh diffamiert. Insgesamt wurden ab 1933 mindestens 151 seiner Werke als ‚entartet‘ eingestuft und beschlagnahmt. Anhand der in der Dresdner Schmähausstellung gezeigten Bilder schloss Felixmüller, dass auch sein Rühle-Portrait von den Nationalsozialist*innen verurteilt werden würde. Um seine Familie zu schützen, entschloss er sich, einige seiner Werke zu zerschneiden. Im Falle des vorliegenden Gemäldes versteckte er das herausgeschnittene Hauptmotiv, auf dem Rühle zu sehen ist. 1946 malte er das gesamte Gemälde nach. Dieses Werk befindet sich seit 1967 unter dem Titel „Der Redner Nr. I Otto Rühle, 1920 (Replik des Künstlers von 1946)“ in der Sammlung der Nationalgalerie. Es war zunächst als Dauerleihgabe in der Nationalgalerie, bevor es 1977 von Titus Felixmüller, dem Sohn des Künstlers, an das Haus übergeben wurde. Seit 2019 ist nun auch das in der „(Un)seen“-Ausstellung gezeigte Bild „Der Redner Nr. I Otto Rühle (Fragment)“ als Geschenk der Erbengemeinschaft Conrad Felixmüllers in der Sammlung.
Schrödingers Papyri: 100 Jahre verborgen
Text: Josefine Dreesen, Volontärin Institut für Museumsforschung
Die leicht verrostete Metallkiste wirkt zunächst unscheinbar, ist aber eine stumme Zeugin vergangener Epochen. In ihr wurden Papyri aufbewahrt, die bei archäologischen Expeditionen der Königlichen Museen zu Berlin zwischen 1906 und 1908 auf der Nil-Insel Elephantine entdeckt wurden. Die Papyri wurden damals in Metallkisten verpackt und Fundort und Datum der Verpackung auf der Kiste vermerkt.
Elephantine spielte über 4.000 Jahre eine strategisch wichtige Rolle und beherbergte eine vielfältige Gemeinschaft verschiedener Ethnien, Kulturen und Religionen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in den Sprachen der hier gefundenen Papyri wider, die als Elephantine-Papyri bekannt wurden. Sie sind in unterschiedlichen Schriften wie Hieroglyphen, Hieratisch, Demotisch, Aramäisch, Griechisch, Koptisch und Arabisch verfasst. Zum Teil waren einige der Schriftsprachen zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung noch nicht entzifferbar, sodass die Papyri bis zu ihrer Entschlüsselung in den Fundkisten verblieben. Über 100 Jahre waren sie so verborgen und unsichtbar. Ab den 2010er Jahren konnten die Papyri im Rahmen eines EU-Projektes entnommen, restauriert und lesbar gemacht werden. Die Schriftstücke liefern wertvolle Erkenntnisse über die kulturelle Diversität, internationale Vernetzung und Kulturgeschichte Elephantines. Die Grabungskiste von Elephantine ist für mich daher mehr als nur ein historisches Artefakt – sie ist Trägerin und Überlieferin von zunächst unsichtbaren Geschichten einer einzigartigen Gemeinschaft.
Aus eins mach zwei – Fritz Rheins Damen
Text: Sophie Gurjanov, Volontärin Alte Nationalgalerie
Im Jahr 2006 fand Fritz Rheins Gemälde „Dame mit Kind“ den Weg in die Hände der Restauratorin Kerstin Krainer an der Alten Nationalgalerie. Geplant war die Durchführung einiger konservatorischer Maßnahmen – doch niemand hatte damit gerechnet, was bei den Arbeiten entdeckt wurde. Unter der „Dame mit Kind“ befand sich ein weiteres, vollendetes und signiertes Gemälde. Die Geschichte der beiden Bilder erzählt von einem einzigartigen Fund und gibt Einblicke in die restauratorische Arbeit und das Vorgehen bei kunsttechnologischen Untersuchungen.
Bei der Dame mit Kind handelt es sich um ein repräsentatives Porträt der Familie des Künstlers. 1910 malte Rhein seine Frau Hildegard, geb. Caspari, und ihren damals etwa zweijährigen Sohn Peter. Seit 1917 befindet sich das Bild im Besitz der Nationalgalerie. Erst hundert Jahre später entdeckten die Restauratorinnen bei einer ersten Untersuchung das darunterliegende, zweite Bild. Zuvor fiel ihnen der Umspann auf, wo die Leinwand um die Kante des Keilrahmens umgeschlagen war: Er erschien besonders wulstig. Dass sich unter dem Bild aber eine komplette zweite Leinwand befand, verriet schließlich die Rückseite: Dort schlug sich die Farbe aus der Malschicht durch. Allerdings entsprach sie nicht der Komposition auf der Vorderseite. Es wurde daraufhin geprüft, ob sich die beiden Leinwände trennen ließen. Und tatsächlich: Das neue Gemälde konnte problemlos herausgehoben werden. Die „Dame auf dem Sofa“ kam zum Vorschein. Um die Identität der abgebildeten Frau zu entschlüsseln, wurden die Nichte Rheins und ihre Tochter interviewt. So handelt es sich bei der Dargestellten wohl ebenfalls um Hildegard, jedoch während ihrer Verlobung mit Rhein im Jahr 1905. Warum sich der Künstler entschied, das Bild zu verstecken, bleibt bis heute ein Rätsel.
Die gastgebende Institution der „(Un)seen“-Ausstellung ist das Kupferstichkabinett, das mit rund 660.000 Arbeiten auf Papier die größte graphische Sammlung in Deutschland beherbergt. Für die Ausstellung haben wir 13 Werke aus dem Kupferstichkabinett ausgewählt. Sie gewähren einen Einblick in die große Vielfalt des Sammlungsbestandes, der vor allem europäische, aber auch internationale Zeichnungen und Druckgrafiken vom Mittelalter bis in die Gegenwart beinhaltet. Ein Musterblatt von Rembrandt aus dem 17. Jahrhundert zum Beispiel gibt nicht nur einen Einblick in den Schaffensprozess des Künstlers, es ist ebenso Zeugnis für den unterschiedlichen Umgang mit Kunst aufgrund verschiedener Interessenlagen. Das Blatt wurde einst zerschnitten – vermutlich um die Motive einzeln gewinnbringend zu verkaufen. Später wurde es dann wieder aus den erhaltenen Teilen rekonstruiert und zusammengesetzt, sodass wir heute eine annähernde Vorstellung vom Originalzustand haben.
Die Ölzeichnung Tanzende Mädchen, die zwischen 1831 und 1834 in Mexiko entstand, regt zu einer postkolonialen Neubetrachtung des Œuvres des deutschen Künstlers Johann Moritz Rugendas (1802–1858) an. Rugendas bereiste viele Jahre Lateinamerika und hielt in seinen Werken Länder und Landschaften, Menschen und Traditionen fest. Neben dem künstlerischen Aspekt kann Rugendas’ Werk daher auch als historisches Dokument und als Projektionsfläche sich wandelnder Rezeptionen betrachtet werden. Wie sogenannte Reisemaler im 19. Jahrhundert Selbst- und Fremdbilder entwarfen, muss aus heutiger Sicht kritisch hinterfragt werden. Interessanterweise wurden 1927 einige von Rugendas’ Zeichnungen an Mexiko übergeben, wo eine Rückaneignung seiner Bilder im Sinne einer mexikanische Identitätsschreibung stattfand.
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Porträts ohne Augen, zerbombte Skulpturen, zusammengestückelte Vasen: In der Kunstbibliothek zeigt die von Volontär*innen kuratierte Ausstellung „In:complete. Zerstört – Zerteilt… weiterlesen
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