Bizarr, schräg und unangepasst: Belgischer Symbolismus in der Alten Nationalgalerie
Lesezeit 6 Minuten
Die Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische
Symbolismus“ musste aufgrund der Coronakrise verschoben werden. Nun ist
die fulminante Schau in der Alten Nationalgalerie zu sehen und offenbart
spannende Brückenschläge in die Gegenwart.
Text: Karolin Korthase
Ein
entfesselter Kapitalismus, rasante technische Innovationen und die
immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich: Was wie eine
Gegenwartsbeschreibung klingt, war im Belgien des 19. Jahrhunderts
Realität. In Mons schufteten die Arbeiter zu teils menschenunwürdigen
Bedingungen in Kohlezechen und an Hochöfen, in Gent surrten die Spindeln
der Spinnmaschinen, in Charleroi wurde dank eines innovativen
Verfahrens aus chemischem Soda Seife und Glas. Für den Transport der
belgischen Güter sorgte eines der besten Eisenbahn-Schienennetze
Europas. Immer schneller, weiter und höher hinaus – und dann? Wie weit
lässt sich die Ausbeutung treiben, bis alles zusammenbricht?
Die
belgische Kunst fand im ausgehenden 19. Jahrhundert für diesen
buchstäblichen Tanz auf dem Vulkan eine ungewöhnliche Antwort. Sie
wendete sich von der materialistischen Realität ab und schuf eine
bizarre und faszinierende Parallelwelt. Ralph Gleis, Leiter der Alten
Nationalgalerie und Kurator der Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume.
Der belgische Symbolismus“ schreibt im Ausstellungskatalog: „Der
lustvolle Blick in den Abgrund einer übersättigten Gesellschaft, die
sich zugleich in der Krise wähnte, der morbide Reiz zwischen Thanatos
(Tod) und Eros (Liebe): Das sind Themenfelder in der Kunst, die Ende des
19. Jahrhunderts insbesondere im Symbolismus ihren Ausdruck fanden.“
Für
die Ausstellung, die ursprünglich schon im Mai eröffnen sollte und
aufgrund der Coronakrise verschoben werden musste, wurden Exponate von
rund 50 privaten und institutionellen Sammlern und Museen angefragt. Die
Nationalgalerie selbst besitzt aufgrund der Sammlungsgeschichte unter
Hugo von Tschudi (Direktor von 1896 bis 1908) nur wenige eigene Werke
des belgischen Symbolismus, die Leihgaben zusammenzubekommen sei eine
logistische Mammutaufgabe gewesen, erzählt Ralph Gleis. Zumal sie gleich
doppelt bewältigt werden musste: „Nach dem Lockdown mussten wir mit
jedem einzelnen Leihgeber erneut ausloten, wie lange wir die Exponate
ausleihen können. Das war ein Eiertanz.“
Enigmatisch und sehr geheimnisvoll
Die
Mühen haben sich gelohnt. Dank der hochkarätigen Werksliste, die
insgesamt 180 Gemälde, Skulpturen, Drucke und Zeichnungen umfasst, wird
der belgische Symbolismus in seinem ganzen Facettenreichtum dargestellt
und eines der Highlights der Ausstellung ist Fernand Khnopffs Gemälde
„Die Zärtlichkeit der Sphinx“ aus dem Brüsseler Fin-de-Siècle-Museum.
Eine Sphinx mit Leopardenkörper schmiegt sich innig an einen
rätselhaften Jüngling mit markanten Brustwarzen und einem geflügelten
Stab in der Hand. Was ist hier typisch weiblich und was männlich? Hat
der Künstler sich als ödipalen Jüngling selbst verewigt und offenbart
hier eine abgründige Beziehung zu seiner Schwester Marguerite, die ihm
für fast alle Bilder Modell stand? Und was hat es mit der antik
anmutenden Hintergrundlandschaft auf sich? Schon zu seinen Lebzeiten
wurde Khnopff gefeiert, wie Ralph Gleis berichtet: „Er war ein Star
seiner Zeit und gab sich bewusst enigmatisch und sehr geheimnisvoll.“
Passend
zu diesem Image war Hypnos, der griechische Gott des Schlafes, sein
Lieblingsmotiv. Der geflügelte Kopf thronte auf einem prominenten Platz
in seiner tempelartigen Villa in Brüssel und zieht sich wie ein roter
Faden durch seine Arbeiten. Der Schriftsteller und Journalist Ludwig
Hevesi deutete Khnopffs Faible für den griechischen Gott 1906 wie folgt:
„Er ist ein moderner Romantiker der eigenen Art. So sehen sie im
Zeitalter der Hypnosen aus.“ Hevesi spielt vermutlich auf die
bahnbrechende Arbeit des Psychoanalytikers Sigmund Freud an. Die
Erkundung des Unbewussten, die Welt der Träume, Urängste, erotische
Fantasien, generell also die Abgründe der menschlichen Seele – Freud und
die Symbolisten trieben die gleichen Themen um. „Nur wollte der
Symbolismus keine Geheimnisse aufdecken oder wissenschaftlich erläutern,
sondern sie bewahren“, erklärt Gleis.
Die
Bilder der Symbolisten irritieren, verstören und berühren und sie
arbeiten sich an den existenziellen Fragen des Lebens ab. Besonders
stimmungsvoll ist das dem Schweizer Maler Arnold Böcklin gelungen. „Die
Toteninsel“ ist eines seiner berühmtesten Bildmotive, das in mehreren
Versionen existiert: Zu sehen ist ein Kahn mit einer ganz in Weiß
gehüllten Person und einem geschmückten Sarg. Das Ziel der Fahrt ist
eine einsame zypressenbewachsene Insel. Der Tod war Böcklins
Lebensthema. Er verlor acht von 14 Kindern und schuf in seinen Bildern
immer wieder Momente der Transition.
„Man fühlt sich in einer Art traumtänzerischer Welt“
Auch
der Belgier James Ensor arbeitete sich an der eigenen Endlichkeit ab,
nur ging er das Thema weitaus satirischer und überzeichneter an. In „Das
malende Skelett“ verewigte er sich selbst an der Staffelei mit einem
Totenschädel. Auf anderen Ensor-Bildern sieht man herrschaftlich
gekleidete Leute mit verzerrten, maskenhaften Gesichtern – schält sich
hier ein hässlicher innerer Wesenskern hervor, der unter dem edlen
Anputz verborgen bleiben soll?
Die
Reihe mit Beispielen, wie unterschiedlich die Symbolisten ein und
dasselbe Thema künstlerisch bearbeiteten, ließe sich um ein Vielfaches
verlängern. Um den Besucher* innen Orientierung zu bieten, gibt es in
der Ausstellung Schwerpunkte, um die die Kunstwerke gruppiert sind. Zu
den Ausstellungskapiteln gehören u.a. „Die Frau als Rätsel“, „Das
Erwachen des Unbewussten“, „Die Seele der Dinge“ und „Schönheit und
Wahn“. In den Abschnitten „Im Gleichklang der Künste“ und „Jenseits der
Illustration“ wird es um die Nähe von Musik, Literatur und Bildender
Kunst gehen. „Viele Werke des belgischen Symbolismus sind von der
Literatur inspiriert und sehen sich als deren kongeniale Partner“, sagt
Ralph Gleis. Aus diesem Grund beschäftigt sich eine Sektion nur mit der
Illustration von Büchern.
Neben vielen in Deutschland recht
unbekannten belgischen Künstlern sind auch europäische Kollegen, wie der
schon erwähnte Arnold Böcklin, aber auch Edvard Munch, Max Klinger und
Vilhelm Hammershøis zu sehen. Die Nationalgalerie kann hier auf ihren
eigenen Sammlungsbestand zurückgreifen und kontrastiert diesen auf
überraschende Weise mit den Leihgaben. Edvard Munch wird vielen
Besucher*innen ein Begriff sein. Leon Spilliaert, der sein belgischer
Zwilling sein könnte, ist hingegen hier kaum bekannt. Die düsteren, oft
in schwarz-weiß gehaltenen Bilder von Spilliaert zeigen verlassene
Straßenzüge, einsame Landschaften und Menschen, die als Solitäre durch
die Welt wandern. Existenzangst und Entfremdung als Leitmotiv – wären
Spilliaerts Werke Musik, würden sie den perfekten Soundtrack zur
Coronakrise abgeben. „In Europa, in der westlichen Welt haben wir viele
Jahre eine Zeit des ökonomischen Überflusses auf Kosten der Umwelt
erlebt. Jetzt ist noch die Pandemie dazugekommen. Man fühlt sich in
einer Art traumtänzerischer Welt“, resümiert Ralph Gleis, „ganz so wie
damals die Symbolisten.“ Eine Ausstellung der Nationalgalerie mit
Unterstützung der Königlichen Kunstmuseen Belgiens, ermöglicht durch die
Freunde der Nationalgalerie.
Wandernd suchten Künstler im 19. Jahrhundert neue Inspiration abseits der Städte. Ralph Gleis, Leiter der Alten Nationalgalerie, erklärt bei einem… weiterlesen
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