Papyri von Elephantine: Wie Ägyptologen die Antike decodieren

Die Ägyptologin Verena Lepper erforscht im Archäologischen Zentrum der Staatlichen Museen zu Berlin einen riesigen Schatz antiker Schriftstücke von der Nilinsel Elephantine. Die Inhalte der Papyri könnten Teile der Geschichtsschreibung in ein neues Licht tauchen – aber sie halten auch Erkenntnisse für unsere Gegenwart bereit.

Verena Lepper betreut am Ägyptischen Museum und Papyrussammlung einen Papyrusschatz von mehr als 30.000 Objekten in zehn verschiedenen Sprachen und Schriften. Die Ägyptologin und Orientalistin hat dementsprechend viel zu tun. Für ihr Forschungsprojekt zu der Nilinsel Elephantine hat Lepper eine der wichtigsten Auszeichnungen der Forschungswelt überhaupt erhalten: den mit 1,5 Millionen Euro dotierten ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC). Darüber hinaus fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung die von ihr initiierte Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit vier Millionen Euro.

Die Ägyptologin und Orientalistin Verena Lepper. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
Die Ägyptologin und Orientalistin Verena Lepper. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich

Das sind große Erfolge, doch die Wissenschaftlerin wirkt keineswegs so, als habe sie die Bodenhaftung verloren. Mit entschlossenem Auftreten und einem freundlichen Lächeln begrüßt sie uns zu einem Besuch im Depot des Archäologischen Zentrums, in dem sie arbeitet und in dem das Ägyptische Museum und Papyrussammlung die Papyri von Elephantine lagert – Papyri, die mehr als 4000 Jahre Kulturgeschichte erzählen. Elephantine liegt im Süden Ägyptens, nahe der Grenze zum heutigen Sudan. Die Besiedlung dieser kleinen Insel von etwa zwei Quadratkilometern Größe ist seit der Zeit des Alten Reichs (ca. 2700 bis 2200 v. Chr.) durch schriftliche Quellen belegt. Seither war sie die Heimat unterschiedlichster religiöser, ethnischer und sprachlicher Gruppen.

Zwischen 1906 und 1908 führten die deutschen Archäologen Otto Rubensohn und Friedrich Zucker für die Königlichen Museen zu Berlin vor Ort Ausgrabungen durch und brachten zahlreiche Kisten mit Papyri und Ostraka, beschriebenen Tonscherben, nach Berlin. Allerdings waren die Deutschen nicht die einzigen, die sich für das reichhaltige Vorkommen antiker Schriften interessierten. Parallel fanden französische Grabungen statt, weswegen zahlreiche Elephantine-Papyri heute auch im Louvre lagern. Außerdem kaufte der amerikanische Orientreisende Charles Edwin Wilbour einen größeren Schatz von 150 Papyri-Boxen an, den seine Erben dem Brooklyn Museum in New York überließen. Heute befinden sich daher die größten Konvolute von Elephantine-Papyri neben Ägypten in Berlin, Paris und New York.

In solchen Kisten kamen die Papyri von der Nilinsel Elephantine zwischen 1906 und 1908 nach Berlin. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
In solchen Kisten kamen die Papyri von der Nilinsel Elephantine zwischen 1906 und 1908 nach Berlin. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
In solchen Kisten kamen die Papyri von der Nilinsel Elephantine zwischen 1906 und 1908 nach Berlin. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
In solchen Kisten kamen die Papyri von der Nilinsel Elephantine zwischen 1906 und 1908 nach Berlin. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich

„Aus all diesen Epochen ortspezifische Schriftquellen zu haben, ist sensationell“
„Etwa 80 Prozent der Elephantine-Papyri sind weder erforscht noch publiziert“, erklärt Verena Lepper. „Unser Projekt ist ein Wendepunkt in der Erforschung dieses riesigen Quellenschatzes.“ Nachdem es bereits 2012 ein kleineres, vom Bundesministerium für Kultur und Medien gefördertes Forschungsprojekt gab, in dem Lepper und ihr Team die entblätterten und verglasten Papyri in Berlin auswerteten, ist das neue Projekt deutlich größer gedacht: „Unsere Perspektive ist jetzt, mehrere tausend Papyri und Ostraka auszuwerten, die auf 60 Sammlungen in 23 Ländern, vorwiegend in Europa, verteilt sind.“ Dazu gehört auch die virtuelle „Entblätterung“ von zahlreichen Papyri, die seit über 100 Jahren im Depot des Archäolo- gischen Zentrums schlummern. Dies geschieht mittels modernster Technik wie der Computertomographie und mit der Unterstützung durch Physiker und Mathematiker. Es soll eine Art virtuelles Papyrus-Puzzle entstehen: Eine Datenbank, in der die Texte mit Übersetzungen, Metadaten und thematischer Verschlagwortung erfasst und öffentlich zugänglich gemacht werden. „Die Kollegen vom Louvre waren begeistert“, schwärmt Lepper, „und auch in New York hat man das Potential sofort erkannt.“

In Glas gefasster Papyrus von der Nilinsel Elephantine, im Depot des Archäologischen Zentrums (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
In Glas gefasster Papyrus von der Nilinsel Elephantine, im Depot des Archäologischen Zentrums (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich

Die wissenschaftliche Bedeutung Elephantines ist eminent: Zum ersten Mal lässt sich anhand von Textquellen eine nahezu kontinuierliche Kulturgeschichte eines einzelnen Ortes über vier Jahrtausende hinweg schreiben. „Wir haben Quellen vom Alten über das Mittlere und Neue Reich, die ägyptische Spätzeit und die griechisch-römische Zeit bis hin zur christlichen und arabischen Periode“, fasst die Ägyptologin zusammen –„aus all diesen Epochen Schriftquellen über einen bestimmten Ort zu haben, ist sensationell.“ Es lassen sich sogar Chronologien anderer Regionen durch die Daten aus Elephantine verifizieren: „Wir haben Mehrfach-Datierungen, wenn etwa persische, babylonische und ägyptische Daten angegeben werden. Das hilft uns bei der Erforschung der relativen wie absoluten, also auf konkrete Jahreszahlen abzielenden Chronologie enorm weiter“, erklärt Lepper.

In Glas gefasster Papyrus von der Nilinsel Elephantine, im Depot des Archäologischen Zentrums (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
In Glas gefasster Papyrus von der Nilinsel Elephantine, im Depot des Archäologischen Zentrums (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich

Medizin, Religion, Magie und Recht
Die Texte der Papyri zeichnen das Bild einer internationalen, überaus vielfältigen Gemeinschaft, die auf diesem Handelsstützpunkt in der Peripherie des Ägyptischen Reiches lebte – multiethnisch, multilingual, multireligiös. Insgesamt gibt es zehn Sprachen und Schriften, wie die Wissenschaftlerin erläutert: „Es beginnt mit der hieroglyphischen Schrift, die wir ansonsten aus Tempeln und Pyramiden kennen. Dann folgt unter anderem das Hieratische, eine Kursiv-Variante der Hieroglyphen; außerdem Demotisch, eine Art Kurz-Schrift, sowie das Aramäische, das im 5. Jahrhundert v. Chr. sehr verbreitet war. Später tauchen dann Griechisch und Koptisch, die Sprache der ägyptischen Christen, auf, bis uns schließlich das Arabische begegnet.“

Aramäisch ist nur eine der zahlreichen antiken Sprachen, die den Ägyptologen auf der Nilinsel Elephantine begegnen. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
Aramäisch ist nur eine der zahlreichen antiken Sprachen, die den Ägyptologen auf der Nilinsel Elephantine begegnen. (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich

Das Spektrum der Inhalte der Papyri und Ostraka reicht von der Medizin über Religion und Magie bis zu Rechts- und Alltagstexten oder Literatur. Besonders spannend ist für Verena Lepper, was die Texte über die sich wandelnde Rolle der Frauen auf Elephantine offenbaren: „Es gibt ein juristisches Schreiben aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., in dem eine Frau verfügt, dass nicht ihr Mann, sondern ihr Sohn aus erster Ehe ihr Vermögen erben soll. Diese Frau hat sich scheiden lassen“, betont Lepper. „Das Interessante daran ist, dass eine Frau nicht nur eigenen Besitz hat, sondern auch frei über ihn verfügen und sich sogar von ihrem Mann scheiden lassen kann. Dieser Grad an Eigenständigkeit war uns für diese Zeit zuvor nicht bekannt.“ Auch als Spender für Tempelbauten werden Frauen genannt – eine ebenso verblüffende historische Tatsache.

Lernen für die Gegenwart
Die Vergangenheit überrascht uns immer wieder“, sagt Verena Lepper, wenn man sie nach dem Mehrwert des Projektes außerhalb der Wissenschaften fragt. „Wir können viel aus ihr lernen – für die Gegenwart, aber auch für die Zukunft.“ Für die Orientalistin hat diese Erkenntnis einen starken Bezug zur aktuellen Situation der historischen Flucht und Migration: „Die Menschen damals hatten mit ganz ähnlichen Ängsten und Problemen zu kämpfen.“ Die Überzeugung, dass wir heute voneinander ebenso viel lernen können wie aus der Vergangenheit, motivierte die Orientalistin, sich für interkulturelle Verständigung und akademischen Austausch einzusetzen. „Ich engagiere mich seit Jahren für den deutsch-arabischen Wissenschafts- und Forschungsaustausch“, erklärt Lepper, „deswegen habe ich mich 2013 entschlossen, die AGYA für Wissenschaftler beider Kulturen ins Leben zu rufen.“ Die AGYA bringt 50 deutsche und arabische Nachwuchswissenschaftler verschiedenster Disziplinen aus derzeit 16 Ländern zusammen.

Mit der großzügigen Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die für die nächsten vier Jahre jeweils eine Million Euro Forschungsbudget vorsieht, kann die Akademie nach einer Aufbauphase nun mit der wissenschaftlichen Arbeit fortschreiten und jährlich bis zu 31 Forschungsprojekte durchführen. Neben interdisziplinären Forschungsfragen zwischen Geistes-, Natur-, Technik- und Sozialwissenschaftlern soll es aber auch darum gehen, wie die Forschungspolitik mit den Herausforderungen der aktuellen Fluchtkrise umgehen kann. „Wir können von den Erfahrungen unserer Kollegen aus der arabischen Welt profitieren, denn sie setzen sich mit dem Fluchtproblem bereits seit Jahren auseinander“, sagt Lepper. Ebenso engagiert sich AGYA zum Thema Kulturgüterschutz in Syrien und Ägypten, aber auch im Sudan. Ein Thema, das den Staatlichen Museen zu Berlin sehr am Herzen liegt – damit auch künftige Generationen die Chance haben, derartige Schätze der Vergangenheit zu erforschen.

Text: Sven Stienen
Fotos: Juliane Eirich
Dieser Beitrag erschien in der Museumszeitung der Staatlichen Museen zu Berlin, Ausgabe 2/2016.

Verena Lepper zeigt einen in Glas gefassten Papyrus von der Nilinsel Elephantine, im Depot des Archäologischen Zentrums (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich
Verena Lepper zeigt einen in Glas gefassten Papyrus von der Nilinsel Elephantine, im Depot des Archäologischen Zentrums (c) Staatliche Museen zu Berlin / Juliane Eirich

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