Provenienzforschung: Die Büste der Reitzensteins

Anlässlich des Internationalen Museumstags 2017 unter dem Motto „Spurensuche. Mut zur Verantwortung!“ haben wir im Zentralarchiv nachgefragt, wie dort mit der Verantwortung für die Provenienzen der Objekte umgegangen wird. Volontär Antonio Rogus erklärt einen typischen Vorgang.

Text: Antonio Rogus

„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!“, schreibt Alexander Freiherr von Reitzenstein 1933, „aus dem Besitz einer früher regierenden fürstlichen Familie soll die anliegend in Photo abgebildete lebensgroße Marmorbüste des Großen Kurfürsten verkauft werden.“ Das Schreiben vom 16. Dezember 1933 ging an Hermann Göring, dem damit die 97 cm große Marmorbüste des Großen Kurfürsten Friedrich-Wilhelm von Brandenburg zum Kauf angeboten wurde.

Auch wenn es nicht Hermann Göring war, so fand sich dennoch schnell ein Käufer für die Büste des Kurfürsten. Im Januar 1934 bewilligte Dr. Theodor Demmler, Leiter der Skulpturenabteilung des Kaiser-Friedrich-Museums (heute Bode-Museum) den Ankauf des Objekts für 2500 Reichsmark. Zur damaligen Zeit eine glückliche Erwerbung – aus heutiger Sicht jedoch äußerst kritisch zu betrachten, da nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 nicht mehr von einem freien Kunstmarkt gesprochen werden konnte.

Das ursprüngliche Anschreiben des Freiherrn von Reitzenstein.  © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv
Das ursprüngliche Anschreiben des Freiherrn von Reitzenstein. © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

So wurden vielfach Kunstwerke gehandelt und verauktioniert, die heute unter der Bezeichnung „NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“ zusammengefasst werden. Objekte aus Beschlagnahmungen und Zwangsversteigerungen jüdischer Sammlungen, aber auch Verkäufe durch jüdische Bürger selbst, um beispielsweise die „Judenvermögensabgabe“ oder die eigene Flucht ins Ausland finanzieren zu können. Selten wurden hierbei angemessene Preise erzielt, da die Besitzer unter finanziellem und politischem Druck schnell verkaufen mussten. Zahlreiche Kunstwerke gelangten unter diesen Umständen in deutsche Museen und verblieben dort auch bis nach dem Krieg – oder sogar bis heute.

Erst seit 1998, nach einer internationalen Konferenz in Washington, an der auch Deutschland teilnahm, wurde die Suche nach Kulturgut, das im Nationalsozialismus seinen rechtmäßigen Eigentümern entzogen wurde, verstärkt vorangetrieben. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat seitdem mehr als 350 Werke aus den Staatlichen Museen zu Berlin zurückgegeben. Solchen Restitutionen gehen in der Regel Forschungen zur Provenienz der Kunstwerke voraus.

Erste Anhaltspunkte in der Provenienzkette
Die Provenienzforschung ist am Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin angesiedelt, da hier die Aktenbestände der Staatlichen Museen, darunter Korrespondenzen zu Erwerbungen, Auktionen und Leihgaben von Kunstwerken, aufbewahrt und erschlossen werden. Und so begann hier auch die Recherche zu der um 1650 entstandenen Marmorbüste des Großen Kurfürsten Friedrich-Wilhelm von Brandenburg, die sich heute in der Skulpturensammlung im Bode-Museum befindet.

Aus dem eingangs erwähnten Schriftwechsel erfährt man, dass das Kunstwerk 1934 von Alexander Freiherr von Reitzenstein für 2500 Reichsmark an das Kaiser-Friedrich-Museum verkauft wurde und dass es sich vormals im Besitz der Familie von Sachsen-Weimar befand. Auch ein Blick in die Inventarbücher der Skulpturensammlung bestätigt dies. Der erste Anhaltspunkt in der Provenienzkette des Objekts ist somit vorhanden. Doch wer war Alexander Freiherr von Reitzenstein?

Die Familie Reitzenstein ist ein fränkisches Adelsgeschlecht, das sich bis ins späte Mittelalter zurückverfolgen lässt. Der Stammbaum der Familie reicht bis ins 20. Jahrhundert, auch der Name Alexander von Reitzenstein taucht darin auf, ein 1904 geborener Kunsthistoriker, der als Verkäufer der Büste des Großen Kurfürsten in Frage kommt. Die anfängliche Literaturrecherche ergab keine Hinweise auf ein Verfolgungsschicksal, der nächste Schritt war nun eine Überprüfung einschlägiger Datenbanken.

Friedrich-Wilhelm, der Große Kurfürst, Marmor, um 1650 (Skulpturensamlung und Museum für byzantinische Kunst) © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv
Friedrich-Wilhelm, der Große Kurfürst, Marmor, um 1650 (Skulpturensamlung und Museum für byzantinische Kunst) © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Ein verdächtiger Wiedergutmachungsantrag
Dazu gehört die Website lostart.de, betrieben vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Dort werden Suchmeldungen von Institutionen und Privatpersonen zu entzogenen oder kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern und auch Fundmeldungen ebensolcher veröffentlicht. Auch das in Los Angeles ansässige Getty Research Institute bietet über den Provenance Research Index® eine Datenbank deutscher Auktionskataloge, in der nach einzelnen Objekten gesucht werden kann, um mögliche Hinweise auf Vorbesitzer und Auktionsumstände zu erhalten.

Die Suche nach der Büste des Großen Kurfürsten war in diesen Datenbanken ergebnislos. Ein alarmierender Eintrag fand sich jedoch in der WGA-Datenbank des Landesarchivs Berlin, in der alle Wiedergutmachungsanträge verzeichnet sind, die nach dem Krieg von Geschädigten und Verfolgten bei den jeweiligen Behörden gestellt worden waren. Eine gewisse Josefine Freifrau von Reitzenstein stellte 1950 einen solchen Antrag auf Entschädigung für den Verlust von Verlagsanteilen, Möbeln und eben auch Kunstgegenständen. Durch die offensichtliche Familienzugehörigkeit zu Alexander von Reitzenstein geriet die Marmorbüste nun in Verdacht, verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu sein. Ein Besuch im Landesarchiv Berlin und die Einsicht der entsprechenden Wiedergutmachungsakten konnten diesen Verdacht jedoch nicht erhärten.

Josefine Freifrau von Reitzenstein, geborene Schoenfeld war mit Hans-Joachim Freiherr von Reitzenstein verheiratet, nach dessen Tod 1935 war sie politischen Anfeindungen ausgesetzt, verlor ihre Anteile an einem Verlag und musste auf Grund dieser finanziellen Einbuße Möbel und Kunstobjekte veräußern. In den beigefügten Objektlisten findet sich allerdings kein Hinweis auf die Büste des großen Kurfürsten und auch sonst keine Verbindung zu Alexander von Reitzenstein. Tatsächlich wurde Hans-Joachim Freiherr von Reitzenstein laut Wiedergutmachungsakte sogar ein „Ariernachweis“ ausgestellt, eine politische Verfolgung der Familie Reitzenstein scheint daher eher unwahrscheinlich.

Keine Hinweise auf Verfolgung
Nun besteht dennoch ein Restrisiko: So könnte Alexander Freiherr von Reitzenstein die Büste des Großen Kurfürsten doch von einer Person erworben haben, die zum Kreis der politisch oder ethnisch Verfolgten gehörte. Da sich das Objekt bereits am 16. Dezember 1933 in von Reitzensteins Besitz befand, hätte er dieses in den Monaten davor erwerben müssen. In den Unterlagen im Zentralarchiv ergibt sich eine Spur, die nach Weimar führt. Alexander von Reitzenstein schrieb, dass die Büste „Aus dem Besitz einer früher regierenden fürstlichen Familie“ stammte und Theodor Demmler merkte außerdem handschriftlich an, dass die Büste vormals im Weimarer Schloss ausgestellt war.

Eine Notiz von Dr. Theodor Demmler, 1934 © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv
Eine Notiz von Dr. Theodor Demmler, 1934 © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Ein Anfrage bei der Klassikstiftung Weimar, heute Eigentümer des Weimarer Stadtschlosses, ergab, dass sich die Büste nicht eindeutig identifizieren lässt, im Schloss allerdings sehr wohl eine größere Menge von Kunstobjekten aus dem Hause Sachsen-Weimar gelagert wurde. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass Alexander Freiherr von Reitzenstein die Büste des Großen Kurfürsten bei der Familie Sachsen-Weimar erworben oder durch familiäre Verbindungen erhalten hat. Hinweise auf ein Verfolgungsschicksal und unrechtmäßigen Entzug des Objektes konnten also nicht gefunden werden.

Das Beispiel dieser Marmorbüste aus der Skulpturensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin zeigt, dass Provenienzen von Kunstwerken selten komplett und lückenlos nachweisbar sind. Dokumente, die Besitzerwechsel belegen, sind oftmals nicht mehr vorhanden oder wurden vielleicht nie angefertigt und beteiligte Personen sind in vielen Fällen bereits verstorben. Die Provenienzforschung hat die Verantwortung, die Fakten so gut wie möglich zusammenzutragen, oft lassen sich daraus aber nur Wahrscheinlichkeiten und Schlussfolgerungen ableiten.

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