Taufbecken von Siena: „Sollbruchstellen der Wahrnehmung“
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In einer Sonderausstellung der Gipsformerei und der Skulpturensammlung ist im Bode-Museum das fünf Meter hohe Taufbecken von Siena zu sehen – als Gipsmodell
Text: Irene Bazinger
Das Bode-Museum ist 120 Jahre alt. Es wurde am 18. Oktober 1904 von Kaiser Wilhelm II. eröffnet und hieß damals noch Kaiser-Friedrich-Museum. Das riesige und verschachtelte Gebäude ist dank seiner räumlichen Komplexität immer wieder für eine Überraschung gut. Ab nun ist zum Beispiel die „Krypta“ neu zu entdecken, ein runder Raum tief unter der Kleinen Kuppel. Er wird in einigen Jahren den Übergang zur Archäologischen Promenade bilden. Dann werden die unzähligen Besucher*innen aus aller Welt, wenn sie das Bode-Museum betreten, als erstes an einem großen Modell aus Gips vorbeikommen, das seit Oktober 2024 in dieser Krypta aufgestellt ist. Dabei handelt sich um eine Nachbildung des Taufbeckens aus dem Baptisterium des Doms von Siena, und es fügt sich wunderbar in diese räumliche Konfiguration ein.
Veronika Tocha, Kuratorin in der Gipsformerei, realisierte zusammen mit Neville Rowley, Kurator für italienische Kunst vor 1500 in der Gemäldegalerie sowie für die Skulpturensammlung und das Museum für Byzantinische Kunst, die neue Dauerausstellung „Das Taufbecken von Siena. Geschichte, Restaurierung und Wiederaufstellung eines Gipsmodells“. In deren Rahmen steht dieser prächtige Abguss jetzt in der Krypta, über fünf Meter hoch, und hebt sich eindrucksvoll vom dunklen Hintergrund ab. Bisher war er, in 59 Einzelteile zerlegt, auf verschiedenen Regalbrettern gelagert, was den Aufbau rein höhenmäßig ungemein erschwerte: Würde er in die Krypta passen oder nicht?
„Wir hatten ein historisches Maß aus dem Verkaufskatalog, das aber nicht korrekt war, weil zu niedrig angegeben“, berichtet Veronika Tocha: „Dann haben wir die Höhe der Einzelteile ausgemessen und addiert. Und dann haben wir einen Probeaufbau in der Gipsformerei durchgeführt und vollständig gemessen. Außerdem kennen wir natürlich die Maße des Originals, denen das Gipsmodell eigentlich entsprechen sollte. Nichtsdestotrotz war es bis zuletzt spannend und erst vor Ort völlig klar.“ Denn am Schluss ging tatsächlich alles perfekt auf.
Die Gipsmodelle dienten der Repräsentation und der Bildung
Auch die Vorgeschichte ist nicht unkompliziert: 1875 unterschrieb der italienische Gipsformer Giuseppe Del Ricco einen Vertrag mit der preußischen Regierung, in dem er sich verpflichtete, das Taufbecken von Siena abzuformen und die Gussformen sicher nach Berlin zu bringen. Als Lieferfrist wurden zehn Monate vereinbart, das Honorar betrug 3.000 italienische Lire. Heutzutage würde man so etwas nicht mehr erlauben, erklärt Tocha: „Er musste ja um das Taufbecken seine Gipsstückformen wie ein 3-D-Puzzle bauen, und zwar eine Unmenge für dieses große Objekt. Wahrscheinlich wurde ihm auch gestattet, einzelne Figuren abzunehmen und separat abzuformen. Inzwischen ist derlei aus konservatorischen Gründen strengstens verboten. An den Originalen entstanden schließlich mitunter Schäden, manchmal brachen Teilchen ab und die Trennmittelrückstände, die einfach zum Abformungsprozess gehörten, konnten zu Korrosion führen.“
Davon wusste man damals nichts oder wollte nichts wissen. Denn die Sammelwut im 19. Jahrhundert war enorm. „Es gab quasi ein internationales Wettrennen darum, wer die meisten Exponate hat, das hat sich auch in den Gipsen gespiegelt. Die Berliner Museen besaßen in den 1880er-Jahren die weltweit größte Abgusssammlung. Für sie wurden in den 1880er-Jahren in Italien über 150 Werke der italienischen Renaissance abgeformt. In Griechenland wurden bei archäologischen Grabungen entdeckte Fundstücke gleich abgegossen. Auf diese Weise hatte man sofort ein Backup für die antiken Objekte, konnte sie sichern und interessierten Museen zugänglich machen.“ Dort dienten sie der Repräsentation wie der Bildung – letzteres in Zeiten geringer Mobilität und medialer Verbreitung ein nicht unerheblicher Aspekt der Akquise. So hoffte man, die ganze Kunstgeschichte in ausgewählten Exemplaren enzyklopädisch darstellen zu können. Deswegen störte es niemanden, dass man lediglich Kopien und keine Originale besaß. Manchmal wurden die Abgüsse – etwa von Johann Wolfgang von Goethe oder Johann Joachim Winckelmann – sogar höher geschätzt als die Originale, da sie durch den strukturlosen, weißen Gips keine Maserungen, Adern oder Verunreinigungen aufwiesen, nicht wie Marmor glänzten und so die reine Form ohne Lichtreflexe oder andere Oberflächenreize hervorhoben.
Durch den Abguss Original und Kopie besser wahrnehmen lernen
Durchaus bedenklich ist es, wie wenig es im Wettstreit der internationalen Akteure um inhaltliches Verständnis und absolute Originaltreue ging. Das hat Veronika Tocha in ihrem Arbeitsalltag erfahren: „Beachten Sie – die beiden Reliefs ‚Geburt des Johannes‘ und ‚Verkündigung an Zacharias‘ sind sowohl im Berliner Gipsmodell als auch in allen anderen Taufbeckenabgüssen, die nach Dresden, London, Pittsburgh und Budapest verkauft wurden, vertauscht worden. Dadurch beginnt die biblische Geschichte über das Leben des Johannes an der falschen Stelle, weil die Etappen der Bilderzählung durcheinander gebracht wurden. Dieser Fehler muss in der Berliner Gipsformerei passiert sein, obwohl da überaus präzise gearbeitet wurde und wird. Doch da ihn niemand bemerkte, wurde er systematisch weiter ‚reproduziert‘. Wir haben den Fehler im Team anhand der Recherchen am Objekt gefunden, durch den Abgleich mit Fotos des Originals.“
Die charakteristische Oberfläche der Gipse ist oft gelblich gefärbt. Diese Tönung entsteht durch die Behandlung mit Öl und Schellack, um die Gipse wasserdicht zu verschließen und zu härten. Das Taufbecken in der Krypta freilich weist allerlei blendend weiße Teile auf, seien es die Arme einer Figur auf den sechs Reliefs, seien es die Hände, das Knie oder die Flügel bei einem Engel oder, ganz oben als Krönung, der Sockel, auf dem Johannes der Täufer steht. Es sind dies die Lücken und Beschädigungen, die bei der Restaurierung behoben werden mussten, aber nicht kaschiert wurden, sondern deutlich gezeigt werden. Veronika Tocha bezeichnet sie als „Sollbruchstellen für die eigene Wahrnehmung“, die uns ermuntern, einerseits mithilfe des Abgusses genauer auf das Original zu schauen, andererseits den Abguss als historisches Werk eigenen Rechts und als Paradebeispiel handwerklicher Exzellenz anzuerkennen.
Monatelange Restaurierung als Spurensuche und Entdeckungsreise
Als die 2022 in der Gemäldegalerie eröffnete Ausstellung „Donatello. Erfinder der Renaissance“ vorbereitet wurde, kam das Taufbecken-Modell wieder ins Bewusstsein. Donatello wirkte nämlich mit fünf anderen Künstlern am Original mit, das zwischen 1416 und 1434 entstand. Er schuf dafür ein Relief („Fest des Herodes“), zwei Allegorien („Glaube“ und „Hoffnung“) sowie drei der sechs geflügelten kleinen Putti. Eines dieser Engelchen, „Putto mit Tamuburin“ (1429), war vermutlich schon im 17. Jahrhundert nicht mehr an seinem Platz. Insofern hinterließ es auch bei der Berliner Kopie eine Leerstelle. Wilhelm Bode entdeckte es bei einem Kunsthändler in London, kaufte es und schenkte es 1902 den Berliner Museen. Sein Blick war geschult am Abguss, deswegen war ihm sofort klar, dass es sich bei diesem bisher unidentifizierten Objekt um Donatellos „Putto mit Tamburin“ handeln musste, was den vorherigen Besitzer*innen offenbar entgangen war. Durch die lange Zeit seines Verschwindens hatte sich allerdings der Eindruck verfestigt, es wäre ein Einzelstück, das für sich allein stehen solle, dabei war es für den Kontext des Taufbeckens gedacht und ist nur in diesem ästhetisch adäquat zu würdigen.
Dies lässt sich jetzt in der Dauerpräsentation nachholen, denn dank der Kooperation zwischen Skulpturensammlung und Gipsformerei ist in einer Vitrine auch die originale, knapp 40 Zentimeter hohe Bronzestatuette zu bewundern, deren Kopie ins Ensemble des Taufbeckens eingefügt wurde.
Ehe dies geschah, musste das Gipsmodell nach den Jahren der wechselnden Lagerungen aufwändig restauriert werden. Rund zehn Monate arbeitete die Restauratorin Aurelia Badde daran, die ihren Aufsatz im Katalog zu dieser Ausstellung mit dem Satz anfängt: „Jedes Restaurierungsprojekt ist eine Spurenfindung und Entdeckungsreise.“ In deren Zuge wurden wesentliche Elemente der Entstehungs-, Herstellungs- und Nutzungsgeschichte eruiert. Ermöglicht wurde dies durch die finanzielle Hilfe der Ernst von Siemens Kunststiftung. Und nun prunkt das Taufbecken als bei aller zierlichen Anmutung imposanter Gipsabguss im auratischen Dunkel der Krypta, kann von allen Seiten besichtigt werden und verweist mit dem Bronze-Putto galant auf das Original in Siena. Zwei Grabplatten, die sich bereits in der Krypta befanden, wurden hier belassen, sie verstärken den sakralen Charakter, der mit dem Taufbecken unweigerlich verbunden ist. Auf der Empore darüber ist dessen Geschichte dokumentiert, samt einer Diashow von Fabian Fröhlich und einem Film über die Restaurierung und den Aufbau im Bode-Museum.
Schon früh wurden Abgüsse der Reliefs, Allegorien und Figuren des Taufbeckens von der Gipsformerei zum Kauf angeboten. Dies geschieht auch heute noch, erweitert aus Anlass der Ausstellung um einen neuen Teilabguss des Taufbeckens. Dieser sportello – eine kleine vergoldete Bronzetür an der Rückseite des Tabernakels – zeigt ein Relief von Giovanni di Turino mit der Muttergottes und dem Christuskind. Es ist schön. Es ist wahr. Und es ist aus Gips!
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