Von Mexiko nach Guatemala – die Anfänge der zentralamerikanischen Archäologie
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Von Oktober 1895 bis Mai 1897 bereiste das Ehepaar Caecilie und Eduard Seler Mexiko und Mittelamerika. Ihre Forschungserkenntnisse schufen einen Grundstein für die Altamerikanistik.
Text: Ulrich Wölfel
Eduard Seler (1849-1922) gilt als einer der Gründerväter der Altamerikanistik. Sein Forschungsschwerpunkt lag auf jenem Kulturraum, der später von Paul Kirchhoff „Mesoamerika“ genannt werden sollte, und der herausragende mexikanische wie zentralamerikanische indigene Kulturen wie die Azteken und Maya umfasst. Zusammen mit seiner Frau Caecilie Seler-Sachs (1855-1935) unternahm Eduard Seler insgesamt sechs ausgedehnte Forschungsreisen, die das Forscherpaar überwiegend nach Mexiko, aber auch in benachbarte Länder wie Guatemala führten. Caecilie war dabei weit mehr als eine bloße Begleiterin: Sie übernahm sämtliche fotografische Dokumentation und stellte ethnographische Beobachtungen an, die sie in Form von Reiseberichten publizierte.
Von Oktober 1895 bis Mai 1897 befanden sich die Selers auf ihrer zweiten und längsten Reise, die sie von Mexiko-Stadt aus hinunter zum Isthmus von Tehuantepec und weiter nach Guatemala führte. Großzügig gefördert durch Joseph Florimond, Herzog von Loubat, war Eduard Seler für die Dauer der Reise von seiner Anstellung als Direktorialassistent am Königlichen Museum für Völkerkunde in Berlin (heute: Ethnologisches Museum) beurlaubt worden, um sich ganz der Forschung zu widmen. Selers Interesse war breit gefächert. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den indigenen Sprachen – er wurde 1887 mit einer Dissertation über das Verbalsystem der Mayasprachen promoviert – und der in ihnen angefertigten Literatur,sowohl in lateinischer Schrift, als auch in Form von indigenen Bilderhandschriften, etwa aus Zentralmexiko und Oaxaca. Zudem hatte er großes Interesse an der Archäologie, besuchte auf seinen Reisen wichtige Stätten, um sich ein Bild vor Ort zu machen und trug Sammlungen archäologischer Objekte für das Berliner Museum zusammen. Überdies legte er auf seinen Reisen umfangreiche Herbarien für den Berliner Botanischen Garten an.
Das Sammeln archäologischer Objekte war für Seler insofern bald unbefriedigend, als dass er sich mangels Grabungsgenehmigung seitens der mexikanischen Autoritäten mit dem Ankauf von Objekten ungesicherter Herkunft begnügen musste. Diese waren zwar oftmals ästhetisch ansprechend, jedoch undokumentiert aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und deshalb für die damals sich entwickelnde wissenschaftliche Disziplin der Archäologie von geringem Wert. Da Seler im damaligen Chef der mexikanischen Altertümerverwaltung, Leopoldo Batres, einen starken Gegenspieler hatte, der ihm die Durchführung eigener Grabungen untersagte, lag seine Hoffnung auf Guatemala, wo die Verhältnisse vielleicht günstiger wären.
Im „Reich“ von Gustavo Kanter
Tatsächlich traf Seler bald nach Grenzübertritt auf einen deutschstämmigen Großgrundbesitzer, Gustavo Kanter, der sich in der nordwestlichen Ecke des guatemaltekischen Hochlandes sein kleines Reich um die Finca Chaculá herum aufgebaut hatte (Abbildung 1). Im Zuge der „liberalen Reformen“ in den 1870er Jahren wurde großflächig indigenes Land enteignet und günstig zum Verkauf angeboten, was auch viele Europäer anlockte. So gab es viele Deutsche, die Zuckerrohrplantagen an der Pazifikküste oder Kaffeeplantagen in höheren Lagen betrieben.
Kanter selbst baute in den 1870er Jahren im Departement Retalhuleu im Süden Guatemalas Kaffee an, bevor er zu Beginn der 1890er Jahre nach Chaculá umsiedelte, da er sich hier ungehindert größere zusammenhängende Ländereien aneignen konnte, stets auf ein reiches Erbe für seine zahlreichen Kinder bedacht. In Retalhuleu machte er auch kurz Bekanntschaft mit Adolf Bastian, dem Gründungsdirektor des Königlichen Museums für Völkerkunde. Bastian war 1876 auf Amerikareise, die ihn von Chile nach Guatemala führte, und hatte kurz zuvor den Ort Santa Lucía Cotzumalhuapa besucht, wo er zahlreiche Steinmonumente vorfand, die er in den kommenden Jahren nach Berlin abtransportieren ließ. Dagegen mussten die kleinen Gelegenheitsfunde, die Kanter ihm überließ – Bruchstücke verzierter und modellierter Keramik, die auf den Plantagen aufgelesen wurden – eher unbedeutend erscheinen. Dennoch wurden auch diese nach Berlin gebracht und sorgsam inventarisiert.
Nicht zuletzt auch aufgrund dieses vorigen Kontakts mit einem Vertreter des Berliner Museums und Kanters mittlerweile gestiegenem Interesse an Altertümern, waren die Selers willkommene Gäste und Kanter gab gerne die Erlaubnis für Ausgrabungen auf seinen Ländereien. Ein als Gastgeschenk während des ersten, kurzen Besuchs über die Osterfeiertage 1896 überreichtes Räuchergefäß erregte Eduard Selers besondere Aufmerksamkeit (Abbildung 2). Es wollte mit seinem eigenartigen Stil so gar nicht in sein Bild der „klassischen“ Mayakultur passen, so dass er sich im ersten Überschwang der Begeisterung auf der Spur einer bislang unbekannten Kultur wähnte. Von Guatemala-Stadt aus unterrichtete er Adolf Bastian postalisch von seiner Entdeckung und fügte gleich ein Foto des Gefäßes bei, das er „einer Urbevölkerung […], die vielleicht den Mixe und den Zoque verwandt ist“ zuschrieb. Später erkannte er jedoch den lokalen Stil als einer Maya-Gruppe zugehörig an.
Reibungspunkte mit dem Großgrundbesitzer
Nachdem sich Eduard Seler eine Verlängerung seiner ursprünglich nur bis Oktober 1896 geplanten Freistellung bis Mai 1897, sowie zusätzliche Finanzmittel gesichert hatte, konnten die Arbeiten vor Ort in der zweiten Junihälfte 1896 anlaufen. Zunächst wurden Stätten besichtigt und Kartenskizzen angefertigt. Für die Ausgrabungen rekrutierten die Selers Arbeiter in den Dörfern von El Aguacate, Yuxquen und Subajasun. Dabei ging der Lohn jeweils an die Dorfvorsteher, denn, so berichtet Caecilie Seler, „die Gemeinden leben in gewisser Weise kommunistisch, die Arbeit gehört der Gemeinde und der Alcalde [=Dorfvorsteher] bestimmt, welche Leute sie zu thun haben“. Aufsicht über die Arbeiten führte Kanters ehemaliger Vorarbeiter, Antonio Romero. Abgesehen von dieser Information bleibt die indigene Bevölkerung der Region in den Berichten der Selers jedoch anonym und hat nur kurze Auftritte in Caecilies ethnographischen Beschreibungen, sowie als Stichwortgeber für ein kleines von Eduard aufgezeichnetes Vokabular des Chuj. Diese zur Familie der Mayasprachen gehörige Sprache ist im nordwestlichen Hochland von Guatemala verbreitet.
Auch wenn die Selers insgesamt wohl ein gutes Verhältnis zu Kanter pflegten, so gab es doch immer wieder Reibungspunkte: Vor einem Ausflug nach Yalambojoch, östlich von Chaculá gelegen, machte Kanter Caecilie klar, dass er „nicht mit Damen ritte“, woraufhin Eduard und Kanter voraus ritten und Caecilie erst in einigem Abstand folgte. Es entging ihnen auch nicht die schlechte Behandlung der indigenen Arbeiter auf Kanters Finca. Caecilie prangerte diese Umstände später in ihrem Reisebericht als der Sklaverei ähnlich an. Wie aus Akten im Archivo General de Centroamérica in Guatemala Stadt hervorgeht, ging Kanters Unterdrückung der indigenen Bevölkerung so weit, dass er 1913 zwei Dörfer, El Aguacate und Yuxquen, niederbrennen ließ, um die Anwohner von dem Boden zu vertreiben, den er als sein rechtmäßiges Eigentum ansah. Diesmal war Kanter jedoch zu weit gegangen. Eine Gruppe um Gaspar Paiz aus El Aguacate wurde in Guatemala-Stadt vorstellig und erreichte die Besetzung der Finca Chaculá durch das guatemaltekische Militär. Kanter musste fliehen und verbrachte seine letzten Jahre auf der anderen Seite der Grenze, in Chiapas.
Zu den wichtigsten von den Selers untersuchten Fundorten zählen die Höhlen von Quen Santo (Abbildung 3), unweit der Grenze zu Chiapas. Diese waren in vorspanischer Zeit rituell genutzt worden und bargen größere Mengen an kunstvoll verzierten Keramikgefäßen, sowie Steinskulpturen. In eine der Höhlen war sogar ein kleines Gebäude als Allerheiligstes gebaut worden (Abbildung 4). Einige Jahre vor dem Besuch der Selers hatte allerdings bereits Kanter mit Arbeitern seiner Finca einen Großteil der Objekte aus den Höhlen entfernt, ein Umstand, den Eduard Seler als „planlose Plünderung“ bedauert. Es ist Seler zu verdanken, dass mit Hilfe seines Begleiters, Antonio Romero, eine grobe Skizze angefertigt wurde, die die Anordnung der wichtigsten Objekte im Inneren des Gebäudes dokumentiert (Abbildung 5). Eines davon war das von Kanter beim ersten Besuch übergebene Räuchergefäß. Die Forschungen in Chaculá und Umgebung liefen für die Selers äußerst erfolgreich: Auf einem kurz nach Rückkehr in Berlin gehaltenen Vortrag bezeichnete Eduard Seler den Aufenthalt als „die dankbarste und erfreulichste Zeit unserer ganzen Reise“.
Erforschung der Sammlung
So sehr Eduard Seler an aus bekanntem Kontext geborgenen Objekten interessiert war, so lückenhaft ist doch letztlich seine Dokumentation der in verschiedenen Stätten vorgenommenen Grabungen. Die zum Teil heute noch offenliegenden Grabungsschnitte zeugen von einer robusten Vorgehensweise, bei der Gebäude mittig aufgegraben wurden, in der Hoffnung, reiche Gräber zu finden (Abbildung 6). Dass keine Abfolge von Schichten dokumentiert wurde, liegt nicht nur an der mangelnden Grabungserfahrung Selers und der sich damals noch entwickelnden Disziplin der Amerikanischen Archäologie, sondern, wie aktuelle Forschungen vor Ort gezeigt haben, auch an der kurzen vorspanischen Besiedlungsdauer in diesem Teil Guatemalas.
Eine Spurensuche in Berlin führte zunächst in den Teilnachlass, der sich im Ibero-Amerikanischen Institut befindet. Hier gibt es zu den Forschungen in der Chaculá-Region Zeichnungen und Photographien, von denen die meisten aber bereits von Seler selbst veröffentlicht worden sind. Leider sind etwaige Aufzeichnungen aus dem Feld, wie Skizzen oder Forschungstagebücher, heute nicht mehr erhalten. Im Ethnologischen Museum Berlin befindet sich eine mehr als 13.000 Katalognummern umfassende Sammlung archäologischer Objekte, die von den Selers auf ihren Reisen zusammengetragen wurden. Neben den Objekten ist hier auch die Dokumentation in Form von Papieretiketten auf den Objekten selbst, sowie der zugehörigen Karteikarten und Katalogeinträgen, von Bedeutung. Darüber hinaus enthalten die Akten des Museums die Briefwechsel zwischen Seler und seinen Vorgesetzten und Kollegen, sowie Dokumente, die Aufschluss über den Erwerbsvorgang der Sammlungsobjekte geben. Andere Anlaufstellen sind das Botanische Museum, das Reste der Herbarien bewahrt, von denen nur wenige den verheerenden Brand im zweiten Weltkrieg überstanden haben, sowie das Museum für Vor- und Frühgeschichte, wo sich eine Sammlung von Schädeln aus einer Höhle nahe der archäologischen Stätte Uaxac Canal befindet, die als Teil der sogenannten „S-Sammlung“ (das „S“ steht für Schädel) des bekannten Anthropologen Felix von Luschan eine abenteuerliche Reise durch unterschiedliche Institutionen überstanden hat.
Neubewertung von Selers Ergebnissen
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dank der umfassenden Dokumentation die Provenienz der archäologischen Objekte und ihre Erwerbsgeschichte bekannt sind. Daher rückte im nächsten Schritt die Untersuchung und Auswertung der Funde selbst in den Vordergrund. In gewisser Weise war dies die Fertigstellung des von Seler begonnenen Projektes. Hierzu passte auch, dass im Magazin des Ethnologischen Museums 44 Kartons mit bis dato nicht katalogisierten Keramikscherben und modellierten Stuckfragmenten geduldig auf ihre Erstbearbeitung warteten. Glücklicherweise trug die große Mehrheit davon noch die kleinen Papieretiketten mit fortlaufender Nummer und Fundort, die die Selers im Feld sorgsam aufgeklebt hatten. So konnten die Scherben sicher zugeordnet werden.
Zu Selers Zeit waren heute gängige Artefakt-Typologien in der Altamerikanistik noch nicht entwickelt und selbst grundlegende Fragen wie eine chronologische Einordnung von Funden konnten damals nicht beantwortet werden. Zwar war es Eduard Seler möglich, die Daten in der sogenannten „langen Zählung“ der Maya, die sich auf zwei Stelenbruchstücken aus dem nahe Quen Santo gelegenen chiapanekischen Ort Sacchaná befinden, relativ zu damals bekannten Inschriften einzuordnen (es zeigte sich, dass sie relativ spät sein mussten), jedoch war die absolute chronologische Einordnung, die Korrelation mit unserem heutigen Kalender, noch nicht möglich.
Um den Kontext der Selerschen Untersuchungen in den verschiedenen archäologischen Stätten besser zu verstehen und die nach Berlin verbrachten Artefakte besser einordnen zu können, wurde vor Ort in Guatemala ein archäologisches Projekt ins Leben gerufen, das – gefördert von der Deutschen Altamerikastiftung – von 2013 bis 2018 in fünf Feldforschungen die von Seler besuchten Stätten lokalisierte, ihren aktuellen Zustand dokumentierte, neue präzise Karten für die zwei wichtigsten davon, Chaculá und Quen Santo, anfertigte und, diesmal mit offizieller Genehmigung des guatemaltekischen Ministeriums für Kultur und Sport, Ausgrabungen durchführte. Insbesondere für das Verständnis der Chronologie waren diese Arbeiten von großem Wert.
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