Provenienzforschung:

Biografien der Objekte: Wer war Douwe Remmerssen?

Brief von Douwe Remmerssen an Paul Ortwin Rave, 31. März 1939 © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

1939 erwarb die Nationalgalerie für die „Sammlung der Zeichnungen“ zwei Werke des Künstlers Jakob Philipp Hackert. Ihr Verkäufer war ein Rechtsanwalt namens Douwe Remmerssen aus Riga. Ein Streifzug durch die Archive lüftete Stück für Stück seine Identität.

Text: Hanna Strzoda, Provenienzforscherin am Zentralarchiv

Anfang 1939 erhielt Paul Ortwin Rave, der Direktor der Nationalgalerie, Besuch von einem Herrn aus Riga, der gerade in Berlin weilte. Er stellte sich als Douwe Remmerssen vor und bot ihm eine Zeichnung von Jakob Philipp Hackert, einem Maler des deutschen Klassizismus, zum Kauf an. Er habe sie aus „gräflich Manteuffelschem Besitz“ in Estland erworben. Rave wollte die Zeichnung haben, obwohl dies für ihn bedeutete, einige bürokratische Hürden beim Zoll überwinden zu müssen. So gelangte die „Landschaft mit Felsgrotte (Das Ohr des Dionysos) bei Syrakus“ in die „Sammlung der Zeichnungen“, die damals zur Nationalgalerie gehörte.

Jakob Philipp Hackert, Landschaft mit Felsgrotte (Das Ohr des Dionysos) bei Syrakus, 1777 © bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Reinhard Saczewski
Brief von Douwe Remmerssen an Paul Ortwin Rave, 31. März 1939 © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Ein paar Wochen später schrieb Remmerssen Rave einen Brief aus seiner lettischen Heimatstadt: Er habe noch ein weiteres Hackert-Blatt, das er ihm anbieten könne. Obwohl Rave diese Zeichnung sogar noch besser fand, als die erste, lehnte er bedauernd ab. Die Zollabwicklung sei ihm beim letzten Mal etwas zu kompliziert gewesen. Ende des Jahres allerdings konnte Rave die „Steinbrücke im Schweizer Hochgebirge“ doch noch als Neuerwerbung ins Inventarbuch eintragen lassen: Remmerssen war mitsamt der Zeichnung nach Berlin umgezogen. Seine Adresse lautete nun: „z. Zt. Berlin, Auswärtiges Amt“.

Brief von Paul Ortwin Rave an die Überwachungsstelle für Papier, 2. Februar 1939 © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Eine widersprüchliche Biographie

Diese Erwerbungsgeschichte warf eine Menge Fragen auf. Zuallererst: Wer war eigentlich dieser Douwe Remmerssen? Wieso zog er nach Berlin und was machte er am Auswärtigen Amt? Ist diese Behörde nicht auch in den nationalsozialistischen Kunstraub verwickelt und handelte Remmerssen bei diesem Verkauf etwa qua Amt? Um Antworten darauf zu finden, begann ich meinen Streifzug durch die Archive. Denn womöglich handelte es sich hier um einen NS-verfolgungsbedingten Verkauf? Es folgten langwierige Recherchen, die diese Sorge am Ende entkräfteten, aber eine unbedingt erzählenswerte Geschichte enthüllten. Sie ist verblüffend und widersprüchlich, scheint fast schon paradox: Seit November 1939 arbeitete Remmerssen als Dolmetscher am Auswärtigen Amt. Einige Zeit später wurde er zum „Sonderkommando Künsberg“ berufen und nahm an den Beutezügen in Osteuropa teil, die diese Sondereinheit durchführte. Plötzlich wendete sich für Remmerssen das Blatt: Man entdeckte, dass er homosexuell war. Postwendend warf man ihn aus der Partei und inhaftierte ihn im SS-Straflager Dachau. War er also zugleich Täter und Opfer? Ein Feind in den eigenen Reihen?

Dolmetscher am Auswärtigen Amt

Remmerssen erblickte am 27. Oktober 1904 in Moskau das Licht der Welt. Seine deutsch-baltischen Eltern ließen ihn evangelisch taufen. Als Jugendlicher zog er mit ihnen nach Riga. Nachdem er an verschiedenen europäischen Universitäten Jura studiert hatte, eröffnete er in Riga seine eigene Anwaltskanzlei. 1939 spielte er mit dem Gedanken, nach Deutschland zu ziehen. Er reiste mehrmals nach Berlin – einer dieser Aufenthalte führte ihn in Raves Museumsbüro – um die Lage zu sondieren. Schließlich war es beschlossene Sache: Im November 1939 packte er seine Sachen und zog nach Berlin.

Paul Ortwin Rave, Juni 1949 © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Schnell und unkompliziert erhielt Remmerssen die deutsche Staatsbürgerschaft. Schließlich gehörte er zu den „Baltenaussiedlern“, die die Nationalsozialisten als die ihrigen zurück ins Deutsche Reich holen wollten. Remmerssen beantragte flugs die Aufnahme in die NSDAP. Als baltischer Rechtsanwalt erhielt er keine Zulassung für eine eigene Kanzlei. Er hätte zwar mit einer Umschulung Richter werden dürfen, fand aber beim Auswärtigen Amt eine besser bezahlte Stelle. Wegen seiner perfekten Kenntnisse des Deutschen, Russischen, Lettischen, Englischen und Französischen war er ein gefragter Mann.

Karriere im Nationalsozialismus

Seit jeher Kosmopolit, machte Remmerssen ab 1940 im Auftrag des Auswärtigen Amts viele Dienstreisen. Zuerst begleitete er eine Abordnung des Reichspostministeriums nach Moskau. Von September 1940 bis Januar 1941 war er als Übersetzer einer deutsch-sowjetischen Regierungsdelegation wieder in seiner alten Heimat Riga. 1941 wurde er zum „Sonderkommando Künsberg“ berufen. Diese Einheit unterstand zunächst dem Auswärtigen Amt, später dem Führungshauptamt der Waffen-SS und seit Frühjahr 1942 der „Leibstandarte Adolf Hitler“. Die Brigade konfiszierte im Auftrag der Regierung systematisch Kunst und Kulturgut in den Ostgebieten. Remmerssen nahm an einem Beutezug über Kiew und Taganrog in den Kaukasus teil.

Das Auswärtige Amt an der Wilhelmstraße, 1937 © Bundesarchiv Berlin, Bild 183-C11812 / CC-BY-SA 3.0

Noch bevor das Bataillon im September 1943 aufgelöst wurde, entließ man Remmerssen infolge Personalabbaus aus dem „Sonderkommando“ und schlug ihm vor, stattdessen die Leitung der Dolmetscher-Abteilung des wissenschaftlichen Arbeitsstabs der Waffen-SS zu übernehmen. Remmerssen sagte zu. Von Februar bis Juni 1944 arbeitete er als SS-Untersturmführer beim „Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle“ im Bereich der „Festigung deutschen Volkstums“ und „ethnischen und rassischen Neuordnung Europas“. Marseille war sein neuer Standort, seine Dienststelle das deutsche Konsulat. Dort unterstützte er die Rückführung von in Frankreich lebenden Volksdeutschen in vaterländische Gefilde. „Heim ins Reich!“ lautete die Parole.

Die Kehrtwende

Remmerssens Leben nahm im Sommer 1944 eine drastische Wendung. Man zeigte ihn wegen „homosexueller Betätigung“ und „wehrkraftzersetzenden Äußerungen“ an. Er wurde aus der Partei entlassen. Die Gestapo verhaftete ihn in Marseille, brachte ihn nach Paris und verurteilte ihn dort zu zehn Jahren Zuchthaus. Die Haft trat er im SS-Straflager Dachau an. Im April 1945 musste er sich einer Augenoperation unterziehen. Dazu wurde er in ein Krankenhaus nach München gebracht, wo er das Kriegsende erlebte. Sofort fand er eine Stelle als Übersetzer in der Münchner Stadtverwaltung. Sobald es ihm möglich war, fuhr er nach Berlin, um sein Hab und Gut aus der alten Wohnung nach München zu holen. Dort angekommen stellte er fest, dass sein Berliner Wohnhaus durch einen Bombentreffer komplett zerstört worden war. Seine Wertgegenstände hatte er 1944 vorsorglich aufs Land ausgelagert. Dort hatte sie die sowjetische Besatzungsmacht beschlagnahmt und nach Russland verbracht. Er kehrte also mit leeren Händen nach München zurück.

Die Nachforschungen zu Remmerssens weiterem Leben in der Nachkriegszeit führten mich sogar bis ins Archiv der CIA, denn seit November 1948 arbeitete er als Übersetzer beim „Communication Intelligence Service“ in München. 1950 bis 1952 war er Rechtsberater der Flüchtlingsorganisation „International Refugee Organization“. Seit 1957 betätigte er sich als Lehrer an der Bundeswehrfachschule und am Münchner Goethe-Institut, bis er 1970 in Ruhestand ging.

In den Spruchkammerverfahren zur „Entnazifizierung“ Deutschlands wurde er als „Mitläufer“ eingestuft. Er sollte einen „Sühnebetrag“ von 300 Mark in einen Wiedergutmachungsfond entrichten. Gegen dieses Urteil legte er mit Hinweis auf seine Haft in Dachau Widerspruch ein. Das Verfahren wurde neu aufgerollt und 1951 eingestellt.

Jakob Philipp Hackert, Steinbrücke im Schweizer Hochgebirge, 1778 © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz

Der Verkauf der Hackert-Zeichnungen

Was bedeutet nun dies alles für die beiden Hackert-Zeichnungen, die Remmerssen 1939 an die Nationalgalerie verkaufte? Remmerssen zog als Deutsch-Balte freiwillig nach Berlin, lange vor der deutschen Besatzung Lettlands. Erst geraume Zeit nach dem Verkauf der Zeichnungen wurde er als gutbezahlter Mitarbeiter deutscher Behörden zum Beteiligten am nationalsozialistischen Kunstraub, weitere Jahre später selbst zum Verfolgten. Er trennte sich also 1939 kaum aus existenzieller Not von den Kunstwerken, die er selbst aus altem estländischen Adelsbesitz erworben hatte. Nichts deutet auf einen Unrechtskontext hin. Umso fesselnder ist die Geschichte hinter den Bildern. Sie erzählt von einem Mann, der als NS-Funktionär und Verfolgter zwei Seiten faschistischer Willkür kannte.

Dieser Beitrag ist Teil einer Reihe anlässlich des 2. Tags der Provenienzforschung, einer Initiative des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V. Der Aktionstag am 8.4.2020 soll darauf aufmerksam machen, wie wichtig die Entschlüsselung der Objektbiografien auf wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene ist. Aufgrund der Coronakrise werden viele der geplanten Aktionen nun in den digitalen Bereich verlegt. Auf Twitter wird der Hashtag #TagderProvenienzforschung den Aktionstag begleiten. Kontakt zu Fragen der Provenienzforschung der Staatlichen Museen zu Berlin: provenienzforschung@smb.spk-berlin.de

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