Depotfund: Herrscher im Halbdunkel
Die Kolleginnen und Kollegen vom Ethnologischen Museum in Dahlem staunten nicht schlecht, als sie im Zuge des Wechsels ins Humboldt-Forum auch in vergessene Ecken ihrer Depots vordrangen. Was sie dort fanden, ist gelinde gesagt eine Sensation.
Derzeit werden sämtliche Objekte des Ethnologischen Museums für den Umzug vorbereitet – von den Highlights der Dauerausstellung bis zu den eingelagerten Artefakten. Dafür werden die Objekte gesichtet, katalogisiert und, falls nötig, mit speziellen restauratorischen Maßnahmen umzugsbereit gemacht. Bei einem routinemäßigen Gang durch ältere Bereiche des Depots im Keller des Museums machten die Restaurierungs-Fachleute nun eine Entdeckung, die sie so schnell nicht vergessen werden.
„Schon kurz nachdem wir in den Bereich C14 vorgedrungen waren, merkten wir, dass etwas nicht stimmte“, erinnert sich die Restauratorin Petra S. Die Forscher fanden seltsame Strukturen aus Holz, Metall und Textilien in den Gängen. „Als hätte jemand sich hier unten einen Unterschlupf gebaut“, so S. weiter. Auch die Ordnung der Objekte war völlig durcheinander, nichts war mehr an seinem Platz. So fanden sich etwa plötzlich unter den eingelagerten Auslegerbooten aus Ozeanien auch Einbäume aus Zentralafrika und zwischen den pazifischen Reliefmeißeln tauchten präkolumbische Dreschflegel auf. Als die Gruppe in der Nähe der madagassischen Kult-Kuppeln auf kleine Häufchen aus Knochen und Unrat traf, war ihnen klar, dass hier etwas Ungewöhnliches vorging.
Schlechte Sichtverhältnisse, ungewöhnliche Geräusche
„Nachdem wir die Regalreihen 1-56x.A und .B passiert hatten, in denen ziselierte Objekte aus Äquatorialguinea und südsimbabwische Zargen lagern, hörten wir plötzlich seltsame Geräusche“, erinnert sich S.. Die Forscherin und ihre KollegInnen beschreiben die Laute als ein „eigentümliches Schnarren, das in regelmäßigen Abständen von hölzernem Klappern unterbrochen wurde.“ Die Ethnologen drangen weiter in die Flure vor, die in diesem Bereich des Depots in stetigem Halbdunkel liegen. „Die schlechten Sichtverhältnisse machten uns zu schaffen“, so S., „zudem wurden die beunruhigenden Geräusche lauter und es lag ein sonderbarer, staubig-würziger Geruch in der Luft.“
Als die Gruppe bei Sektion 68-B/AA 53 a um die Ecke bog, offenbarte sich ihnen plötzlich der Ursprung all der ungewöhnlichen Phänomene hier im Depot: Ein älterer Mann saß im Schneidersitz vor ihnen auf dem Boden und arbeitete an mehreren patinierten Holzobjekten.
„Große Teile der Geschichte neu schreiben“
„Wir waren völlig baff“, reminisziert S., „und wussten zunächst nicht, was zu tun ist.“ Der Mann, so erinnert sie sich weiter, trug einen altmodischen weißen Kittel, zerschlissene Gummihandschuhe und – soweit es in dem von schulterlangen grau-weißen Haaren und leicht verwachsenem Vollbart gerahmten Gesicht zu erkennen war – eine Brille mit Kassengestell. „Was mir sofort auffiel, war der Kugelschreiber in der Brusttasche“, schildert S. weiter. „Ich konnte ihn spontan auf die zweite Hälfte der 1970er Jahre datieren.“
Der geheimnisvolle Depotbewohner schaute die Museumsfachleute überrascht an und erhob sich. „Die tartarischen Schöpfkellen sind fertig“, sagte er, und weiter: „Meine Damen und Herren, wir werden große Teile der Geschichte neu schreiben müssen!“
Nachdem die Fachleute ihren „Depotfund“ ans Tageslicht gebracht hatten, stellte sich bei einem Kaffee in der Dahlemer Museumsgastronomie „eßkultur“ heraus, dass es sich um den vor 39 Jahren verschwundenen Mitarbeiter Dr. Manfred B. handelt. B. hatte nach einer Spätschicht im Mai 1978 nicht wie üblich seine Zeitkarte gestempelt. Die Verwaltung war infolgedessen dazu übergegangen, die Arbeitsstunden außerhalb der Dienstzeiten einfach als Überstunden zu verbuchen – bei seinen Kolleginnen und Kollegen galt B. seit dem schicksalhaften Tag im Mai als krankgeschrieben. Doch wie war es dazu gekommen, dass B. so lange verschwunden war?
Mit Mumien durch die Achtziger
„Wir hatten damals eine Einstands-Inventur der neu eingerichteten Depotbereiche C14 bis AR300-x78-C gemacht“, berichtete B., „dabei haben die Kollegen mich bei Schließung des Depots schlicht vergessen. Seit dem Tag kam dann niemand mehr herunter und ich musste mich bis auf weiteres vor Ort einrichten.“ B. verbrachte die folgenden Jahre im stetigen Halbdunkel des Depots. Er ernährte sich von organischen Materialien, wobei er stets darauf achtete, nach Möglichkeit keine für die Wissenschaft relevanten Objekte zu verzehren. Das gelang freilich nicht immer.
„Die Mumien aus Mittelamerika brachten mich fast durch die gesamten Achtziger Jahre“, erinnert sich B., „zum Glück waren sie hinlänglich wissenschaftlich dokumentiert, sodass sich der Schaden in Grenzen hielt.“ Während der gesamten Zeit im Depot beschäftigte sich B. weiterhin mit der Katalogisierung und Systematisierung der Sammlung, so dass die heutigen KollegInnen sich von ihm einige nützliche Informationen erhoffen. „Gerade mit Blick auf den bevorstehenden Umzug ins Humboldt-Forum werden die Typologien von Herrn Dr. B. bei der vollständigen Erfassung und Bestimmung unserer Sammlung von unschätzbarem Wert sein“, so Restauratorin Petra S.
Und so geht eine bemerkenswerte Anekdote in der Geschichte der Dahlemer Museen zu Ende und bringt die Fachleute einen gehörigen Schritt nach vorn auf ihrem Weg ins Stadtzentrum. Manfred B. hat derweil begonnen, seine knapp 162.240 Überstunden abzubauen und sich einige Tage freigenommen. Er will eine Rundreise durch die neuen Bundesländer machen. Pünktlich zum Abbau der Boote im Südsee-Bereich des Ethnologischen Museums wird B. aber wieder in Dahlem sein und seine Arbeit als Restaurator aufnehmen – es gibt schließlich viel zu tun.
Kommentare
Nett der 1. April
[…] Manchmal führt der Umzug eines Museums zu ungeahnten Funden, wie hier am Beispiel des Ethnologischen Museums und seines Umzugs ins Humboldt-Forum zu sehen: https://blog.smb.museumdepotfund-herrscher-im-halbdunkel/ […]
Meine Idee ist, statt die uralten Artefakte, hier die Schiffe, so mühevoll und kostenintensiv zu translozieren, es sinnvoller wäre einfach heutige Boote aus der selben Region oder auch vergleichbar aussagekräftige Objekte in die neue Ausstellung zu stellen. Das hätte einen engeren Bezug zu unserer Alltagswirklichkeit und würde den noch lebendigen Kulturen eine Chance geben, sich zu präsentieren und einen aktuellen Beitrag zur Bildung und Kulturvermittlung zu leisten.
Das wäre mein Vorschlag. Wie denken Sie hierüber?