Der Gärtner von Nottingham – Nachkriegsgeschichte eines Aquarells
Lesezeit 7 Minuten
Eine überraschende E-Mail brachte das Team des Kupferstichkabinetts auf die Spur eines verschollenen Gärtner-Aquarells. Kuratorin Anna Pfäfflin und Restaurator Georg Josef Dietz nahmen sich des Falls an und brachten ein Highlightwerk der „Sammlung der Zeichnungen“ zurück nach Berlin.
Text: Sven Stienen
Als Anna Pfäfflin am 3. September 2021 ihr Mail-Postfach öffnete, erlebte sie eine Überraschung. Unter den eingegangenen Mails fand die Kuratorin des Kupferstichkabinetts die Nachricht eines ehemaligen Kommilitonen, des Kunsthändlers Alexander Kunkel von Kunkel Fine Art in München. Der Inhalt ließ Pfäfflin aufhorchen: Im Katalog eines kleinen Auktionshauses in Nottingham sei ein Blatt des Berliner Malers Eduard Gärtner aufgetaucht – mit einem Stempel, den ehemals die Nationalgalerie für die „Sammlung der Zeichnungen“ verwendet hatte.
Die Expertin für das 19. Jahrhundert, die sich schwerpunktmäßig auch mit Provenienzforschung, also der Suche nach den Biografien der Kunstwerke, beschäftigt, begann sofort zu recherchieren. Die „Sammlung der Zeichnungen“ wurde 1878 als Teil der Nationalgalerie gegründet und gehört seit der Wiedervereinigung der Staatlichen Museen zu Berlin 1992 zum Kupferstichkabinett. Wenn also ein Stempel dieser Sammlung bei einer Versteigerung auftaucht, lohnt sich ein Abgleich mit den Inventaren, denn einige der Werke gelten seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Und tatsächlich: Das fragliche Aquarell mit dem Titel „Der Leipziger Platz in Berlin“ von 1862 zählte dazu. „Wir konnten nachweisen, dass das Werk bei uns seit 1945 als vermisst galt“, erinnert sich die Kunsthistorikerin, „weil auf der Karteikarte, welche zum Inventar dieser Sammlung gehört, eine entscheidende Notiz stand: 1933 war das Werk an die Reichskanzlei verliehen worden.“ Ab 1945 verlor sich seine Spur.
Ansichten des biedermeierlichen Berlins
Die Geschichte des Gärtner-Aquarells ist eng mit der Geschichte Berlins verknüpft. Im Januar 1891 gelangte es als „Geschenk des Geh. Kommissionsraths F.C. Glaser hierselbst“ in die Sammlung der Zeichnungen. „Gärtner war ein Vedutenmaler, das heißt er schuf vor allem wirklichkeitsnahe Darstellungen der Berliner Stadtlandschaft zu seiner Zeit“, erklärt Anna Pfäfflin. „Wir können durch ihn also das biedermeierliche Berlin kennenlernen.“ Sein bekanntestes Werk ist eine Darstellung der Klosterstraße, die heute in der Alten Nationalgalerie hängt. Neben diesen beiden Bildern stammen noch sehr viele weitere Berlin-Ansichten aus dieser Zeit von dem Maler, wie die Kunsthistorikerin weiß: „Wir haben 84 Werke von Gärtner in unseren Sammlungen und eines davon war eben bis 1945 auch der ‚Leipziger Platz‘.“
Das Werk wurde bereits 1902 zusammen mit einer weiteren Arbeit Gärtners von dem Kunsthistoriker Lionel von Donop in seinen „Katalog der Handzeichnungen, Aquarelle und Oelstudien in der Königl. National-Galerie“ als bedeutendes Werk aufgenommen. Diese Ehrung verlieh dem Kunstwerk ein gewisses Renommee unter Kunstinteressierten in der Stadt und so wurde es 1933 als Leihgabe in die Reichskanzlei Adolf Hitlers entliehen. „Hitler hatte bestimmte Lieblingskünstler, zum Beispiel Menzel und Schinkel“, erklärt Anna Pfäfflin. „Es kann also durchaus sein, dass er das Bild selbst für die Reichskanzlei ausgewählt hat.“ Im Übrigen, so ergänzt die Kunsthistorikerin, sei es durchaus kein ungewöhnlicher Vorgang, dass Behörden Werke aus den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin für ihre Gebäude ausgeliehen haben.
Das Aquarell hing bis 1945 in der Reichskanzlei. „Nach Kriegsende wurde es offenbar entwendet und gelangte so nach England. Die genauen Umstände kennen wir nicht. Vorstellbar ist, dass es ein britischer Soldat mitgenommen hat“, erklärt Pfäfflin. Dass diese Erklärung die wahrscheinlichste ist, offenbart inzwischen auch das Kunstwerk selbst: Neben der Signatur Gärtners fanden die Fachleute des Kupferstichkabinetts auch den handschriftlichen Vermerk „Chancellery Berlin, 3.8.45“ – offensichtlich hatte hier jemand das Datum der Übernahme auf dem Erinnerungsstück vermerkt. Nach diesem Tag verlor sich die Spur des Kunstwerkes – bis jetzt.
76 Jahre war das Aquarell verschollen, doch nun, an diesem Tag im September 2021, musste plötzlich alles ganz schnell gehen. „Die Versteigerung war für den 7. September angesetzt, also blieben uns nur vier Tage Zeit, um zu handeln“, erinnert sich Anna Pfäfflin. Das Team des Kupferstichkabinetts nahm sofort Kontakt zum Justiziariat der SPK auf, das Erfahrung in solchen Fällen hat. Es folgten Verhandlungen mit dem Auktionshaus Mellors & Kirk in Nottingham, das den anonym bleibenden Einreicher des Bildes vertrat. Dank der Vermittlung durch Nigel Kirk, den Direktor des Auktionshauses, konnte man sich darauf einigen, dass das Kunstwerk zunächst nicht versteigert wurde und ein Experte des Kupferstichkabinetts die Echtheit des Werks vor Ort bestätigen konnte.
Diese Aufgabe fiel auf den Chefrestaurator des Kupferstichkabinetts, Georg Josef Dietz, für den – aus ganz anderen Gründen – eine Dienstreise nach London unmittelbar bevorstand: „Wir hatten mehrere Leihgaben für eine große Dürer-Ausstellung an die National Gallery in London zu bringen“, erinnert sich Dietz. „Als ich dorthin reiste, um die Hängung der Dürer-Werke zu beaufsichtigen, war das die Gelegenheit, einen Abstecher nach Nottingham zu machen, um den Gärtner bei Mellors & Kirk zu begutachten.“
Der Trip war erfolgreich und Georg Josef Dietz konnte das Werk nach der Bestätigung seiner Echtheit direkt als Rückgabe entgegennehmen: Der anonym bleibende Einlieferer hatte das Kunstwerk laut eigenen Angaben 40 Jahre zuvor gekauft und war mit der der Rückgabe an die Staatlichen Museen zu Berlin einverstanden. „Wenn verschollen geglaubte Werke aus Privatbesitz unvermutet wieder auftauchen, ist das ein besonderer Glücksfall“ sagt Anna Pfäfflin, „denn oftmals werden solche vermissten Werke gar nicht als Werke aus unserer Sammlung erkannt.“ Den entscheidenden Hinweis in diesem Fall, so erklärt die Expertin, lieferte der Stempel. Er hatte den Münchner Kunsthändler auf die Vermutung gebracht, dass es sich bei diesem Werk um einen Kriegsverlust der Berliner Museen handeln könnte und so den Weg geebnet, dass das Werk aus Privatbesitz in den Besitz des Museums – und damit der Öffentlichkeit – zurückgelangen konnte. Umgekehrt bemühen sich die Museen auf Grundlage der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 intensiv, im Nationalsozialismus “verfolgungsbedingt entzogene Kunstwerke“ in ihren Sammlungen aufzuspüren und an die rechtmäßigen Erben zurückzugeben.
Rückkehr nach 76 Jahren
Im Fall des verschollenen Gärtners war es demnach ein großes Glück, dass der Münchner Kunsthändler durch Zufall das Kunstwerk entdeckte und die Staatlichen Museen kontaktierte. So konnte das Werk nach all den Jahren wieder nach Berlin zurückkehren – in Brexit- und Coronazeiten jedoch nicht ohne Komplikationen, wie Georg Josef Dietz weiß: „Da es noch diverse bürokratische Hürden bei der Rückführung des Aquarells gab, einigten wir uns mit unseren Kolleg*innen von der National Gallery darauf, dass der Gärtner zunächst dort verbleiben sollte und schließlich gemeinsam mit den Dürer-Leihgaben nach Berlin zurückkehren sollte.“
Im März 2022 war es dann endlich soweit und das Gärtner-Aquarell kam wieder nach Berlin. Derzeit wird es im Kupferstichkabinett von Georg Josef Dietz und seinem Team restauratorisch begutachtet. „Es gibt leider einige Beschädigungen, die in den Jahrzehnten entstanden“, erklärt der Fachmann. „Zum einen ist das Papier stark vergilbt. Es hing offenbar viele Jahre in einem Innenraum – vielleicht einem britischen Wohnzimmer – und war dort Sonnenlicht und einer säurehaltigen Papp-Rückwand ausgesetzt. Zudem befinden sich Streifen von Tesafilm auf der Rückseite, die nach vorne durchgeschlagen sind.“ Ob bzw. in wieweit das Werk restauriert werden kann, wird gerade geprüft. Eine wichtige Frage ist dabei auch, ob die Notiz des britischen Soldaten von 1945 einer Restaurierung standhält. „Das Kunstwerk erhält durch diese Aufschrift eine besondere Einzigartigkeit“, meint Anna Pfäfflin, „es ist nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch ein historisches Objekt, das uns viel über die Geschichte der Sammlung und unserer Stadt erzählen kann.“
Wann das Werk das nächste Mal der Öffentlichkeit in Berlin gezeigt wird, ist derzeit noch nicht klar. Spätestens 2031 soll es jedoch Teil einer großen Schau anlässlich des 200jährigen Jubiläums des Kupferstichkabinetts sein.
Die Provenienzforscherin Hanna Strzoda und Anna Pfäfflin, Kuratorin im Kupferstichkabinett, schildern die täglichen Probleme bei der Herkunftsforschung in einer graphischen… weiterlesen
Die Restaurator*innen der Staatlichen Museen zu Berlin arbeiten täglich mit Objekten aus den unterschiedlichsten Materialien: von Papier über Textil bis… weiterlesen
Unsere Webseite verwendet Cookies. Diese haben zwei Funktionen: Zum einen sind sie erforderlich für die grundlegende Funktionalität unserer Website. Zum anderen können wir mit Hilfe der Cookies unsere Inhalte für Sie immer weiter verbessern. Hierzu werden pseudonymisierte Daten von Website-Besuchern gesammelt und ausgewertet. Das Einverständnis in die Verwendung der Cookies können Sie jederzeit widerrufen. Weitere Informationen zu Cookies auf dieser Website finden Sie in unserer Datenschutzerklärung und zu uns im Impressum.
Funktional Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.
Kommentare