Wie sich bildende Kunst und klassische Chormusik bestens ergänzen: Die Gemäldegalerie und der RIAS Kammerchor haben den großartigen Audioguide „Klingende Bilder“ entwickelt. Unsere Autorin Irene Bazinger hat den Hörgenuss ausprobiert.
Text: Irene Bazinger
Im Kulturforum sind die Wege kurz – die Gemäldegalerie zum Beispiel liegt nicht weit von der Philharmonie entfernt. Vielleicht hat diese räumliche Nähe geholfen, ein spartenübergreifendes Projekt zu entwickeln, in dem sich die künstlerischen Markenkerne der beiden Institutionen aufs Schönste begegnen. „Klingende Bilder“ heißt diese großartige Kooperation, in der sich klassische Musik und bildende Kunst, Gesang und Malerei nicht nur ergänzen, sondern bei der das eine das andere erhellt und die Sinne für neue Eindrücke öffnet. Im Dezember 2023 gab es den Auftakt mit einer Audiotour, welche die Weihnachtsgeschichte optisch und akustisch aufbereitete. Über 10.000 Personen haben ihr inzwischen allein mit den hauseigenen elektronischen Museumsführern ihr Ohr geliehen. Schon damals sorgte der regelmäßig in der Philharmonie gastierende RIAS Kammerchor dafür, dass sich die Bilder gesanglich aufluden. Waren es da sechs Gemälde, so sind nun für „Klingende Bilder – Ein musikalischer Rundgang durch die Passionsgeschichte“ gleich zwölf ausgewählt worden, etwa von Jan van Eyck, Albrecht Altdorfer, Rogier van der Weyden, Giovanni Bellini, Simone Martini und Giotto di Bondone. In der Dauerausstellung mit ihren Werken vom 13. bis zum 18. Jahrhundert sind sie mit einem goldenen Label markiert und leicht zu erkennen.
Auch der Rest ist ganz einfach: Man leiht sich vor Ort in der Gemäldegalerie kostenlos ein Gerät aus oder schaltet sich mit dem privaten Smartphone in die Audiotour ein, am besten mit selbst mitgebrachten Kopfhörern.
Ein zeitlos–intensiver Dialog zwischen Bild und Ton
Wenn man dann vor dem 1437 entstandenen Wurzacher Altar von Hans Multscher steht und die Tafel „Die Kreuztragung Christi“ bewundert, mit dem gebeugten Christus in der Mitte, blutend an Händen und Füßen und umringt von einer bösartigen, grimassierenden Menschenmenge, begreift man sofort, warum der RIAS Kammerchor hier einen Choral aus Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ singt: „Wer hat dich so geschlagen, / Mein Heil, und dich mit Plagen / So übel zugericht‘?“
Riesig ist das Kreuz, das Jesus tragen muss, entsprechend die Last, die ihn niederdrückt und der Schmerz, der ihn quält. All das, ebenso die meist höhnischen Gesichter der Schergen um ihn herum, sind von Multscher – fern jeder Idealisierung – mit den neuen Ausdrucksmitteln der beginnenden Renaissance in realistischer Drastik gemalt. Dementsprechend schaut Christus in seinem Leid die Betrachter*innen direkt an, scheint uns Aug‘ in Aug‘ zu fragen: „Auf welcher Seite würdest du stehen?“ Dieser geradezu immersive Impuls geht auch vom Choral aus, der aufgewühlt an die Haltung und Verantwortung der Menschen appelliert und wissen will, wie sich das Individuum angesichts der neutestamentarischen Szenerie positioniert hätte. Hans Multscher wurde um 1400 geboren und verstarb 1467, Bach lebte von 1685 bis 1750, die „Johannes-Passion“ komponierte er 1724. Trotz der unterschiedlichen Zeiten entspinnt sich ein intensiver Dialog zwischen Bild und Ton und zieht noch uns heutige Besucher*innen in diese thematische Dynamik hinein. Das unterstreicht die performative Offenheit und diskursive Qualität der „Duette“, deren Bildanteil von Christian Mücke, Tenor beim RIAS Kammerchor Berlin und Stammgast in der Gemäldegalerie, in Abstimmung mit den Expert*innen der Gemäldegalerie kuratiert wurde.
Für die Auswahl und das Dirigat der musikalischen Äquivalente war Justin Doyle zuständig, der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des RIAS Kammerchors. Die eigens für „Klingende Bilder“ eingespielten Neuaufnahmen wurden von Deutschlandfunk Kultur ermöglicht.
Die Audiotour bietet neben den Chorwerken auch kunsthistorische Erklärungen, die einerseits die allgemeinen Zusammenhänge, andererseits speziell hervorgehobene Details betreffen. Auf diese Art erfährt man etwa, was ein Pelikan mit der Rettung der Menschheit zu tun hat. Denn die um 1500 in der Tradition der Grisaille-Malerei entstandene „Passion Christi“ von Hieronymus Bosch (1450–1532) zeigt eine beklemmende, öde Welt als sinistren Resonanzraum der Passion. Im Mittelpunkt und hell akzentuiert befindet sich auf einem Felsen, aus dem wohl das Höllenfeuer qualmt, ein Pelikan. Dieser Vogel gilt als Symbol für Christus. Lange glaubte man nämlich, der Pelikan würde sich selbst die Brust aufreißen, um die Jungen mit seinem eigenen Blut zu füttern – wie Jesus sein Fleisch und Blut für die Menschen hingab. Das musikalische Pendant dazu bietet ein gregorianisches Werk nach Thomas von Aquins (1225–1274) siebenstrophigem Hymnus, in dem es heißt: „O treuer Pelikan, Jesus mein Herr! / Mach mich Unreinen rein durch dein Blut! / Ein Tropfen davon kann die ganze Welt / von allem Verbrechen heil machen.“ Über 200 Jahre liegen zwischen Gemälde und Chor – und gehen doch Hand in Hand als künstlerischer Dialog mitten ins Herz.
Ein Projekt mit Sogwirkung für erhöhte Verweildauer
Auch geistliche Musik des 20. Jahrhunderts wurde berücksichtigt, wie von Maximilian Steinberg, Maurice Duruflé oder Pablo Casals. Von Henryk Górecki (1933–2020) ist „Jesu Christe, frater noster“ aus den Kirchenliedern op. 84 zur Kaufmannschen Krönung (um 1340) zu vernehmen, die ein böhmischer oder österreichischer Meister schuf. Im Kommentar heißt es: „Górecki kommt mit vergleichsweise wenigen Tönen aus, um all das zu vertonen, was in den Strophen des Liedes beschrieben wird: Das fließende Blut, das Sterben Jesu, den Boden, der sich auftut, Maria, die am Kreuz steht. Die Mittelstimmen – Alt und Tenor – singen lediglich vier, die Randstimmen – Bass und Sopran – fünf bis sechs Töne.“ Man sieht und hört und staunt, und es macht Spaß, denn plötzlich erschließen sich die Werke fast wie in einem persönlichen Gespräch. Im Zusammenspiel mit der emotionalen Kraft der Musik entfalten sie alsbald eine unglaubliche Sogwirkung.
Der tote Christus von zwei Engeln gestützt (um 1470–1475), Giovanni Bellini, Pappelholz, 66,9 × 82,0 cm
Christoph Schmidt
Wenn man weiß, dass nach diversen Studien die durchschnittliche Verweildauer von Museumsbesucher*innen vor einem Exponat etwa dreißig Sekunden beträgt, ist dieser musikalische Rundgang ein kühnes wie wichtiges und überdies gerade für junge Menschen zukunftsorientiertes Angebot. Neben den berührenden Musikstücken sind die eingesprochenen erläuternden Beiträge auf dem Audioguide nämlich so vielfältig und fesselnd, dass man fasziniert mehr Zeit vor den Bildern verbringt als sonst und den Auslegungen gespannt lauscht – weil sie das Gesehene klug unterfüttern und den Horizont mit Detailreichtum erweitern. Und mit maximal drei Minuten nie länger sind als ein Hit in den Charts.
Eine Schule der Aufmerksamkeit mit einfacher Navigation
„Klingende Bilder“ ist eine angenehm entspannte, unangestrengt lehrreiche Schule der Aufmerksamkeit, die durch die verschiedenen Medien getragen und gestärkt wird.
Welche Melodie hat der Verrat? Wie singt man von der Auferstehung? Was tut die Fliege bei Jesu Abendmahl mit den zwölf Aposteln? Warum fehlen einem Engel, der den toten Christus stützt, eine Hand, und seinem Kompagnon ein Flügel?
Die Antworten darauf wissen die Expert*innen – außer Dagmar Hirschfelder, der Direktorin der Gemäldegalerie, die Kuratoren Stephan Kemperdick und Neville Rowley sowie Gregor Meyer, künstlerischer Assistent des RIAS Kammerchors. Sie weisen auf Einzelheiten in den bildnerischen wie vokalen Kompositionen hin und führen bei aller Sachkundigkeit verständlich und charmant in die jeweiligen Konstellationen von Passionsgeschichte und Werkpaarungen ein. Gefördert wurde die famose technische Umsetzung mit ihrer unkomplizierten Navigation durch den Projektfonds Digitale Entwicklung der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Überall auf der Welt spazieren Personen mit Kopfhörern herum – in der Gemäldegalerie nun noch zahlreicher als sonst und mit bester und werkgetreu passender Musik in den Ohren.
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