Kunst des Aufbruchs: Spätgotik in der Gemäldegalerie
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Eine Ausstellung in der Gemäldegalerie widmet sich gattungsübergreifend der Kunst der Spätgotik und macht die bahnbrechenden medialen und künstlerischen Innovationen dieser Zeit für Besucher*innen erlebbar
Text: Karolin Korthase
Bittere Hungersnöte, der Beginn des hundertjährigen Krieges, die Pest und eine zutiefst zerstrittene Kirche – das 14. Jahrhundert ist ein dunkles Kapitel in der europäischen Geschichte. In der Kunst sucht man, zumindest an der Wende zum 15. Jahrhundert, das Grauen vergeblich. Länderübergreifend setzte sich während dieser Zeit der sogenannte „Weiche“ oder „Schöne“ Stil durch. Madonnenfiguren mit Jesuskind betören die Betrachtenden mit sinnlichen Zügen, einer geschwungenen Haltung in S-Form und dem fließenden Faltenwurf üppiger Gewänder. Fast scheint es, als solle die idealisierte Schönheit des Jenseitigen über die Nöte des Diesseits hinwegtrösten.
Die Ausstellung „Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“, die von mehreren Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin gemeinsam realisiert wird, hat ihren Startpunkt dort, wo der Weiche Stil langsam an Bedeutung verliert und neue Perspektiven und Techniken in die Kunst Einzug halten. Ein Altarretabel öffnet zu Beginn der Ausstellung seine Flügel und lädt die Besucher*innen ein, tief in die mittelalterliche Kunst aus dem deutschsprachigen Raum zwischen 1420/30 und 1490 einzutauchen. Das Retabel stammt aus den späten 1420er Jahren und stand ursprünglich in der Kölner Kirche St. Gereon. „Das Besondere ist, dass dieser Wandelaltar fast vollständig erhalten geblieben ist“, erzählt Stephan Kemperdick, Kurator für Niederländische und Altdeutsche Malerei in der Gemäldegalerie, „nur die Madonnenfigur in der Mitte musste ersetzt werden.“
Viele Altäre wurden im 19. Jahrhundert auseinandergenommen und die bemalten Flügeltafeln zersägt, um Skulptur und Malerei getrennt voneinander präsentieren zu können. Auch wenn mittlerweile keine Kunst mehr zersägt wird, hat sich doch an der Ausstellungspraxis kaum etwas geändert.
Gotische Kunst als Gesamtheit betrachten
„Die jetzige Ordnung nach Gattungen ist künstlich und hat mit der Wirklichkeit im 15. Jahrhundert nichts zu tun“, erläutert Julien Chapuis, Leiter der Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst. „Die meisten Objekte sind für Kirchenräume geschaffen, wo Tafelmalerei ganz selbstverständlich neben Glasmalerei, Skulpturen, Goldschmiedekunst und Textilien hing.“ Für die Ausstellung möchte das Kuratorenteam, zu dem neben Julien Chapuis und Stephan Kemperdick auch Michael Roth (Kupferstichkabinett), Lothar Lambacher (Kunstgewerbemuseum) und Jan Friedrich Richter (Gemäldegalerie) gehören, zeigen, wie eng die Künste damals vernetzt waren. Ein erklärtes Ziel ist es Jan Friedrich Richter zufolge, „die klassischen Sehgewohnheiten zu durchbrechen und zu zeigen, dass gotische Kunst nur als Gesamtheit betrachtet werden kann“. Rund 100 Werke, die in der Ausstellung zu sehen sein werden, stammen aus den Sammlungsbeständen der Staatlichen Museen zu Berlin, etwa 30 sind Leihgaben.
Zu den Highlights gehören unter anderem die Apostelmartyrien von Stefan Lochner (1435). Auf zwei Tafeln wird gezeigt, wie die zwölf Apostel auf unterschiedliche und äußerst brutale Weise hingerichtet werden. Bemerkenswert an den Malereien ist ihre ausgefeilte Komposition und ihr Realismus. Obwohl die Szenen auf dem traditionellen Goldgrund festgehalten wurden (Gold symbolisierte das Göttliche), erscheinen sie dank innovativer Lichteffekte lebensnaher und greifbarer als die Figuren des Gereon-Altars und des Weichen Stils. Diese optische Revolution lässt sich auf Anregungen aus den Niederlanden zurückführen. Dort setzten zeitgenössische Künstler wie Jan van Eyk mit ihren Werken neue Maßstäbe und stellten Szenen aus der Bibel so überzeugend dar, als würden sie wahrhaftig passieren. Stefan Kemperdick schreibt: „Zum ersten Mal seit der klassischen Antike war Jan van Eyck in der Lage, mittels Farbe optische Erscheinungen wie Glanz, Spiegelungen und Transparenz darzustellen.“ Gänzlich neu war auch die Verwendung und das Mischen von Malfarben, um Metall abzubilden. Zuvor hatten Künstler auf Gold- und Silberfolie zurückgegriffen.
Lochners eindrückliche Apostelmartyrien inspirierten wiederum andere Künstler zur Nachahmung: Das Motiv von der Häutung des heiligen Bartholomäus schaffte es sogar bis nach Mittelfrankreich – und das zu einer Zeit, als Reisen beschwerlich und nur zu Pferd möglich waren. In der Ausstellung werden mehrere Kopien von der grausigen Bartholomäus-Szene neben dem Original ausgestellt: die Zeichnung eines Kölner Künstlers, zwei Kupferstiche von Wenzel von Olmütz und ein Maleremail, das um 1500 auf Grundlage des Olmütz’schen Kupferstichs in einer Werkstatt im französischen Limoges angefertigt wurde.
Breitgefächerter Überblick zur Spätgotik
Neben Kupfer- und Holzschnitt, mittels derer Formen von einem Ort zu einem anderen transportiert werden konnten, revolutionierte der Gutenberg’sche Buchdruck mit beweglichen Lettern ab 1450 die Verbreitung von Text, Bildern und Ideen. Aus heutiger Sicht ist kaum noch vorstellbar, wie grundlegend diese Innovation das Leben der Menschen und den Lauf der Geschichte veränderte. Vergleichbar ist der immense Einfluss dieser Erfindung wohl am ehesten mit der Einführung des Internets. In der Ausstellung wird eine zweibändige Ausgabe der Gutenberg-Bibel auf Pergament aus der Staatsbibliothek zu Berlin zu sehen sein – laut Michael Roth, dem stellvertretenden Direktor des Kupferstichkabinetts, „eine der schönsten Gutenberg-Bibeln überhaupt“.
Der Anspruch des Kuratorenteams ist es, einen möglichst breitgefächerten Überblick zur Spätgotik zu geben. „Jede Sammlung wird Hauptwerke aus ihrem Bereich zeigen, darunter auch Objekte, die wir normalerweise nicht ausleihen, weil sie zu den Ikonen des Bode-Museums gehören“, betont Julien Chapuis. Im Bode-Museum zählen zu diesen Objekten etwa Skulpturen wie die Ravensburger Schutzmantelmadonna von Michel Erhart, die Dangolsheimer Muttergottes von Nikolaus Gerhaert von Leyden und „Die vier Evangelisten“ von Tilman Riemenschneider. Das Kupferstichkabinett steuert bedeutende Werke von Meister E.S., Martin Schongauer und Albrecht Dürer bei. Aus dem Kunstgewerbemuseum stammen mehrere Stücke des Lüneburger Ratssilbers, das zu den Highlights der Goldschmiedekunst des 15. Jahrhunderts gehört. Der stellvertretende Direktor Lothar Lambacher erzählt: „Besonders spektakulär ist der sogenannte Bürgereidkristall von Hans von Lafferde: Ein kapellenförmiger Schrein mit einer Reliquie, auf die Lüneburger Bürger im Rathaus einen Eid schwören mussten.“ Die Gemäldegalerie bereichert die Ausstellung u.a. mit zwei Flügeln des Wurzacher Altars von Hans Multscher, dem Gemälde „Die Königin von Saba vor Salomo“ von Konrad Witz und Martin Schongauers „Geburt Christi“.
Die Werke werden grob chronologisch, aber auch nach thematischen Schwerpunkten präsentiert. Am Ende der Ausstellung steht Albrecht Dürers „Drahtziehmühle“ (um 1490), eines der frühesten Landschaftsaquarelle des Nürnberger Kupferstechers und Malers. Dass sich Künstler auf einmal ihrer unmittelbaren Umgebung und auch sich selbst zuwendeten, war ein absolutes Novum in der damaligen Zeit – seit dem Ausklang der Antike war eine künstlerische Reflexion der irdischen Realität schlicht nicht gefragt. Schließlich spielte sich das wahrhaftige Leben nicht im Dies-, sondern im Jenseits ab. Dieser Paradigmenwechsel gehört zu den spannendsten Entwicklungen der Kunstgeschichte und lässt das 15. Jahrhundert in der Rückschau als ein Jahrhundert des Aufbruchs erscheinen, das unglaubliche Neuerungen mit sich und schließlich die Renaissance hervorbrachte.
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