Die Ausstellung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
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Während des Corona-Lockdowns haben die Staatlichen Museen zu
Berlin gemeinsam mit dem Studio Jester Blank einen neuartigen
3D-Rundgang der Ausstellung „Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei“
(30.8.2019 bis 1.3.2020) entwickelt.
Interview: Sven Stienen
Die
Digitalisierungsexperten Jens Blank und Philipp Jester und Kuratorin
Veronika Tocha im Gespräch über das Projekt und das Verhältnis von
„analog“ und „digital“ in der heutigen Museumswelt.
Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit und welche Rolle spielte die coronabedingte Schließung der Museen dabei? Veronika Tocha: Wir kamen Ende 2019 über Mira Schröder und Nicolas Rauch von der
Design-Agentur Schroeder Rauch zusammen, die für die
Ausstellungsarchitektur von „Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei“
verantwortlich waren. Es entstand die Idee, den Ausstellungsraum
dreidimensional zu scannen, um zu einem späteren Zeitpunkt weiter mit
den Aufnahmen arbeiten zu können.
Philipp Jester: Wir hatten die Ausstellung ursprünglich für Schroeder Rauch im August
2019 fotografisch dokumentiert und da wir sowohl von der Ausstellung als
auch von der modern-minimalistischen Ausstellungsarchitektur und der
James-Simon-Galerie begeistert waren, kamen wir ins Gespräch über eine
Zusammenarbeit. Im Februar fanden dann mehrere photogrammetrische
Aufnahme-Sessions statt und der Ausstellungsraum wurde anhand von
Laserscans erfasst. Bei der Photogrammetrie handelt es sich um ein
Bildmessungsverfahren, bei dem die Position einzelner Punkte in einem
Raum bestimmt werden kann.
VT: Dass die Museen kurze Zeit später schließen würden, konnten wir zu dem
Zeitpunkt noch nicht absehen. Das aufgenommene Material hat durch
Covid-19 eine neue Bedeutung erlangt und wir waren uns einig, dass
spätestens jetzt die Zeit gekommen war, über neuartige digitale Formate
nachzudenken. Ende März haben wir dann gemeinsam das Experiment des
ersten dreidimensionalen Ausstellungsrundgangs der Staatlichen Museen zu Berlin in Angriff genommen.
Jens Blank: Der Lockdown hatte schnell gezeigt, dass frei zugängliche Angebote auch
während der Schließung dringend erforderlich waren. Die digitale
Strategie eines Museums der Zukunft sollte unserer Meinung nach auch den
Dialog mit der jüngeren Generation fördern, weshalb die Beschäftigung
mit neuen digitalen Möglichkeiten ein essentieller Bestandteil sein
sollte. Die häusliche Isolation, zu der wir alle aufgrund der Pandemie
angehalten waren, stellte für uns deshalb auch eine Chance dar, dieses
Thema zusammen mit den Staatlichen Museen zu Berlin weiter voran zu
treiben.
Jens und Philipp, wie sieht euer Arbeitsgebiet genau aus, und habt ihr ähnliche Projekte zuvor schon gemacht? JB: Wir arbeiten im Bereich der Highend-3D-Digitalisierung und erstellen
außerdem fotografische Key Visuals, meist für Kampagnen im kulturellen
Bereich. Um digitalisierte Exponate zugänglich zu machen, entwickeln wir
– meist in enger Zusammenarbeit mit unseren Kunden – digitale
Strategien, die von der Vor-Produktion bis zur Implementierung
digitalisierter Kunstwerke für Marketing-, Wissenschafts- und
Archivierungszwecke verwendet werden können. Unsere dreidimensionalen
Reproduktionen von musealen Objekten sind AR-, VR-, Video- und
Web-fähig.
PJ: Ein Projekt, das recht nahe kommt,
ist unsere seit 2018 laufende Zusammenarbeit mit der Stiftung Humboldt
Forum. Mit dem Projektteam der Humboldt Forum Highlights haben wir eine
digitale Strategie entwickelt und u.a. 26 Exponate der Kampagne, die
hauptsächlich aus der Sammlung des Museums für Asiatische Kunst und des
Ethnologischen Museums stammen, sehr hochaufgelöst 3D-digitalisiert.
Teil der Strategie war es, die Digitalisate auch für Marketingzwecke zu
verwenden, sie also zum Beispiel auf großformatige Anzeigetafeln zu
drucken und in 3D zu animieren. Der Vorteil ist, dass ein Objekt nach
einer 3D-Digitalisierung eigentlich nicht mehr aus der Vitrine genommen
werden muss, da man alles Bildmaterial, gerade auch für filmische
Arbeiten, sehr hochaufgelöst aus den 3D-Daten generieren kann. Dadurch
kann man der Gefahr von Beschädigungen, die bei empfindlichen Objekten
schon allein durch das Einwirken von Licht auftreten können,
entgegenwirken. Auch die exakte Reproduktion eines einzigartigen
historischen Objektes ist möglich. Anhand der Möglichkeiten im
Augmented-Reality-Bereich kann der Besucher von jedem Ort der Welt auf
geschichtlich bedeutsame Exponate zugreifen.
Was
ist das Besondere an der 3D-Ausstellung „Nah am Leben“ im Vergleich mit
euren anderen Projekten, aber auch mit anderen digitalen Angeboten? PJ: Von anderen digitalen Angeboten unterscheidet sich die „Nah am
Leben“-3D-Ausstellung darin, dass die Qualität der digitalen Nachbildung
auch gemessen am Umfang dessen, was gezeigt wird, außerordentlich hoch
ist. Mit der analogen Fotografie kommen wir aus einem viel älteren
Bereich der optischen Aufnahme und Abbildung und beschäftigen uns seit
geraumer Zeit mit Sehgewohnheiten, Abbildungsmöglichkeiten und den
feinen Unterschieden zwischen digitalen und analogen
Reproduktionsverfahren. Wenn ich persönlich durch den digitalen Raum der
„Nah am Leben“-Ausstellung schlendere, fühle ich mich der realen
Erfahrung optisch sehr nahe.
JB: Aus technischer
Sicht ist ein grundlegender Unterschied, dass die gesamte Ausstellung
anhand von kombinierten modernen Techniken wie Laserscanning aus
mehreren tausend Perspektiven dreidimensional erfasst wurde. Für die
Besucher im digitalen Raum bedeutet dies, dass sie beim
Ausstellungsbesuch über ihr Smartphone, Tablet oder eine VR-Brille jede
gewünschte Perspektive einnehmen können, einschließlich der
Vogelperspektive. Man ist frei in seiner Entscheidung und kann Vorder-,
wie Rückseite der Objekte ansehen. Zudem kann man den Exponaten
näherkommen, als das Wachpersonal es zulassen würde. Eine Besonderheit,
die die Usability eindeutig erhöht, ist, dass Objekte auch in höherer
Auflösung individuell zugänglich gemacht wurden.
Veronika, was war für dich reizvoll an der Digitalisierung deiner Ausstellung und der Erstellung des 3D-Rundgangs? VT: Die
Ausstellung „Nah am Leben“ stellte der Öffentlichkeit erstmals eine
sehr besondere Sammlung vor: die Formen und Modelle der Berliner
Gipsformerei. Bei den ausgestellten Sammlungsobjekten handelte es sich
nicht um Skulpturen im engeren Sinne, sondern um mit Schellack
überzogene Gipsabgüsse, die in der Gipsformerei bis heute sozusagen als
Werkzeuge zum Einsatz kommen. Zugleich sind diese Objekte aber immer
auch handwerkliche Meisterleistungen und von großem historischen Wert.
Für die Sichtbarkeit und Anerkennung dieser Sammlung ist der 3D-Rundgang
ein echter Glücksfall, da er die Formen und Modelle mit all ihren
Besonderheiten über die physische Ausstellung hinaus im virtuellen Raum
erfahrbar macht und dem Diskurs über Abgüsse aller Art damit eine
weitere Diskussionsgrundlage liefert. 3D-Technologien spielen abgesehen
davon auch für die Arbeit der Gipsformerei eine Rolle – etwa wenn das
berührungsfreie Abformen von Kunstwerken durch einen Scanner für die
Produktion genutzt und mit analogen Gusstechniken kombiniert wird.
Reizvoll an der 3D-Ausstellung ist für mich aber auch die Tatsache, dass
es in der Ausstellung ja um die Abformung, die plastische Reproduktion
unserer Lebenswelt ging, und mit der Digitalisierung jetzt gleichsam
eine weitere Form von Reproduktion stattfindet. Wie „nah am Leben“
Abgüsse sind, wurde in der Ausstellung untersucht – mit ganz
unterschiedlichen Befunden. Wie „nah am Leben“ nun die digitale Variante
der Ausstellung ist, lässt sich ebenfalls diskutieren.
Könnt ihr uns kurz den Prozess von der Aufnahme im Ausstellungsraum bis hin zum Upload des fertigen Modells beschreiben? PJ: Der Ausstellungsraum der James-Simon-Galerie ist sehr groß und es gab
in der Ausstellung viele Objekte, daher waren die Digitalisierung und
die Post-Produktion anspruchsvoll, sowohl auf der technischen als auch
für uns als Menschen dahinter. Photogrammetrisch aufgenommen und
lasergescannt wurde die Galerie an mehreren Terminen in der Nacht, da es
keine Schließtage gab. Um den 3D-Rundgang und die Einzelmodelle
anschließend in Echtzeit in einer Web- bzw. mobilen Anwendung zugänglich
zu machen, mussten die Rohdaten dann entsprechend optimiert werden.
Dazu gehörte unter anderem, das Datenvolumen so gering wie möglich, die
Qualität der 3D-Modelle hingegen so hoch wie möglich zu halten. Dieser
Spagat ist geglückt und das Ergebnis ist eine tolle digitale
Ausstellung.
JB: Zu unserem Prozess gehört neben dem Shooting und der Berechnung der
photogrammetrischen Daten die Optimierung der 3D-Modelle. Der erste
Schritt war die Reduzierung der Rohgeometrie von 3.8 Milliarden
Polygonen auf 300 Millionen Polygone. Da die Räume und Oberflächen in
der James-Simon-Galerie sehr clean sind, gibt es nicht viele optische
Anhaltspunkte, deswegen waren unsere Rohdaten nicht optimal. Bei den
Objekten mit ihren teils komplexen Oberflächenstrukturen und
Patinierungen war das anders.
Das klingt kompliziert, was ist damit genau gemeint? JB: Ein gutes Beispiel ist ein Werktisch mit Körperteilmodellen, den wir
aufgenommen haben. Die Software produzierte ein hochaufgelöstes
Flächenmuster aus Dreiecken. Da sie aber nicht zwischen glatten Flächen
und komplexen Oberflächen unterscheiden kann, fügte sie auch in
Bereichen, die sich eigentlich mit einem oder wenigen Polygonen
beschreiben ließen – in diesem Fall bei der Tischoberfläche – Millionen
von Polygonen ein. Diese Polygone nehmen viel Platz ein und leider sieht
der gesamte Raum erst einmal so aus. Nur an den Stellen, wo eine hohe
geometrische Dichte vonnöten ist – also bei den Exponaten – verwenden
wir ein komplexes Mesh. Alle Exponate mussten also von Fehlern
bereinigt, aufgeräumt und in eine optimierte Form überführt werden. Dies
war eine Herausforderung, da wir so wenig Detail wie möglich verlieren
wollten. Weitere Prozesse dieser Art schließen sich an, etwa die Textur
betreffend.
VT: Ich habe mich unterdessen vor
allem um die inhaltliche Kontextualisierung, also das „Kuratieren“ des
digitalen Rundgangs mit 34 Navigationspunkten, und die Ausstattung der
Ausstellungsobjekte mit Werktexten und Audioinhalten gekümmert. Dabei
freut mich besonders, dass der von dem Regisseur und Drehbuchautor
Martin Baer und dem Schauspieler, Sprecher und Hörbuchautor Oliver Brod
für die Ausstellung produzierte Audioguide nun noch einmal einen
größeren Auftritt hat. Wichtig war auch die Rücksprache mit den
leihgebenden Institutionen und Künstler*innen, die der Veröffentlichung
der 3D-Ausstellung natürlich zustimmen mussten, und die zahlreichen
Abstimmungen mit meinen Kolleg*innen vom Referat Kommunikation, Presse,
Sponsoring, die das Projekt in technischer Hinsicht und mit Blick auf
die Veröffentlichung auf unserer Webseite unterstützt haben.
Wie
seht ihr das Verhältnis analoger und digitaler Ausstellung auch mit
Blick auf die Zukunft und was sind die Vor- und Nachteile beider Formate
für euch persönlich? PJ: Die analoge
Ausstellung wird in ihrer Form natürlich weiterbestehen. Sie ist die
Königsdisziplin und Ausgangspunkt für jedes digitale Angebot, das daran
andocken und die Ausstellung erweitern kann, z.B. durch die Einbindung
von Exponaten, die nicht vor Ort sein, aber über
Augmented-Reality-Techniken digital eingearbeitet werden können. Sie ist
der “dritte Ort”, ein Raum der Gemeinschaft, neben der Arbeit und dem
Zuhause, an dem man sich gerne aufhält, inspiriert wird und sich bildet.
Nur irgendwann ist die Ausstellung vorbei und vielleicht hatte ich
keine Gelegenheit, sie zu besuchen. Vielleicht kann ich mir den Eintritt
ins Museum auch gar nicht leisten. 95% der zwischen 14- und 49-jährigen
in Deutschland besitzen jedoch ein Smartphone und hätten somit
theoretisch einen Zugang. Unter Umständen wird es eine zweite
Coronawelle geben und man wird die Museen erneut nicht mehr besuchen
können. Auch geografische Aspekte könnte man ins Feld führen: Wer etwa
studiert oder an einer Doktorarbeit schreibt, kann anhand der digitalen
3D-Daten Zugang zu Objekten auf der ganzen Welt erlangen, sie
untersuchen und damit arbeiten. Das gilt generell für den Bildungs- und
auch den wissenschaftlichen Bereich. Wir sehen in naher Zukunft auch
große Chancen für die 3D-Digitalisierung in der Bildung Bildung und
Vermittlung im musealen Bereich.
VT: Für mich
sind vor allem die Inhalte wichtig. Wenn das Digitale dabei helfen kann,
Inhalte breiter oder anders zu vermitteln und einen Mehrwert im
Vergleich zum Analogen bedeutet, sehe ich darin einen Gewinn. Dieser
letzte Punkt ist wichtig: Eine gute digitale Ausstellung reproduziert
die physische Ausstellung nicht einfach eins zu eins, und sie gerät auch
nicht in Konkurrenz zu dieser. Sie sollte vielmehr andere Arten von
Erlebnissen und Erfahrungen – wir nennen das „visitor experiences“ –
ermöglichen. Etwa wenn ich, wie vorhin von Jens beschrieben,
Perspektiven einnehmen und Seherlebnisse ermöglichen kann, die im
Realraum undenkbar wären. Auch über den Bereich der Ausstellung hinaus
bietet das Digitale natürlich großartige Möglichkeiten, ich nenne hier
nur das Stichwort „Shared Heritage“ und die digitalen Bestandskataloge
der Sammlungen, die überall auf der Welt konsultiert werden können. Was
nur der analogen Ausstellung bleibt, ist das atmosphärische und
sinnliche Erfahren von Raum, Architektur, Objekten. Die „Aura“ des
Originals, sei dieses ein Gemälde oder ein Gipsabguss, ist etwas
Besonderes, ebenso wie das gemeinsame und geteilte Erleben des
Ausstellungsbesuches und auch eine gewisse Einmaligkeit aufgrund der
begrenzten Laufzeiten von Ausstellungen. Diese Dinge wird das Digitale
nie ersetzen, idealerweise aber komplementär ergänzen können. Um hier am
Puls der Zeit zu sein, werden die Museen in Zukunft noch einiges zu tun
haben.
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