Viele Schätze zu bergen: Bestandsforschung in der Gipsformerei
Lesezeit 7 Minuten
Die Gipsformerei ist die älteste und eine der
faszinierendsten Einrichtungen der Staatlichen Museen zu Berlin. Ein von
der Ernst von Siemens Kunststiftung gefördertes Projekt legt nun den
Grundstein für eine Erforschung der einzigartigen Formensammlung. Die
Projektleiterin Veronika Tocha erklärt im Gespräch, was dahinter steckt.
Interview: Sven Stienen
Die
Ernst von Siemens Kunststiftung fördert ein Forschungsprojekt zur
wissenschaftlichen Erschließung des historischen Sammlungsbestands der
Gipsformerei – worum genau geht es in dem Projekt? Veronika Tocha: In dem Projekt geht es um den ersten Schritt einer wissenschaftlichen und konservatorischen Gesamtbestandserfassung in der Gipsformerei.
Wir erfassen zunächst rund 300 Inventarnummern in drei Jahren und
erproben und etablieren wissenschaftliche und konservatorische Standards
vor Ort. Die Inventarnummern der Gipsformerei repräsentieren nicht
einzelne Objekte, sondern Objektkonvolute, das bedeutet, dass zu jeder
Inventarnummer mehrere Formen und Modelle aus verschiedenen Zeiten
vorhanden sein können. Die Erfassung richtet sich einerseits auf die
Objekte selbst, ihre Machart und ihren Erhaltungszustand, und
andererseits auf ihre Historie als Sammlungsobjekte.
Es geht also sowohl um historische als auch um konservatorische Fragestellungen? Ja. Es gibt im Rahmen des Projekts ein enormes Forschungspotential.
Hinter jeder Inventarnummer verbergen sich drei, vier, fünf oder auch
mal zehn einzelne Objekte – historische Stück- oder Leimformen aus
unterschiedlichen Zeiten, neuere Silikonformen, Originalmodelle,
Arbeitsmodelle zur Herstellung einer neuen Form oder Malmodelle, die die
Maler*innen der Gipsformerei als Vorlagen nutzen, um patinierte Abgüsse
gemäß der Oberflächenerscheinung und Materialität des Originals zu
erstellen. Mein Schwerpunkt liegt in der Aufarbeitung der
Objektbiografien und in deren historischer Kontextualisierung. Das
bedeutet, dass ich viel in Archiven und Datenbanken recherchiere und
historische Quellen aufspüre, die uns im Idealfall genauere Auskunft zu
den Abformungskampagnen der Gipsformerei geben. Zugleich arbeite ich
nicht nur eng mit den Kolleg*innen aus der Gipsformerei zusammen,
sondern auch mit der Restauratorin Aurelia Badde, die sich um
konservatorische und restauratorische Aspekte kümmert – ein neues Feld,
schließlich wurden die Formen und Modelle traditionell eher als
Werkzeuge denn als Sammlungsobjekte wahrgenommen, so dass das, was wir
im Museum unter „Sammlungspflege“ verstehen, in der Gipsformerei erst
erarbeitet werden muss.
Sie sprachen gerade von einer „Abformungskampagne“ – was kann man darunter verstehen? Die Gipsformerei existiert seit 1819 und hat besonders in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert immer wieder
groß angelegte Abformungsprojekte gestartet. Diese wurden in den
Berliner Museen oder in ausländischen Sammlungen durchgeführt, aber auch
an den historischen Kulturstätten selbst, etwa bei den deutschen
Grabungen in Olympia ab 1874. Häufig wurden hier hunderte von Objekten
abgeformt. Bei solchen Projekten sprechen wir von einer
Abformungskampagne.
Was genau ist das Ziel des Projekts und wie erfolgte die Auswahl der 300 Inventarnummern? Unsere Forschungsergebnisse werden den ersten Teil eines
wissenschaftlichen Bestandskataloges der Gipsformerei bilden. Wir haben
uns für das Projekt auf Formen und Modelle nach verloren gegangenen
Originalkunstwerken konzentriert – ein für die Staatlichen Museen zu
Berlin besonders bedeutungsvoller Teilbestand. Denn die Gipsformerei
konserviert unter anderem auch Originalkunstwerke in Gips, die heute
nicht mehr vorhanden sind, die beschädigt wurden oder aus verschiedenen
Gründen nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten sind. So
wurden zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Werke vernichtet
oder als Kriegsbeute außer Landes gebracht. Mich interessieren hier dann
zunächst ganz naheliegende Fragen: In welchem Museum waren diese Werke,
welche Bedeutung haben oder hatten sie für die Kunstgeschichte, wann
und unter welchen Umständen gingen sie verloren oder wurden sie
beschädigt? Die meisten dieser Objekte stammen aus den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin,
vor allem aus der Skulpturensammlung und dem Museum für Byzantinische
Kunst, aber auch aus der Antikensammlung, dem Ägyptischen Museum, der
Nationalgalerie, dem Kunstgewerbemuseum, dem Museum für Asiatische Kunst
und dem Ethnologischen Museum, so dass es bei meiner Arbeit auch um
einen intensiven Austausch mit den jeweiligen Fachkolleg*innen geht. Die
wichtigsten Fragen bei diesem Projekt richten sich dann aber wiederum
an die Gipse: Wann und warum wurden die jeweiligen Originale abgeformt,
wie ist man bei den Abformungen vorgegangen, wer war involviert und was
ist von dem ursprünglichen Formen- und Modellbestand heute noch
vorhanden?
Lässt sich denn über die involvierten Former*innen und Gießer*innen heute noch etwas herausfinden? Und ob. Im Rahmen der Objektforschung finden wir zum Beispiel immer
wieder historische Signaturen an den Formen und Modellen. Das ist jedes
Mal ein Glücksfall, weil die Formen und Modelle zwar keine Kunstwerke im
engeren Sinne sind, aber auf jeden Fall handwerkliche Meisterleistungen
darstellen, die teilweise heute gar nicht mehr möglich sind. Die
Signaturen ermöglichen es uns, Autorschaften und Biografien
nachzuvollziehen – etwa die von Robert Saake, einem Bildhauer, der von
1874 bis 1959 gelebt hat und unseres Wissens von 1903 bis 1924 als
Former in der Gipsformerei tätig war. Über ihn wissen wir noch nicht
viel, wir haben aber nach wenigen Projektwochen bereits mehrere von ihm
signierte, höchst qualitätvolle Stückformen gefunden. Es geht also auch
darum herauszufinden, welche Menschen hier gearbeitet haben und was sie
hinterlassen haben.
Wie
kommt es, dass sich die Gipsformerei neuerdings wissenschaftlich
aufstellt und ein Interesse an der eigenen Sammlung und Geschichte
entwickelt? Diese Entwicklung läuft schon seit über fünf Jahren. Ein wichtiger Meilenstein war das große Symposium „Casting. Ein analoger Weg ins Zeitalter der Digitalisierung?“ im November 2015, das wichtige Impulse für diesen neuen Fokus lieferte, genauso wie die Ausstellung „Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei“
in der James-Simon-Galerie 2019/20. Aber auch im internationalen
Diskurs passiert seit einigen Jahren sehr viel, Abgüsse werden in der
Wissenschaft immer wichtiger. Die Gipsformerei ist die älteste
Einrichtung der Staatlichen Museen zu Berlin und traditionell betrachtet
eine Manufaktur. Sie ist zugleich aber eben auch eine Sammlung, deren
historische Bedeutung es herauszuarbeiten gilt. Zumal die Gipsformerei
weltweit einzigartig ist, nur in Paris und Brüssel haben Formereien von
annähernd vergleichbarer Größe überlebt. Historisch betrachtet haben
Abgüsse einiges zu erzählen, etwa über die Geschichte unserer Museen,
über die kunsthistorische Kanonbildung im 19. Jahrhundert oder den
Geschmack des Publikums. Man muss sie nur zum „Sprechen“ bringen. Es
wird also Zeit, dass die Gipsformerei nicht nur als reine
Produktionsstätte, sondern auch als ein Gegenstand – und als Ort –
spannender Forschungen wahrgenommen wird.
Stichwort
Digitalisierung – ist die Tatsache, dass digitale Techniken die alten,
analogen immer mehr ersetzen auch ein Grund für dieses neue Interesse? Die Rückbesinnung auf das Analoge im Allgemeinen spielt natürlich eine
Rolle. Das Interesse an altem Handwerk und an der Arbeit mit den Händen
entspringt sicher auch dem Umstand, dass die meisten Menschen heute am
Computer arbeiten. Bei der Gipsformerei sind in Bezug auf die
Digitalisierung zweierlei Punkte wichtig: Einerseits sollen die analogen
Techniken erhalten werden. Gipskunstformer*in ist kein
Ausbildungsberuf, das heißt, das Wissen um die alten Formenbau- und
Abgusstechniken wird in der Gipsformerei mündlich weitergegeben, es ist
in unseren Augen ein immaterielles Kulturerbe, das geschützt und aktiv
erhalten werden muss. Andererseits muss auch die Gipsformerei am Puls
der Zeit bleiben und kann von neuen Technologien profitieren. Denn
natürlich arbeitet man in der Gipsformerei heute anders als vor hundert
Jahren – damals konnte man ins Museum gehen und direkt am Original
Formen abnehmen. Das ist heute aus konservatorischer Sicht
berechtigterweise nicht mehr möglich. Da bieten berührungsfreie
Verfahren eine gute Alternative.
Was fasziniert Sie selbst an diesem Thema am meisten? Die Expertisen aus Wissenschaft, Konservierung und dem
Gipsformerhandwerk zusammenzubringen und damit einen interdisziplinären
Forschungsbeitrag in einem noch wenig erforschten Feld zu leisten, ist
eine sehr schöne Herausforderung. Hinzu kommt, dass die Sammlung der
Gipsformerei überaus faszinierend ist – wer einmal dort gewesen ist,
wird das bestätigen. Sie ist sehr heterogen, da gibt es plastische
Bildwerke von der Vor- und Frühgeschichte bis ins 20. Jahrhundert, von
der griechischen Großplastik über die byzantinische Öllampe bis zum
javanischen Buddhakopf – deswegen ist diese Sammlung meiner Meinung nach
ein kleines universelles Museum. Da werden wir mit unserem Projekt und
unserem Querschnitt von 300 Inventarnummern hoffentlich noch eine Menge
Schätze bergen.
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