Analoge Datenbank der skulpturalen Weltkunst: Die Gipsformerei in Charlottenburg ist die älteste Einrichtung der Staatlichen Museen – und wird nun saniert und nach einem Entwurf des Architekturbüros von Gerkan, Marg und Partner (gmp) erweitert
Text: Irene Bazinger
Es gibt viele Menschen, die man beneiden kann – weil sie so hübsch, so klug, so froh, so reich sind. Aber abgesehen davon gibt es überdies Menschen, die man aus völlig anderen Gründen beneiden kann – weil sie nämlich einen ganz wunderbaren Beruf haben. Und dazu zählen bestimmt die Mitarbeiter*innen der Gipsformerei in Charlottenburg. Ja, gut, da wird es sicher manchmal auch Stress und Probleme und Reibereien geben, doch wer seine Tage zwischen den schönsten Statuen und kostbarsten Reliefs verbringen darf, wer Hand anlegen kann, dass uns die alten Ägypter und die jüngeren Germanen plastisch präsent bleiben, ist wirklich als Glückspilz zu bezeichnen.
Schon wenn man sich dem denkmalgeschützten Backsteingebäude nähert, in dem 1819 die Königlich Preußische Gipsgussanstalt gegründete wurde, freut man sich über die eine oder andere Büste, die aus den Fenstern hervorlugt, und ahnt im Licht der Neonröhren weitere Schätze. Und so ist es tatsächlich: Kaum dass Miguel Helfrich, der Leiter der Gipsformerei, die Tür zur ältesten Einrichtung der staatlichen Museen zu Berlin öffnet, kann man nur noch schauen und staunen. Bereits die Treppenhäuser sind voller hinreißender Gipsmodelle, dicht an dicht hängt da – und dann überall – in handgemachten Abbildern die skulpturale Weltkunst von der Antike bis ins 19. Jahrhundert.
Einzigartige Abbilder
Im strengen Sinne sind das keine Originale, die befinden sich zu einem großen Teil in den Museen der SPK, zu einem anderen überall auf der Welt – aber sie können das Abbild eines Werks auf einzigartige Weise ins Heute holen. Und wenn man sich genauer damit beschäftigt, wie Bildhauer früher gearbeitet haben, wie oft sich ihre Kreationen veränderten, wie sich die Nachgeborenen auf immer wieder andere Wahrnehmungsmuster verlegten, erscheint der Begriff des Originals ohnedies etwas problematisch. Schließlich stammt er recht eigentlich erst aus dem 19. Jahrhundert und diente vor allem dazu, dass Sammler*innen den kommerziellen Wert ihrer Objekte besser festlegen konnten.
In der Gipsformerei jedenfalls hält man sich so eng wie möglich an die jeweiligen Vorlagen. Das heißt zum einen, dass alles im Maßstab 1:1 gebaut ist und also zum Beispiel keine Miniaturausgaben des siegreichen Davids von Donatello angefertigt werden, und zum anderen, dass die Repliken sich am Erstzustand der meistens als Kontaktabformung abgenommenen Modelle orientieren. Der Bamberger Reiter etwa sieht, wenn man ihn bestellt, so aus, wie er zur Zeit seiner Abformung im Jahr 1882 ausgesehen hat – und nicht wie heute, nachgedunkelt und angegriffen durch Umwelteinflüsse und Tourist*innenströme. Auch eine Statue von Tilman Riemenschneider kann entsprechend hell ausfallen wie einst, als sie geschaffen wurde – diesen Farbstatus haben Restaurierungsarbeiten eruiert.
Höchste Qualität mit der Kraft des negativen Denkens
Wo aber kommen diese grandiosen Artefakte her, denen man hier auf Augenhöhe begegnen kann? Ja, natürlich werden sie gegossen, das fällt einem spontan ein. Das ist allerdings nur ein kleiner Teil des Herstellungsprozesses, denn „90 Prozent der Wertschöpfung basieren auf dem delikaten und schwierigen Umgang mit historischen Formen“, erläutert Miguel Helfrich. Diese Formen gibt es aus Gips (sehr genaue Wiedergabequalität, komplizierte Fertigung, lange haltbar), Leim (komplizierte Fertigung, Einwegform, für seltene Bestellungen) oder Silicon (einfache Fertigung bei häufigen Bestellungen). Vorzustellen hat man sie sich jedoch nicht als geschlossenes, intaktes Gefäß, im Gegenteil: Oft liegt die Stückform in zahllosen Teilen wie lockerer Bauschutt in einer Kiste herum. Es bedarf der geschulten und versierten Augen wie Hände der Gipskunstformer*innen, um aus diesem chaotischen Puzzle die Schablone für eine neue Skulptur zusammenzustellen.
Allein das ist schon eine famose Leistung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann. Trotzdem ist hier einer der wenigen Lebensbereiche, wo, wie Miguel Helfrich scherzhaft zu sagen pflegt, sich negatives Denken unbedingt lohnt – schließlich müssen die Gipskunstformer*innen häufig seitenverkehrt vorgehen. Da ihr jetziger Beruf inzwischen nicht mehr gelehrt wird, sind es überwiegend Stuckateur*innen, Restaurateur*innen, Bronzegießer*innen, Glockengießer*innen oder Modellbauer*innen, die sich bewerben, fortbilden und angestellt werden.
Auf „Groß“ spezialisiert
Es sind exzellente, handwerkskünstlerisch erstklassige Spezialisten für kleinste Strukturelemente und prächtige Monumentalstatuen, denn die Berliner Gipsformerei ist, anders als vergleichbare Einrichtungen in Brüssel und Paris, auf große Werke konzentriert – und damit die einzige auf der Welt. Und groß heißt wirklich groß, also etwa die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die 42 Meter hohe Mark-Aurel-Säule aus Rom, das 4,20 Meter messende Reiterstandbild des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Das hat sich herumgesprochen und 2012 streifte selbst ein Künstler wie Jeff Koons beeindruckt durch die Säle und orderte für seine Reihe „Gazing Ball“ Abgüsse – jeweils viermal die „Schlafende Ariadne“, den Herakles von Farnese, „Apollo Lykeios“ von Bianconi und einen antiken Zentauren.
Die Käufer*innen der Erzeugnisse der Gipsformerei hatten schon immer vielfältige Interessen: Neben repräsentativen und dekorativen Zwecken im öffentlichen Raum (aus wetterfestem Polymergips) oder in öffentlichen Institutionen wie Universitäten oder Gerichten dienten sie Künstler*innen zu Studienzwecken. Viele Museen ließen sich die hohe Kunst abgießen, die sie nicht hatten und trotzdem zeigen wollten. Und natürlich schmückten Privatleute Haus und Hof gern mit dreidimensionalem Bildungsgut. Eines eint sie alle: „Sie wollen höchste Qualität“, so Helfrich.
Sanierung und Erweiterung werden für mehr Platz sorgen
Darüber hinaus ist die Gipsformerei als produzierende Manufaktur auf höchstem Niveau mit ihren alten Formen und Abgüssen ein historisches Museum. Miguel Helfrich nennt sie „Sicherungskopien“ und „analoge Informationsspeicher“, die hier verwahrt werden, und spricht von den Modellen – also den Erstabgüssen – als zugehörigem „Backup“. Letztere dienen nicht nur als Referenzobjekte für die Fertigung, sondern auch als historische Primärquelle für Vorlagen, die beschädigt oder zerstört wurden oder einfach verschwunden sind. Der Lauf der Zeit wird in diesen skulpturalen Momentaufnahmen angehalten und bewahrt zugleich die Spuren der Zeit. Man kann verfolgen, welches Artefakt wann wie aussah und wie es gesehen wurde.
Die Büste der Nofretete beispielweise, die sehr gefragt ist und regelmäßig bestellt wird, stand im Haus des Mäzens James Simon – und hatte zwei aufgemalte Augen. Dies war eine nachträgliche Korrektur, denn als sie 1912 in Ägypten gefunden wurde, fehlte die linke Pupille, indes Iris und Pupille des rechten Auges aus schwarz gefärbtem Bienenwachs gefertigt waren, das ein dünn geschliffener Bergkristall aus Hornhaut bedeckte. Seit 2009 verbreitet die großzügige Schenkung Simons im Neuen Museum ihre überwältigende Anmut – so, wie die Nofretete einstens entdeckt wurde, und fasziniert weiterhin ihr Publikum. Und das tut sie auch in den Faksimiles der Gipsformerei, wo man die Vielschichtigkeit des Farbauftrags bei berührungsfreien Untersuchungen durch das Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen genauestens erforschen ließ, um die Büste farblich originalgetreu ausführen zu können.
Anspruchsvoll ist ferner eine Kooperation mit der Technischen Universität Berlin, um den Einsatz von 3-D-Druckern bei der Konservierung der alten Formen und vielleicht irgendwann bei der Fertigung zu entwickeln.
Auf Tuchfühlung zu Kunst aus allen Kulturen
Vor Ort in der Gipsformerei kann man mit wenigen Schritten durch die Jahrtausende und über die Kontinente wandern, immer fast auf Tuchfühlung zu den Kunstwerken aus allen Kulturkreisen, ob es historische Persönlichkeiten, mythische Figuren oder religiöse Vertreter*innen sind. Sie sind überall – und sie machen glücklich. Den meisten von ihnen wird man niemals näherkommen als hier. Indem sie sich zu uns herabbegeben, erhöhen sie uns.
Doch weil die Ressourcen der Gebäude ziemlich erschöpft sind, findet ab nächstem Jahr eine Grundsanierung und zusätzlich eine Erweiterung der Gipsformerei statt. Den Architekturwettbewerb gewann Anfang 2023 das Hamburger Büro gmp mit einem Low-Tech-Konzept, um den Energieverbrauch zu minimieren und die CO2-Emissionen sowie den Ressourceneinsatz zu reduzieren. Die Gipsformerei hat dann neue Platzkapazitäten, bessere Lagermöglichkeiten, eigene Restaurierungswerkstätten, kann ihre Skulpturen in einer geräumigen, hellen Montagehalle leichter zusammensetzen. Und sie wird als Wunderkammer der Kunstgeschichte und Handwerkskunst noch mehr Menschen an ihren Schätzen teilhaben lassen – die sie in all ihrer produktiven Schönheit begeistern und beseelen werden.
Die Wettbewerbsergebnisse werden in einer Ausstellung vom 31.1. bis 19.2.2023 in der zentralen Eingangshalle im Kulturforum gezeigt.
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Die Gipsformerei wurde NICHT 1819 in dem heutigen Gebäude gegründet. Sie ist nach mehreren Stationen 1891 erst in den Neubau in der Sophie-Ch.-Str. eingezogen.
Im Einsatz , als Material, gibt es nicht nur unterschiedliche Gipssorten, sog. Polymergipse, aber für den geschützten Außenbereich modifizierte Kunststoffe aus Acrylate und für ungeschützten Außenbereich z.B. Kunststoffe aus Epoxidharze und Polyehsterbassis.
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Die Gipsformerei wurde NICHT 1819 in dem heutigen Gebäude gegründet. Sie ist nach mehreren Stationen 1891 erst in den Neubau in der Sophie-Ch.-Str. eingezogen.
Im Einsatz , als Material, gibt es nicht nur unterschiedliche Gipssorten, sog. Polymergipse, aber für den geschützten Außenbereich modifizierte Kunststoffe aus Acrylate und für ungeschützten Außenbereich z.B. Kunststoffe aus Epoxidharze und Polyehsterbassis.