Der gesamte Nachlass von June und Helmut Newton ist nun in ihrer Stiftung in Berlin angekommen und wird von Matthias Harder und seinem Team für weitere Ausstellungen aufgearbeitet
Text: Irene Bazinger
Er ist der Fotograf, von dem bisher weltweit die meisten Bilder veröffentlicht sind, und zwar in Büchern, Zeitschriften, Katalogen, Kalendern, die Ausstellungen nicht mitgerechnet: Helmut Newton. Er und seine Frau June, die unter dem Künstlernamen Alice Springs arbeitete, waren ein Glamourpaar in der Fotoszene, wie es bis dahin keines gegeben hatte – berühmt, erfolgreich, glücklich in beruflicher wie in privater Hinsicht. Der Anfang freilich stand politisch unter keinem guten Stern, es hätte für Helmut Newton auch alles ganz anders kommen können: Geboren wurde er 1920 in eine wohlhabende jüdische Unternehmerfamilie in Berlin und begann 1936 eine Lehre bei der renommierten Porträt- und Modefotografin Yva. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er sich allerdings bald in Sicherheit bringen und flüchtete im Dezember 1938 vor den Nationalsozialisten erst nach Singapur, dann nach Australien, seine Familie rettete sich nach Südamerika. Trotzdem ist er später immer wieder nach Berlin zurückgekehrt, gründete 2003 die Helmut Newton Stiftung, die ins ehemalige Landwehrkasino in der Jebensstraße am Bahnhof Zoologischer Garten eingezogen ist – eines der letzten Gebäude in seiner Heimatstadt, die er sah, als der Zug abfuhr und ihm ins Exil verhalf. Die Eröffnung erlebte Helmut Newton jedoch nicht, er erlitt kurz vorher einen Herzinfarkt am Steuer seines Autos in Kalifornien, wo sich das Ehepaar während der Wintermonate aufzuhalten pflegte. 2021 verstarb auch seine Witwe June, und zwar in Monte Carlo, wo sie und ihr Mann seit vielen Jahren daheim gewesen waren. Anfang 2023 war Matthias Harder, der kuratierende Direktor der Stiftung, mit seinem Team vor Ort, um den Nachlass zu sichten – die Stiftung ist die Alleinerbin – und die Wohnung aufzulösen.
Wie man sich denken kann, war das keine leichte Aufgabe: Zum einen wegen der emotionalen Verbundenheit, zum anderen wegen der enormen Fülle des Materials. Die Folge dieser reichen Ernte wird nicht mehr und nicht weniger als eine Neuorganisation der zwei Etagen der Stiftung im Museum für Fotografie nach sich ziehen. Schon jetzt kann man dort im Bereich „Private Property“ das mit Originalmobiliar aufgebaute Arbeitszimmer von Helmut Newton sehen. In Vitrinen hängen Kleidungsstücke, die er getragen hat, und einige der Kameras, die er benutzt hat, liegen aus. Nach der Umgestaltung wird es explizit um die Biographie und das Werk von beiden zusammen gehen, schließlich sind Helmut und June Newton ohne einander nicht zu denken – 55 Jahren waren sie ein Paar. Das hat man gewusst, weil sie es überzeugend betont und gezeigt haben. Bald wird man es auch nachlesen können, denn Matthias Harder hat zum Beispiel Liebespostkarten entdeckt, auf denen sie sich einander – „total süß“, sagt er – ihrer Zuneigung versichern. Das sind die privaten Zeugnisse einer lebenslangen Beziehung. Dazu kommen nun Objekte wie Teppiche, Möbel, ein Gartenzwerg als Stuhl, Berge von Büchern, Belegexemplare, Kunstwerke, die sie gemeinsam kauften, und lustigerweise mancher Kitsch, was dem 300 Quadratmeter großen Appartement in Monte Carlo seinen so ungewöhnlichen wie individuellen Charakter verlieh.
Ein Kompetenzzentrum für die Newtons
Wenn am 2. Juni die „Alice Springs. Retrospektive“ eröffnet wird, kann man tatsächlich bereits einen Blick ins private Refugium der Newtons werfen. Im Ausstellungraum nämlich, der bislang den Titel „June’s Room“ trug, wird dann der Living Room aus Monte Carlo eingerichtet sein, mit roten Ledersofas, einem gläsernen Couchtisch, Teilen der Bibliothek, ungewöhnlichen Lampen, Gemälden, Vasen, mancherlei kuriosem Zierat. Es ist ein freigeistiger, behaglicher Raum und man kann sich gut vorstellen, wie die zwei sich da einst bequem hinsetzten und über ihre Aufträge, Angebote und Projekte diskutierten. Natürlich sind unendliche Mengen an Negativen, Fotos, Kontaktabzügen, Polaroids nach Berlin gebracht worden und werden in den nächsten Jahren systematisch aufgearbeitet und der Öffentlichkeit in den Museumsräumen zugänglich gemacht. Parallel entsteht in der Stiftung eine umfangreiche Datenbank, die auch für externe Kulturwissenschaftler*innen offen sein wird, wenn sie über das Werk von Helmut Newton und Alice Springs forschen. Um die 600.000 Fotos hat allein Helmut Newton belichtet, sie werden in weiteren Ausstellungen peu à peu gezeigt.
So wird die Berliner Stiftung vollumfänglich „zum Kompetenzzentrum für Helmut Newton und Alice Springs“, wie es Matthias Harder formuliert – und er weiß alles (wirklich alles) über sie. Wie niemand anderer ist er mit dem Oeuvre der beiden vertraut, verfügt über belastbare Hintergrundinformationen und Daten zur Wirkungschronik, hat Newton doch bereits zu Lebzeiten zahlreiche Künstler*innen inspiriert. Harder kennt herrliche Anekdoten und harte Fakten sowie diverse Details zu den Vorbereitungen vieler Fotosessions, zu den Aufnahmen selbst und zu ihren Publikationen. In Sachen Newton ist Matthias Harder, der sich mit Arbeiten über die deutschen Fotografieklassiker Herbert List (1903-1975) und Stefan Moses (1928-2018) einen Namen gemacht hat, ein wandelndes Lexikon und man hört ihm mit Freude zu, denn die Geschichte der Newtons ist noch lange nicht auserzählt – und er vermag sie auf charmante und animierte Weise zu vergegenwärtigen. Obwohl er betont, dass er nicht dabei war, als sich die folgende Begebenheit zutrug, könnte man den Eindruck gewinnen, es wäre so gewesen, weil er den Beteiligten einfach sehr nahe ist: „Als sich Newton entschieden hatte, die Stiftung in der Jebensstraße zu situieren, stand er mit dem Kunstsammler und Galeristen Heinz Berggruen am Fenster und sie schauten hinüber zum Bahnhof Zoo. Sie waren eng miteinander befreundet. Beide hatten vor den Nazis fliehen müssen, beide waren nach Jahren nach Berlin zurückgekommen, um ein Museum respektive eine Stiftung zu gründen. Nachdem ihm Newton erzählt hatte, wie er damals zur Flucht gezwungen worden war, antwortete Berggruen voller Euphorie: ‚Siehst du, Helmut, und jetzt bist du wieder hier!‘“ Harder lacht glücklich auf, er scheint die Szene vor seinem inneren Auge zu genießen. Dort tut sich überhaupt viel, da er auch unzählige Fotos von Newton schnell in seinem Kopf abrufen kann: „Dieses visuelle Gedächtnis ist kein Verdienst, es ist eine angeborene Gabe, die ich habe und die mir besonders hilft, wenn ich rasch ein Foto heraussuchen soll oder zu einem bestimmten Motiv befragt werde.“
Weltweit ein Publikumsmagnet – mit Berliner Wurzeln
Von Beginn an war die Helmut Newton Stiftung dank der abwechslungsreichen Ausstellungen, die Matthias Harder mit seinem nur vierköpfigen Team organisierte und die vielfältige Positionen zeitgenössischer Fotografie im Kontext des Newtonschen Werkes präsentierten, ein Abenteuer des Sehens. Helmut und June Newton deckten das Feld der Mode- und Porträtfotografie ab, er war überdies eine Koryphäe in der Aktfotografie. Seine Arbeiten sind bekannter, mengenmäßig uneinholbar und sie sind höher bezahlt worden. Künstlerisch freilich sind die beiden, was die Porträts anbetrifft, „auf jeden Fall auf Augenhöhe“, so Matthias Harder. Er schildert, wie sie in diesem Genre völlig unterschiedlich vorgingen: Helmut inszenierte seine Bilder bis ins Detail, füllte ganze Notizbücher mit genauen Anweisungen für die Settings. Dann ließ er seine Fotopartner*innen darin frei. Sein ironisches Motto: „Ich liebe die Berühmten und die Berüchtigten – und die Berüchtigten ein bisschen mehr!“ June hingegen führte offene Vorbereitungsgespräche und schaffte es innerhalb kurzer Zeit, Vertrauen aufzubauen. Vermutlich liegt das daran, dass sie vor ihrer Karriere als Fotografin eine ausgebildete Schauspielerin war, meint Harder: „Sie kannte die Perspektive auf die Bühne hinauf und von der Bühne herunter. Sie wusste genau, wie sie ihre Modelle lockern und lösen konnte, damit die sich entspannt vor ihre Kamera begaben – ob es Catherine Deneuve oder Karl Lagerfeld waren, Robert Mapplethorpe oder Caroline von Monaco.“
Auch zwanzig Jahre nach seinem Tod ist Helmut Newton ein Publikumsmagnet. Die Retrospektive in Wien etwa zog Ende 2022 in rund neun Wochen über 100.000 Besucher*innen an. Ebenso wird die im März 2023 eröffnete Retrospektive in Mailand überrannt. Für 2024 plant Matthias Harder zum zwanzigjährigen Bestehen der Stiftung eine umfassende Schau mit dem thematischen Schwerpunkt Berlin. Newton hat in seiner Geburtsstadt oft und gern fotografiert. Im aktualisierten Nachlass fand sich als Trouvaille ein unbekanntes Manuskript, betitelt „Mein Berliner Tagebuch“. Für Matthias Harder wird es, dies sei schon mal verraten, wahrscheinlich der kuratorische Wegweiser für die Jubiläumsexposition sein, ergänzt durch die Werke ausgewählter Kolleg*innen, von Newtons Lehrmeisterin Yva bis ins Zeitgenössische. Denn, so Harder, „in Gruppenausstellungen versuchen wir, Newtons Fotografie immer wieder neu zu kontextualisieren“.
Helmut Newton, der Berliner, und June Newton, die Wahl-Berlinerin: Nach dem Motto „Keep them alive“ wird man jetzt erst recht in der Stiftung arbeiten und das lokale wie internationale Publikum kontinuierlich mit wechselnden Einblicken in das Oeuvre der zwei versorgen. Vom Bahnhof Zoo in die große Welt – was für eine Geschichte! Sie hat noch viel Zukunft, und das ist ein Glück, für Berlin und weit darüber hinaus.
Unsere Webseite verwendet Cookies. Diese haben zwei Funktionen: Zum einen sind sie erforderlich für die grundlegende Funktionalität unserer Website. Zum anderen können wir mit Hilfe der Cookies unsere Inhalte für Sie immer weiter verbessern. Hierzu werden pseudonymisierte Daten von Website-Besuchern gesammelt und ausgewertet. Das Einverständnis in die Verwendung der Cookies können Sie jederzeit widerrufen. Weitere Informationen zu Cookies auf dieser Website finden Sie in unserer Datenschutzerklärung und zu uns im Impressum.
Funktional Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.
Kommentare