Food Revolution:

Essen und Markt: Design Talk im Kunstgewerbemuseum

Fair, biologisch, regional sollen unsere Lebensmittel sein. Das lässt sich zumindest daran ablesen, wie der Markt und die Supermärkte auf die gestiegene Nachfrage reagieren. Aber wie lässt sich das umsetzen?

Text: Neila Kemmer

„Spätestens nach den vier Monaten Hitze und Trockenheit dieses Sommers in Deutschland, beginnt man sich zu fragen, ist das jetzt ernst mit dem Klimawandel?“ leitete Wilfried Bommert vom Institut für Welternährung den Talk „Essen – Markt – Wirtschaft“ anlässlich der Ausstellung „Food Revolution 5.0“ im Kunstgewerbemuseum ein. Ein ungerechter globaler Handel, Hunger, Lebensmittelverschwendung, Klimawandel – wir stehen einer Vielzahl von Problemen gegenüber, die unser Ernährungssystem mitverantwortet. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen arbeiten aktiv für einen Wandel. Im Rahmen der Ausstellung Food Revolution 5.0 haben wir Vertreter verschiedener Projekte eingeladen, ihre Ansätze vorzustellen. Nachahmung erwünscht!

Wilfried Bommert vom Institut für Welternährung e. V., Moderator des Abends © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Wilfried Bommert vom Institut für Welternährung e. V., Moderator des Abends © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

Den Stadtplaner Jan-Eelco Jansma beschäftigt, wie man Ernährung in die Stadt bekommt. Er forscht an der Wageningen University and Research (NL) zu den sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen urbaner Landwirtschaft. Außerdem ist er Mitglied des Expertenteams des feeding-the-city-Programms für die niederländische Stadt Almere. „Wie in Deutschland sind in Holland die meisten Städter Konsumenten, nicht Produzenten“, sagt Jansma. Aber es geht auch anders, wie in Oosterwold, einem Stadtteil von Almere in der Nähe von Amsterdam. Seit 2016 läuft dort das Projekt Agromere.

„Wer dort wohnen will, muss unterschreiben, Nahrungsmittel zu produzieren, also ein städtischer Bauer werden. Konkret bedeutet das, dass von jeder gekauften Fläche 50% landwirtschaftlich genutzt werden müssen. Inzwischen gibt es eine lange Warteliste von Leuten, die dort wohnen wollen. Diese städtische Planung von Landwirtschaft ist sehr neu in den Niederlanden. Und auch, wenn diese Idee keine Blaupause für jede Stadt werden kann, hilft sie mit bei der Wende im Ernährungssystem. Es gibt auch einen Almere-Bauern, der 40 bis 60 Hektar besitzt. Er vermietet Häuser und Appartements auf seinem Land und die Mieter finanzieren so seinen Betrieb mit. So kann Stadtplanung eine neue Idee von Stadt kreieren, in der zu leben nicht nur Konsum, sondern auch Produktion bedeutet.“

Jan-Eelco Jansma stellt das Projekt Agromere vor, das in der niederländischen Kleinstadt Almere eine enge Verbindung von Stadt, Wohnen, Landwirtschaft und Ernährung realisieren konnte. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Jan-Eelco Jansma stellt das Projekt Agromere vor, das in der niederländischen Kleinstadt Almere eine enge Verbindung von Stadt, Wohnen, Landwirtschaft und Ernährung realisieren konnte. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

Auch in München sollte vor zehn Jahren ein Stadtteil entwickelt werden, der die Stadt miternähren konnte. „Der Fall von Agropolis in München ist aber absolut anders gelagert“, sagt der Stadtplaner und Architekt Jörg Schröder. „Bei uns ging es, anders als in Almere, um einen dichten Stadtteil, nicht um Häuser mit Gärten am Stadtrand. In einem Ideenwettbewerb zur Stadtentwicklung haben wir damals das Thema Stadtentwicklung und Urbane Landwirtschaft positioniert.

Das war zu der Zeit relativ neu. Unsere Idee war, den Prozess des Bauens und die leeren Flächen im Entstehen des Stadtteils viel enger mit dem Thema Nahrung in Verbindung zu setzen. Die Wirtschaftskrise brachte in vielen Ländern, vor allem in den USA, Großbritannien, Südeuropa wichtige Impulse für das Thema Nahrung. Wenn man sieht, wie sich die Millionen in Luft auflösen, fragt man sich, was wirklich wichtig ist? Ein berühmtes Beispiel ist Detroit, diese ehemalige Autostadt mit schrumpfender Bevölkerung – eine leere Stadt, in der es plötzlich Platz gab.“ Schröders Augen leuchten. „Wir haben alle nach Detroit geblickt. Dort war urbane Landwirtschaft ein Zukunftsfaktor, der zum urbanen sozialen und kulturellen Leben beigetragen hat.“ Von diesem Vorbild kann man viel lernen.

Jörg Schröder, Architekt und Stadtplaner am Institut für Städtebau und Raumentwicklung der Leibniz Universität Hannover, sieht große Chancen in der Kreislaufwirtschaft. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Jörg Schröder, Architekt und Stadtplaner am Institut für Städtebau und Raumentwicklung der Leibniz Universität Hannover, sieht große Chancen in der Kreislaufwirtschaft. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

„In den letzten zehn Jahren zeigt sich eine zunehmende Disparität zwischen der extremen Konzentration in den Metropolen und leerfallenden Gegenden an der Peripherie oder eben in ehemaligen Industriestädten. Man muss zwischen der Situation in den Ballungsräumen wie München, Hamburg und auch in Berlin und anderen, in denen es ganz viel Platz gibt, differenzieren. In den dichten wachsenden Städten kämpft man erst einmal um Wohnung, um Infrastruktur, Bildungseinrichtungen, das heißt, die Flächenkonkurrenz nimmt zu. Dort muss man sich Freiräume erkämpfen, Lücken suchen, über Dächer, Fassaden nachdenken. Wir brauchen zudem neue Kooperationen zwischen Stadt und Land. Auch wenn man in der Stadt klein und innovativ denkt, darf man die Verbindung zum Anbau im größeren Maßstab nicht verlieren. Da gibt es nicht nur das Bild vom Städter, der mit dem Jeep auf den Hof fährt, und seine Eier kauft, sondern auch Menschen, die beispielsweise in einen Hof investieren und das als einen kulturellen, sozialen Faktor sehen, als Bildungsfaktor.“

Und es ist ein neues Projekt in der Pipeline. „Ich denke, ein wirklich interessantes Stichwort ist Circular Economy“, sagt Schröder. Als Professor am Institut für Entwerfen und Städtebau der Leibniz Universität Hannover leitet er das EU-geförderte Projekt Creative Food Cycles. In Kooperation mit der Abteilung Architektur und Design an der Universität Genua und dem Institute of Advanced Architecture of Catalonia in Barcelona sollen neue Beteiligungsformen, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft für Städte nutzbar gemacht werden.

Lukas Seiler ist im Vorstand der Transition-Town-Bewegung in Witzenhausen. Er fordert mehr Unterstützung der Kommunalpolitik, um Städte essbar zu gestalten. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Lukas Seiler ist im Vorstand der Transition-Town-Bewegung in Witzenhausen. Er fordert mehr Unterstützung der Kommunalpolitik, um Städte essbar zu gestalten. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

Witzenhausen bei Kassel ist eine der Städte, die sich als Transition Town bezeichnen, die in der Stadt so viel an Autarkie wahren wollen, wie möglich. Lukas Seiler lebt seit vier Jahren in der 13.000-Einwohner-Stadt und studiert Ökologische Agrarwissenschaft. „Die Idee der Transition Town sollte für Witzenhausen eigentlich nicht so besonders sein“, meint Seiler. „Seit circa 30 Jahren kann man dort Ökologische Agrarwissenschaft studieren. Aber die Stadtverwaltung sitzt nicht mit im Boot“, kritisiert er.

„Die Initiative Essbare Stadt ging vor fünf Jahren von einem kleinen Team aus: Wir wollen innerhalb des kleinen Innenstadtkerns mehr Flächen mit Gemüseanbau, Sträucher, Kräuter. Letzteres gibt es jetzt, aber nur an einer Stelle, auf der die Stadt ein Regenrückhaltebecken hat, eine Fläche die sonst asphaltiert wäre. Wir haben dort innerhalb einiger Jahre Boden aufgebaut und viele ausdauernde Pflanzen eingesetzt. Natürlich genieße ich das, durch die Stadt zu gehen und mir im Vorbeigehen eine Beere zu pflücken. Das ist besser, als wenn es die nicht gäbe. Aber mehr hat sich im Alltag auch nicht etabliert. Es liegt vor allem auch daran, dass die Stadtverwaltung diese Impulse nicht aufnimmt; so kann sich das nicht verstetigen. Wenn wir mehr Lebensmittel in der Stadt haben wollen, müssen wir Kommunalpolitik machen. In der lokalen Politik führt sich aus der Diskussion um städtische Ernährung, dass wir mehr Nahversorger brauchen. Es besteht eine Flächenkonkurrenz mit Discountern. Es ist schon eine absurde Situation, wenn man sich Fairtrade Town nennt und dann siedelt man kurz darauf einen Ein-Euro-Shop an. Der Staat hegt und pflegt Supermärkte. Graswurzelbewegung ist ein wichtiges Schlagwort, aber darin steckt extrem viel Arbeit, die gar nicht entlohnt wird.“

Aus dem Publikum gibt es Futter für die Fishbowl-Gäste, der Designer Peter Stephan wünscht sich den Blick auf globale Zusammenhänge. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Aus dem Publikum gibt es Futter für die Fishbowl-Gäste, der Designer Peter Stephan wünscht sich den Blick auf globale Zusammenhänge. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

Der Münchener Daniel Überall hatte auch im Supermarkt ein Aha-Erlebnis und hat dann vor sieben Jahren eine Solidarische Landwirtschaft gegründet, das Kartoffelkombinat. „Als Mensch, der auf dieser Erde keinen Schaden hinterlassen möchte, versucht man, sich im Alltag vernünftig zu verhalten. Zuerst stellt man auf Ökostrom um, dann wechselt man sein Konto zu einer ökosozialen Bank, man trennt natürlich Müll, versucht unnötige Autofahrten zu vermeiden und und und, und dann steht man doch im Supermarkt und denkt sich, warum ist das alles jetzt in Plastik eingepackt, und kommt vom anderen Ende der Welt. Davon hatten wir die Nase voll und dachten, da muss es doch andere Möglichkeiten geben. Gleichzeitig kam 2011 der Film „Taste the Waste“ von Valentin Thurn ins Kino und zeigte, dass das Thema Lebensmittelverschwendung in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist“, erzählt er und fügt hinzu: „Ich komme ja aus der Kommunikation und dem Marketing und glaube, sehr feinfühlige Antennen dafür zu haben, wann ein Thema reif ist. Und ich dachte: wenn wir jetzt so ein Projekt starten, dann trifft das den Puls der Zeit. Also aus dieser Mischung von persönlicher Unzufriedenheit über meinen eigenen Lebensstil und dem Opportunitätsfenster heraus, haben wir die Solidarische Landwirtschaft am Stadtrand gegründet. Das war das Spannendste, was wir damals fanden.“

Philipp Stierand, Daniel Diehl und Klaus Heider sprechen über die globalen Auswirkungen lokalen Handelns. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Philipp Stierand, Daniel Diehl und Klaus Heider sprechen über die globalen Auswirkungen lokalen Handelns. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

Eine Solidarische Landwirtschaft ist meist genossenschaftlich organisierter Zusammenschluss von Menschen, die einen landwirtschaftlichen Betrieb vorfinanzieren und dafür Ernteanteile erhalten. „Unser Anspruch ist kein geringerer, als die Versorgungsstruktur im Großraum München zu verändern“, erklärt Überall. „Man bringt die komplette Wertschöpfungskette unter die eigene Kontrolle. Wir sind keine Haushaltsgemeinschaft, die mit einem Erzeuger kooperiert, sondern wir wollten von Anfang an einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb führen – das ist natürlich schwer, wenn man nicht aus der Landwirtschaft kommt, keinen Betrieb erbt, null Euro Startkapital und auch nicht das Know-How hat. Es hat am Ende 6 Jahre gedauert, als Genossenschaft einen eigenen Betrieb zu kaufen. Wir wollten keine Hobby-Truppe sein, die bei Sonnenuntergang die Tomaten gießt, sondern beweisen, dass ein gemeinwohlfähiges Wirtschaften dauerhaft tragfähig ist. Seit jetzt eineinhalb Jahren bewirtschaften wir 18 Hektar und versorgen inzwischen damit 1.500 Familien. Im Verhältnis zu den 2 Millionen Einwohner*innen Münchens ist das immer noch ein Tropfen auf den heißen Stein.“

Philipp Stierand hat den Blog Speiseräume ins Leben gerufen, ein Online-Magazin über kommunale Ernährungspolitik und Stadternährungsplanung. „Am Anfang stand die Suche nach der Verbindung zwischen Ernährung und Stadt, gefolgt von der Frage, wie Ernährung in Kommunalpolitik und Raumplanung einfließen kann. Gerade dass es dabei viel um Experimente geht, dient als Argument für eine kommunale Arbeit. Denn viele Kommunen bedeuten viele Leute bedeuten viele Ansätze und viele Möglichkeiten. Da das Thema Ernährung aber nicht in der kommunalen Politik verankert ist, haben wir heute als Institutionen die Ernährungsräte, in Amerika und Großbritannien die Food Policy Councils. Ein Ernährungsrat ist eine Organisation auf lokaler Ebene mit der Idee, alle, bzw. möglichst viele Akteure, die mit dem Thema Ernährung zu tun haben, miteinander zu vernetzen und daraus Ernährungspolitik zu entwickeln“, erklärt Stierand.

Klaus Heider vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat selbst Städtebau studiert und sich mit der Bedeutung des Kleingartenwesens in Deutschland befasst. Er ist zuversichtlich, dass auch in der Bundespolitik ein Perspektivwandel rund um das Thema Ernährung einstellen wird. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze
Klaus Heider vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat selbst Städtebau studiert und sich mit der Bedeutung des Kleingartenwesens in Deutschland befasst. Er ist zuversichtlich, dass auch in der Bundespolitik ein Perspektivwandel rund um das Thema Ernährung einstellen wird. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum/Kai von Kotze

„Sie sind in Deutschland meist zivilgesellschaftlich. Köln ist die einzige Ausnahme. Dort sitzen Stadtvertreter und Zivilgesellschaft zusammen an einem Tisch. In London sind sie sogar Beratungsgremien, in die Vertreter der Politik hineinberufen werden“, erläutert Stierand. Historisch gesehen ist die Situation noch gar nicht so alt. „Früher war Ernährung durchaus ein Thema der lokalen Politik. Vor der Industrialisierung war Ernährung eine überlebenswichtige Aufgabe in der Stadtentwicklung, als man sich noch lokal ernährt hat. Die großen Städte stehen heute auf bestem Ackerland. Als sie gegründet wurden, brauchte man das zur Versorgung, weil man Lebensmittel nicht transportieren konnte. Das ist mit den Fortschritten im Ernährungssystem verloren gegangen.“

Für die Zukunft hat Philipp Stierand eine Vision: Vielfalt. „Unsere momentane Lebensmittelversorgung ist auf allen Ebenen gekennzeichnet durch Monokulturen. Da denke ich nicht nur an die Landwirtschaft und die Maisfelder, die ich im Münsterland jeden Tag sehe, und die Gene im Hintergrund, beim Saatgut und in der Tierzucht. Ich sehe die Monokultur auch in der wirtschaftlichen Struktur im Zulieferbereich, bis hin zum Sortiment in den Supermärkten. Das Gegenmodell ist eine Agrodiversität, eine Vielfalt der räumlichen Maßstäbe. Ich halte die Idee, alles regional machen zu wollen, für einen Irrläufer. Der regionale Sektor macht höchstens zwei Prozent am Lebensmittelmarkt aus – deswegen muss man ihn stärken, aber wir brauchen genauso auch den globalen, damit Menschen mit dem Export zu uns Geld verdienen können. Die Idee ist, sich das ganze System Landwirtschaft, Handel, Versorgung anzusehen, um auf der lokalen Ebene etwas entstehen zu lassen. Und wir brauchen eine Vielfalt der Strukturen durch die ganze Kette durch bis in den Handel.“

Passiert etwas in diese Richtung auf bundes- und EU-politischer Ebene im Bereich Ernährung? Klaus Heider, Leiter der Abteilung Ernährungspolitik, Produktsicherheit und Innovation beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) konstatiert: „Regierung und Politik nehmen durchaus, wenn auch mit großer zeitlicher Verzögerung, gesellschaftliche Diskussionen auf, also auch das Thema Ernährung im System mit der Landwirtschaft oder die Welternährung.“ Er skizziert die Entwicklung im Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium: „Seit Anfang 2000 gibt es ein Referat für Ernährung und ein Referat Notfallvorsorge, das sich um Krisenfälle und Notfalllager kümmerte. Als zusätzliches Aufgabenfeld der Politik kam dann die Kennzeichnung von Lebensmitteln hinzu, nachdem sich die Leute immer weiter vom Ursprungsprodukt und den Kenntnissen über ihre Lebensmittel entfernt haben. Vor drei/vier Jahren wandte man sich der Ernährungswissenschaft zu, dann dem Wegwerfen bzw. der Wertschätzung von Lebensmitteln. Seit Anfang September gibt es jetzt das Referat Ernährungskultur und Zukunft der Ernährung.

Fluchtursachenbekämpfung ist auch ein neues Referat. Deshalb wäre ich in Richtung der Städte optimistisch und sehe die Entwicklung der Ernährungsräte sehr positiv. Ich glaube, da wird in den nächsten fünf Jahren einiges an Schwung hineinkommen.“ Jörg Schröder wendet ein: „Soweit ich weiß werden EU-Agrarmittel (GAP), die ja eigentlich für Nahrungsproduktion gedacht sind, in deutschen Städten noch nicht eingesetzt“ und fragt: „Gibt es dafür eine Perspektive?“ „Bislang nicht“, erwidert Klaus Heider, „Jetzt gerade startete die Diskussion um die GAP (Gemeinsame Agrarpolitik) nach 2020 – die europäische Agrarpolitik läuft in größeren Förderzeiträumen. Sie trägt jetzt den Titel Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft, d.h. der Begriff Ernährung wurde aufgenommen, und eines der nur neun Ziele heißt, gesellschaftliche Erwartung an gesunde nachhaltige, sichere Ernährung und Tierwohl in der Landwirtschaft zu berücksichtigen. Man muss zugeben, die EU-Förderinstrumente sind in Richtung Landwirtschaft gebaut. Es sind dennoch solche Nuklei drin, wie die Förderung von Wochenmärkten. Außerdem wurde das Schulprogramm gerade ausgebaut, das frühere Schulmilchprogramm, das eigentlich ein Absatzförderungsprogramm war. Nun geht es zwingend mit Bildungsmaßnahmen im Ernährungsbereich einher und ist nicht mehr allein auf die Milch ausgerichtet, sondern auch auf Obst und Gemüse. Das sind, zugegeben, kleine Pflänzchen.“

BILD: Kunstgewerbemuseum_Food Revolution_Design Talk_Essen-Markt-Wirtschaft-2

Ein Fishbowl-Gast mischt sich ein: Peter Stephan, seines Zeichens Transformation-Designer. Ihn beschäftigen Entwicklungshilfe und Ernährung. „Ich sehe immer die Infografiken aus der Ausstellung hinter den Speakern und befürchte, dass wir in dieser Diskussion zu kleinteilig werden, pointiert gesagt, nur First-World-Probleme diskutieren. Mein Wunsch wäre, den gesammelten Sachverstand zu nutzen, den Blick zu heben und die globale Perspektive zu besprechen.“

Damit liefert er Daniel Diehl von Slow Food Deutschland praktisch eine Steilvorlage. Der Verein, Teil von Slow Food International, ist eine rein zivilgesellschaftliche Bewegung, ein basisdemokratischer Verein, der weltweit organisiert ist. „Ich komme aus der Entwicklungshilfe“, erklärt Daniel Diehl, „und habe jahrelang im globalen Süden gearbeitet. Ich bin ernüchtert zurückgekommen, weil ich festgestellt hatte, die Probleme, die wir dort bekämpfen, werden eigentlich hier verursacht. Die Landnahme in Kambodscha, wo ich lange war, hat z. B. hier ihre Ursache.“ Er fährt fort: „Es geht nicht nur um Policys, Vorgaben und Planung, sondern es fängt mit einer Bewusstseinsänderung an. Wir müssen Ernährungspolitik ganzheitlich betrachten. Slow Food und mich sehe ich da als Beziehungsstifter, um Produzenten, Verarbeiter, Konsumenten – die wir Co-Produzenten – nennen, zu vereinen. Und ich persönlich halte Ernährungsbildung für den Schlüssel dazu.“

Der Agrar- und Sozialwissenschaftler leitet das Bildungsprojekt Boden Begreifen bei Slow Food Deutschland: „Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, den Berliner Schulkindern einen Lernraum zu ermöglichen, der außerhalb ihrer gewohnten Umgebung liegt. Das heißt, ich bringe die Kinder auf den Acker, auf Solidarische Landwirtschaften in und um Berlin. Wir haben ca. ein Dutzend davon, die zu großen Teilen auch mit der S-Bahn zu erreichen sind. Dort können die Kinder reale Erfahrung in landwirtschaftlichen Prozessen machen. Für Kinder ist es wichtig, zu merken, wie viel Arbeit es ist, eine Kartoffel zu hegen und pflegen, zu gießen, zu ernten und wie viel Fläche wir brauchen, um uns zu ernähren. Ich beginne meine Veranstaltungen immer mit der Frage: Wo kommt euer Essen her? Und 60% der Kinder schreiben Supermarkt. Sie haben völlig den Bezug zu ihrem Essen verloren. Aber das Essen kommt nicht aus einer Maschine, der Boden ist nicht einfach da und produziert unendlich viel. Sondern da stehen Menschen dahinter, Kultur, eine Historie, die die landwirtschaftlichen Güter erwachsen hat lassen. Diese Beziehung zwischen den Menschen, die Nahrung zu sich nehmen, und den Menschen, die sie produzieren, wieder herzustellen, hat natürlich globale Auswirkungen.“

„Ich möchte noch zwei Punkte ergänzen“, sagt Daniel Überall vom Kartoffelkombinat: „Wir befinden uns ja im Kapitalismus und aus einer kapitalistischen Perspektive heraus gesehen, ist etwas wie eine Solidarische Landwirtschaft etwas sehr Exotisches. Aber trotzdem findet man genau diesen Begriff im Koalitionsvertrag im Kapitel Ernährung. Das zeigt schon auch – in der Tat mit einem gewissen Verzug, aber ich glaube das ist normal bei solch großen Rädern, die man da dreht – dass sich neue Formen etablieren. Entscheidend ist, dass man gesamtgesellschaftlich auf allen Ebenen neue Kulturen des Experimentierens, des Scheiterns und des Dann-trotzdem-Weitermachens etablieren kann. Es gibt keine einfachen Antworten auf die komplexen Fragen, denen wir uns stellen müssen.“

Ein erster Schritt besteht in der Vernetzung, im voneinander Lernen. Essentieller Faktor dabei ist die Erweiterung des Ernährungswissens auf allen Ebenen, vom Anbau über die Distribution bis zum Konsum. In aktivistische Experimente müssen Förderungen auf kommunaler Ebene fließen, die EU-Agrarsubventionen müssen neu verteilt werden, damit auch Klein- und Kleinstbetriebe davon profitieren. Die vorgestellten Projekte geben Hoffnung, dass wir alle etwas zu einer vielberufenen Ernährungswende beitragen können. Es gilt der Slogan: Bitte nachahmen!

Kommentare

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

    * Ich bin damit einverstanden, dass meine Daten ausschließlich für die Anfrage genutzt werden. Insbesondere erfolgt keine Weitergabe an unberechtigte Dritte. Mir ist bekannt, dass ich meine Einwilligung jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen kann. Dies kann ich über folgende Kanäle tun: per E-Mail an: kommunikation[at]smb.spk-berlin.de oder postalisch an: Staatlichen Museen zu Berlin – Generaldirektion, Stauffenbergstraße 41, 10785 Berlin. Es gilt die Datenschutzerklärung. der Staatlichen Museen zu Berlin, die auch weitere Informationen über Möglichkeiten zur Berichtigung, Löschung und Sperrung meiner Daten beinhaltet.