Vom Suchen und Finden – Sascha Wiederhold in der Neuen Nationalgalerie
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Der Kurator als Detektiv: Dieter Scholz steckt in der Nationalgalerie hinter der Ausstellung „Sascha Wiederhold. Wiederentdeckung eines vergessenen Künstlers“. Unsere Autorin Irene Bazinger sprach mit ihm über eine ungewöhnliche Künstlerbiografie.
Text: Irene Bazinger
Wenn sich Dieter Scholz auf den Weg zu seinem Büro in der Neuen Nationalgalerie macht, trägt er nicht unbedingt einen Trenchcoat und hat bestimmt keine Pistole dabei. Aber der Tätigkeit des typischen Detektivs in der Tradition von Sherlock Holmes oder Philip Marlowe oder wie ihre Nachfolger bei Netflix und Disney alle heißen, ähnelt seine Arbeit durchaus. Als Kurator nämlich ist er auch häufig auf der Suche nach verschwundenen Menschen oder Gegenständen, was naturgemäß nicht einfach ist. Die Spurenlage ist meist dürftig, Indizien sind verloren, Kontaktpersonen schwer aufzutreiben, kurz: Nichts Genaues weiß man nicht – und wüsste es doch zu gern! Allerdings ist Scholz‘ Anliegen nicht die Aufdeckung eines Verbrechens, sondern die Klärung eines Sachverhalts im Interesse der Kunstgeschichte.
Zum Beispiel im Fall von Sascha Wiederhold. In einer Galerie in Charlottenburg – denn als Kurator wie als Kunstfreund besucht er regelmäßig Ausstellungen und Galerien – fiel ihm einmal ein großformatiges Gemälde auf. Es hing früher im Büro des Galeristen Hans Brockstedt, der es in den 1970er-Jahren erworben hatte. Für seinen Sohn Boris war es ein tolles Kunstwerk, das darüber hinaus unmittelbar mit dem 2017 verstorbenen Vater verbunden und entsprechend emotional besetzt war. Für Scholz waren diese „Bogenschützen“ nicht weniger als eine Offenbarung: „Ich war völlig begeistert von dem Kaleidoskop aus Farben und Formen und von der Frische, die es ausstrahlte. Und von der schieren Größe, fünf Quadratmeter! Ich dachte, das wäre ein psychedelisches Bild aus den 1970er-Jahren und staunte sehr, dass es 1928 entstanden war.“
Der Name des Künstlers war ihm als Spezialist für die Klassische Moderne – in dieser Eigenschaft ist er seit 2003 an der Neuen Nationalgalerie tätig – wohl untergekommen, aber viel wusste er nicht über ihn. Da es nichts von Wiederhold in der Sammlung der Neuen Nationalgalerie gab, bemühte sich Scholz, einen Ankauf zu realisieren. Dies gelang mit Hilfe der Ernst von Siemens Kunststiftung und als das Haus im August 2021 nach sechsjähriger Renovierung wieder eröffnet wurde, erhielt das Bild einen spektakulären Platz: Am Eingang zur Dauerausstellung „Die Kunst der Gesellschaft“ hängen Lotte Lasersteins Hauptwerk „Abend über Potsdam“ (1930) und daneben die „Bogenschützen“ von Sascha Wiederhold – und beweisen die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit völlig verschiedener malerischer Positionen im damaligen Berlin. Laserstein war da endlich zurück im Bewusstsein der Öffentlichkeit, Wiederhold noch nicht. Doch die Resonanz in den Medien und seitens des Publikums war enorm: Alle waren hingerissen, bloß niemand wusste etwas über den Künstler, dem es, so Scholz, „grandios gelungen war, zwei Ebenen zusammenzubringen: Eine flächenhaft-dekorative und eine gegenständliche Form der Bilderzählung.“
Der Maler in den Mühlen der Politik
Scholz begann zu recherchieren. Er bekam heraus, dass der Maler eigentlich einen anderen Vornamen trug und als Ernst Walter Wiederhold 1904 in Münster geboren worden war. Dass er sich später in Berlin Sascha nennen würde, hatte mit seiner Schwärmerei für das revolutionäre Russland und dessen Avantgarde zu tun. Belegen ließ sich auch, dass er 1921 an der Kunstakademie Düsseldorf ein Studium der Gebrauchsgrafik und Dekorationsmalerei begann, welches er 1924 in Berlin fortsetzte. Der junge Mann hatte keine Unterkunft, übernachtete in einer leeren Dienstwohnung in der Kunstakademie, wurde ertappt und musste die Institution verlassen.
Das scheint ihn nicht recht gekümmert zu haben, er arbeitet einfach weiter und knüpft die richtigen Kontakte. Im Juli 1925 hat er seine erste Einzelausstellung in der Galerie „Der Sturm“ in der Potsdamer Straße, nahe der heutigen Neuen Nationalgalerie. Berlin ist voller aufstrebender, aufregender Künstlerinnen und Künstler, und ausgerechnet der völlig unbekannte Neuankömmling Wiederhold wird prominent in dieser angesagten Galerie präsentiert! Sie gehört Herwarth Walden, einem Freund und Förderer der deutschen Avantgarde zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der hält große Stücke auf Wiederhold, ermöglicht ihm im Oktober 1927 eine zweite Ausstellung in seiner Galerie, wo bis 1931 Werke von ihm zu kaufen sind. In New York ist Wiederhold an einer Schau der „Sturm“-Bewegung beteiligt. Das Stadttheater Tilsit in Ostpreußen engagiert ihn 1929/1930 als Bühnenbildner.
Als er nach Berlin zurückkehrt, beginnen sich die Verhältnisse gravierend zu verändern. „Der Sturm“ löst sich auf, Herwarth Walden übersiedelt 1932 nach Moskau. Für die Frühjahrsausstellung 1933 plante Sascha Wiederhold, wie er selbst schrieb, einige größere Bilder, zu denen er bereits Skizzen angefertigt hatte. Mit dem politischen Bruch durch den Regierungsantritt Adolf Hitler ist allerdings klar, dass er „seine dezidiert modernen Kunstwerke“ (Scholz) nirgendwo wird zeigen können. Emigrieren kann oder will er offenbar nicht, er bleibt. Und dann?
Ein Detektiv ließe hier wohl erstmal sein vollgeschriebenes Notizbuch sinken, würde überlegen, wie er weiterkommen könnte. Dieter Scholz hätte das vielleicht auch getan, hatte aber gar keine Zeit dafür, denn die Resonanz auf die „Bogenschützen“ war enorm. Sie half ihm, zusätzliche Informationen über den vergessenen Künstler Sascha Wiederhold einzusammeln. Gleich 2021 meldete sich eine Dame aus der Buchhandlung in Schöneberg, in der er 1937 eine Ausbildung zum Buchhändler absolviert und temporär als deren kommissarischer Geschäftsführer fungiert hatte. Sie konnte dies mit Dokumenten belegen. Was Wiederhold in den Jahren von 1933 bis 1937 gemacht hat, geht daraus leider nicht hervor. Ein Anruf kam aus der Schweiz, weil der Nachlass des Sammlers Carl Laszlo (1923-2013) dreizehn Werke Wiederholds umfasste. Laszlo hatte zu ihm um 1960 in Berlin Kontakt aufgenommen und war bis zum Tod des Malers dessen Galerist. Ein Zeichner teilte mit, dass sein Großvater Wiederhold gekannt hatte und er Papier- und Plakatarbeiten von ihm besitze. Es erwies sich, dass es in der Berlinischen Galerie und im Sprengel-Museum Hannover Werke von ihm gab. So begann sich ein Oeuvre zusammenzusetzen, das, wie Dieter Scholz und das Team der Neuen Nationalgalerie fanden, unbedingt in einer Sonderausstellung gewürdigt werden sollte.
Erfolgreiche Wiederentdeckung
Alles ging plötzlich ganz schnell: Sichtung, Konzeptentwicklung, Leihverkehr, Katalog. Der glückliche Kurator sah endlich zum Beispiel das originale Gemälde „Segelboote im Hafen“ (1929) und nicht länger eine Reproduktion – und entdeckte Parallelen zu einem Bühnenbildentwurf aus demselben Jahr mit ähnlicher Szenerie. Oder er saß vor der gewaltigen, 306 x 456 Zentimeter großen „Jazz-Symphonie“ (1927) und begann mit den Augen durch dieses Wimmelbild zu spazieren, einerseits den Farben- und Formenrausch genießend, andererseits die figürlichen Assoziationen in diesem lebendigen, turbulenten Kostümfest dechiffrierend – und in der aufgekratzten Partygesellschaft einer zerfallenden Welt einen Vorschein der erfolgreichen Fernsehserie „Babylon Berlin“ zu erkennen. Man könnte vom sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan sprechen, der die sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre prägte. Über Wiederhold, der penibel jeden Quadratzentimeter Papier (sein bevorzugter Malgrund) mit Öl, Tempera und Goldbronze gestaltete, schrieb Andreas Kilb in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Seine Kunst ist lückenlos, sein Raum ohne Tiefe. Doch in der Untiefe der Räume spürt man die Unruhe der Zeit.“
Es ist zu vermuten, dass Sascha Wiederhold 1933 einfach aufhörte. Als 1961 im Schloss Charlottenburg eine Ausstellung der Nationalgalerie über den „Sturm“ stattfindet, ist er nicht dabei, meldet sich, worauf eines seiner Bilder nachträglich aufgehängt wird – bloß für den Katalog ist er zu spät dran, der ist bereits gedruckt. Seit er 1951 in Moabit einen Buchladen eröffnet hat, kennt man ihn nur als Buchhändler, nicht als Maler.
In britischer Kriegsgefangenschaft hat er wahrscheinlich zum letzten Mal zu Bleistift, Tusche, Kreide gegriffen und ein gutes Dutzend Figurinen gezeichnet – wie kubistisch aufgelöste Tanzstudien für eines seiner hinreißend polyglotten Bühnenbilder. Aber warum setzte er nach Ende des Zweiten Weltkriegs seine Karriere nicht fort? Sah er in der Epoche der zunehmenden Abstraktionen keinen Platz für sich? Hatte er alles gesagt, was er sagen wollte? Oder hatten ihn die geschichtlichen Entwicklungen ins Schweigen getrieben? Kunst kommt von Müssen, sagte Arnold Schönberg – musste, wollte sich Wiederhold nicht mehr ausdrücken und die Welt auf Papier bannen? Was war mit ihm geschehen?
Dieter Scholz weiß, dass die Chancen gering sind, all dies eines Tages zu klären. Für ihn wäre seine Mission erfüllt, wenn in künftigen Ausstellungen über die „Zwanziger Jahre“ eben auch Sascha Wiederhold vertreten ist. Dann wäre er dem Vergessen entrissen und würde zum Kanon gehören. Die Einstufung als „Cold Case“ ist er inzwischen zum Glück wirklich los, obwohl so wenig über ihn bekannt ist. Womöglich jedoch, hofft der Kurator als Detektiv, tauchen ja irgendwann in Privatsammlungen, Antiquariaten oder Kellern noch Arbeiten und Dokumente auf, die ungeahnt Neues über diesen wunderbaren Künstler erzählen, der ein ganzes Universum ausmalte – und schließlich darin verschwand.
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