Biografien der Objekte: „Okadina“ – Von Frauenfreundschaften und königlichen Geschenken
Lesezeit 7 Minuten
In der Erforschung kolonialer Provenienzen klafft eine Lücke:
Frauen kommen in den Quellen so gut wie nie zu Wort. Julia Binter,
Forscherin am Ethnologischen Museum, arbeitet mit Partnerinnen aus
Namibia zusammen, um die Lücke zu schließen.
Text: Julia Binter, Provenienzforscherin am Zentralarchiv/Ethnologisches Museum
Die
Hand von Nehoa Kautondokwa gleitet vorsichtig über die perlenbesetzte
Puppe. „Die Glasperlen waren sehr teuer“, erklärt sie uns, „eine Reihe
davon konnte gegen eine Kuh getauscht werden. Wenn eine Puppe damit
verziert wurde, war sie etwas wirklich Wertvolles.“ Nehoa wird in den
kommenden Tagen noch viel mehr über die Puppe und ihre Geschichte
erzählen. Ihre Expertise für die materiellen Kulturen der
Ovambo-Königreiche im Norden des heutigen Namibia ist ein wahrer
Glücksfall für das Forschungsprojekt, das die Teams des Ethnologischen Museums Berlin und der Museums Association of Namibia im Sommer 2019 durchführten.
Die Objekte aus Namibia in der Sammlung des Ethnologischen Museums
Berlin haben nicht nur teils äußerst traumatisierende
Erwerbsgeschichten, sie erzählen auch von den vielen unterschiedlichen
Beziehungen zwischen der namibischen Bevölkerung und deutschen Militärs,
Händlern und Missionar*innen. Der Puppe aus dem Königreich Ondonga
kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie gibt Einblick in ein Leben
jenseits von Gewalt und Genozid, das von mächtigen König*innen,
finnischen und deutschen Missionar*innen und dem Ausverhandeln von
religiösen und kulturellen Beziehungen bestimmt wurde. Vor allem erlaubt
sie Einblick in Erfahrungswelten, die in kolonialen Archiven oftmals
verschüttet sind: jene von Frauen.
Puppen waren mehr als ein Spielzeug
Die
Puppe wurde von Königin Olugondo von Ondonga für die finnische
Missionarstochter Anna Rautanen hergestellt. Anlass dafür könnte Annas
Heirat mit Hermann Tönjes, einem Missionar der Rheinischen Mission, im
Jahr 1900 gewesen sein. In seinem Buch „Ovamboland“ von 1911 beschreibt
Tönjes die Bedeutung solcher Puppen und insbesondere die Geschichte von
Königin Olugondos Geschenk an seine Frau. Anna wurde 1878 in Ondangwa
als Tochter des finnischen Missionars Martti Rautanen geboren. Als Kind
besaß sie eine europäische Puppe, die die Hauptfrau des Königs
bewunderte. Als Zeichen ihrer Wertschätzung gab sie der Puppe ihren
eigenen Namen: Olugondo. Als Anna Rautanen nach einem Schulaufenthalt in
Finnland in das Königreich zurückkam, hatte sie ihre Puppe dort
zurückgelassen. In Europa spielten erwachsene Frauen nicht mehr mit
Puppen. Im Königreich Ondonga waren Puppen jedoch viel mehr als nur
Spielzeug. Sie waren ein essenzieller Bestandteil für das
Erwachsenwerden einer Frau. Mädchen bekamen Puppen von ihren Eltern
geschenkt. Bei der Verlobung gab der Verlobte der Puppe einen Namen, den
das erste Kind des Paars bekommen sollte. Und nun sollte Anna ohne eine
„Okanona“, also ein „Kind“, so der Oshidonga-Name für solche Puppen,
heiraten? Die Königin fertigte eine Puppe nach neuester Mode an (oder
ließ sie anfertigen) und gab ihr abermals ihren Namen. Somit waren sie
und die Puppe „Okadina“, also Namensschwestern. Diese Geschichte der
Herstellung von Okadina ergibt zumindest meine kritische Lesart
der historischen Quellen. Für unsere namibischen
Forschungspartner*innen sind darüber hinaus die mode- und
handelsgeschichtliche Aspekte von Okadina von besonderem Interesse.
Modebewusstsein des Königshofs von Ondonga
Statt den in Europa beliebten viktorianischen Kleidern verkörperte die Okadina das Modebewusstsein und Prestige des Königshofs von Ondonga. „Die Kleidung wird, mit einigen Änderungen, noch heute von Frauen im Königreich getragen und verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart,“ erklärte uns Nehoa Kautondokwa. „Okadina kann daher als Archiv namibischer Mode angesehen werden.“ Hertha Bukassa, eine weitere Forschungspartnerin aus Namibia, erläuterte die Bedeutung der einzelnen Modeelemente: „Ondjeva war und ist ein Schmuckstück aus Straußeneierschalen, das junge Mädchen um die Hüften tragen; Oshilanda (Omwaamba), eine hochgeschätzte dunkelblaue Glasperle, schmückt ihren Oberkörper; eine Reihe von großen, aus Europa importierten Knöpfen dienen als Ersatz für das kostbare und seltene Omba, einen Schmuck aus Elfenbein oder Muschel.“ Königin Olugondo verarbeitete also nur die kostbarsten Materialien, darunter die importierten, milchig-schimmernden Glasperlen, die an zwei Schnüren von der Taille der Puppe baumelten und für die auf dem Markt ein Rind geboten wurde.
Das prächtige
Geschenk für Anna Rautanen (verheiratete Tönjes) war nicht nur ein
Zeugnis für die langjährige Freundschaft zwischen den beiden Frauen,
sondern auch der Beginn einer neuen Beziehung, nachdem Anna mit ihrem
Mann in das benachbarte Oukwanyama Königreich gezogen war. Anna besuchte
das Ondonga Königreich wiederholte Male und die Königin ließ Okadina
von ihren Hofdamen in einer Babytrage aus Leopardenfell an den Königshof
bringen, um Zeit mit ihr zu verbringen. Als Dank dafür schickte sie
Anna eine Kalebasse mit Bier und einen schwarzen Ochsen, ein für die
königliche Familie vorbehaltenes Tier. Was könnte der Beweggrund für
diesen Kreislauf an Geschenken gewesen sein? Wollte die Königin
sicherstellen, dass ihre Namensschwester gut versorgt war? Oder war es
eine Möglichkeit, nach der Verheiratung und dem Wegzug von Anna Tönjes
weiterhin in Kontakt mir ihr zu bleiben? Die genauen Gründe werden wir
wohl nie erfahren. Hermann Tönjes, der Okadinas Geschichte
niederschrieb, war weniger an der Vermittlung der Interessen und
Erfahrungen der beiden Frauen als vielmehr an der allgemeinen
Beschreibung von „Land. Leute. Mission“ im „Ovamboland“ interessiert. Er
verriet seinen Leser*innen nicht einmal, dass „Fräulein Rautanen“, so
die Beschreibung im Buch, seine Verlobte und spätere Frau war. Jedoch
verdanken wir ihm eine rare Fotografie von Königin Olugondo – als Teil
eines Familienporträts ihres Mannes König Kambonde (II.) kaMpingana.
Einseitige Archive der Kolonialzeit
Tönjes‘
widersprüchlicher Umgang mit den beiden Hauptpersonen von Okadinas
Geschichte verweist auf ein allgemeines Problem mit Publikationen und
Archivalien aus der Kolonialzeit. Die historischen Quellen, mit denen
die Provenienzforschung meist beginnt, wurden zu großen Teilen von
europäischen Männern geschrieben und gesammelt und spiegeln die oftmals
auf Europa bezogenen, exotistischen und teils rassistischen Sichtweisen
der Zeit wider. Ihre männlichen Gegenparte in den Kolonien kamen in den
Schriften oftmals nicht zu Wort. Darüber hinaus wurden Sichtweisen und
Erfahrungen von Frauen, Kindern und anderen marginalisierten Personen,
wie zum Beispiel versklavten Menschen, kaum niedergeschrieben oder
archiviert. Dadurch sind Archive aus der Kolonialzeit immer einseitig
und lückenhaft. Wie sollen Provenienzforscher*innen mit diesen Lücken
umgehen? Können jene Stimmen, die damals kein Gehör fanden und für nicht
archivierwürdig erachtet wurden, heute überhaupt noch hörbar gemacht
werden? Ein möglicher Zugang zu diesen zum Schweigen gebrachten
Personen sind ihre materiellen Zeugnisse, die in Depots auf der ganzen
Welt lagern und zu großen Teilen unerforscht sind. Doch nicht jeder kann
sie verstehen. Es benötigt jemanden wie Nehoa Kautondokwa, die als
Expertin für die Geschichte der Ovambo-Königreiche und ihrer Handels-
und Missionsbeziehungen (siehe zum Beispiel: Oombale Dhi Ihaka)
die Bedeutung von Okadina erkannte und ihre materiellen Spuren lesen
konnte. Darüber hinaus bedarf es einer Sensibilität gegenüber den Lücken
im Archiv, der Bereitschaft, historische Quellen kritisch zu
hinterfragen und der Offenheit, viele unterschiedliche Perspektiven auf
Sammlungen und Archivalien in Dialog zu bringen.
Dank der
Kooperation mit unseren namibischen Partner*innen ist Okadina weit mehr
als nur eine Puppe, die Hermann Tönjes dem Königlichen Museum für
Völkerkunde (heute das Ethnologische Museum) 1909 verkaufte. Sie erzählt
von der Freundschaft zweier Frauen, ihrem Erwachsenwerden und den Moden
ihrer Zeit.
Dieser Beitrag ist Teil einer Reihe anlässlich des 2. Tags der Provenienzforschung, einer Initiative des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V. Der Aktionstag am 8.4.2020 soll darauf aufmerksam machen, wie wichtig
die Entschlüsselung der Objektbiografien auf wissenschaftlicher und
gesellschaftlicher Ebene ist. Aufgrund der Coronakrise werden viele der
geplanten Aktionen nun in den digitalen Bereich verlegt. Auf Twitter
wird der Hashtag #TagderProvenienzforschung den Aktionstag begleiten.
Kontakt zu Fragen der Provenienzforschung der Staatlichen Museen zu
Berlin: provenienzforschung@smb.spk-berlin.de
Bilder sind nicht nur Kunstwerke – sie haben oft auch spannende Geschichten. Die Provenienzforschung entschlüsselt Werkbiografien, deckt vergangenes Unrecht auf… weiterlesen
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