Biografien der Objekte: „Sammlung Alphonse Kann in Paris geplündert“
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Ein kleines Gemälde des französischen Malers André Masson bringt Lisa Hackmann und ihre Kolleg:innen vom Zentralarchiv auf die Spur einer bewegenden Geschichte um den jüdischen Sammlers Alphonse Kann und die Nazis in Paris.
Text: Lisa Hackmann
Vor uns auf dem Tisch liegt ein kleines, schmales Gemälde. Es stammt von dem französischen Maler André Masson (1896–1987) und trägt den Titel „Der Jäger“. Auf den ersten Blick lässt es uns an eine prähistorische Felsmalerei denken. Aber das surrealistische Gemälde entstand 1927, als sich Masson am Meer in der Nähe der südfranzösischen Hafenstadt Toulon aufhielt und Sand als Material für seine künstlerischen Arbeiten entdeckte. Er bestrich die Leinwände ungleichmäßig mit Leim, bestreute sie mit Sand und fügte Farbe hinzu. Im Fall des „Jägers“ meint man bei genauerem Hinsehen, zwei im Akt des Tötens miteinander verschmolzene Gestalten zu erkennen.
Gemeinsam mit meinen Kolleginnen, Francisca Cruz und Ina Hausmann, untersuche ich die Herkunftsgeschichte von rund 100 Kunstwerken der Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch. Das Werk ist Teil dieser Kollektion, die 2010 dem Land Berlin geschenkt und als Dauerleihgabe der Neuen Nationalgalerie überlassen wurde. Als wir Massons „Jäger“ umdrehen, um seine Rückseite zu studieren, stoßen wir auf die Spuren einer besonders bewegenden Geschichte:
Mehrfach findet sich auf dem Keilrahmen mit unterschiedlichen Schreibwerkzeugen aufgetragen „Kann“ oder „KA“, teilweise zusammen mit einer Nummer. Diese Schriftzüge weisen, wie Recherchen ergeben, auf einen früheren Besitzer des Gemäldes hin: Alphonse Kann. Er wurde 1870 in Wien in eine jüdische Bankiersfamilie hineingeborenen. Alleine damit war sein Schicksal im Nationalsozialismus vorgezeichnet.
Mit zehn Jahren zog Kann mit seinen Eltern nach Paris. Während seiner Schulzeit machte er illustre Bekanntschaften. Er lernte nicht nur zukünftige Mitglieder der Künstlergruppe Nabis kennen, sondern schloss zudem Freundschaft mit dem Schriftsteller Marcel Proust. Diesem soll er Jahre später als Modell für seine Romanfigur Charles Swann in „Eine Liebe von Swann“ gedient haben.
Zunächst im Bankensektor tätig, zog sich Kann mit etwa dreißig Jahren aus dem Geschäft zurück und widmete sich – finanziell sehr gut aufgestellt – seiner großen Leidenschaft, dem Sammeln von Kunst. Über die Jahre hinweg baute er eine riesige Sammlung auf. Sie umfasste italienische Meister des 15. und 16. Jahrhunderts, französische Gemälde des 18. Jahrhunderts, moderne Gemälde und Plastiken (darunter über 20 Werke Picassos sowie Cézannes, Van Goghs, Monets und Rodins), Gobelins aus dem Mittelalter und der Renaissance, Antiken, Asiatika, afrikanische Kunst sowie kostbare Handschriften. Gemeinsam mit seinen Werken lebte er zunächst in Paris, dann in seinem Stadtpalais in Saint-Germain-en-Laye, einem Vorort nordwestlich von Paris. Buch über diese schiere Masse von Objekten führte er wohl nie.
In den 1920er Jahren trennte sich Kann auf Auktionen von einer Vielzahl seiner vormodernen Werke und konzentrierte sich fortan auf zeitgenössische Kunst. So erwarb er spätestens 1938 auch das Gemälde Massons in der Pariser Galerie Simon, die der deutsch-französische Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler leitete. Masson und Kahnweiler hatten sich 1922 kennengelernt und noch im selben Jahr einen Exklusivvertrag abgeschlossen, sodass die Galerie Simon alle Werke des Künstlers zum Verkauf übernahm. 1938 verließ Kann aus ungeklärten Gründen Frankreich, zog nach London und nahm schließlich die britische Staatsbürgerschaft an. Seine Kunstwerke ließ er in Saint-Germain-en-Laye zurück. Nach Frankreich sollte er nie wieder zurückkehren.
Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 Paris besetzten, stand die jüdische Privatsammlung Kanns ganz oben auf der Beschlagnahme-Liste. Mit ihr sollten bis August 1944 allein in Frankreich etwa zweihundert jüdische Kunstsammlungen und über 20.000 Objekte enteignet werden. Auf Befehl des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg (ERR), der zentralen Organisation der NSDAP für den Raub von Kulturgütern in den besetzten Gebieten, wurde 1940 Kanns Stadtpalais geplündert und seine Sammlung in das nahe dem Louvre gelegenen „Jeu de Paume“ gebracht. In diesem Museum befand sich das Zwischenlager der deutschen Besatzer für die geraubten Kunstwerke.
Im „Saal der Märtyrer“ bewahrte man die Bilder auf, die der Kunstauffassung und Ästhetik des Dritten Reichs entgegenstanden. Zwar ist Massons „Jäger“ auf diesem Foto nicht zu sehen, doch zahlreiche andere Werke Kanns (rot eingekreist), etwa von Matisse, Picasso und Braque.
Die über 1.400 konfiszierten Objekte aus dem Besitz Kanns wurden inventarisiert und erhielten die Kennbuchstaben Ka sowie eine Nummer. So auch Massons „Jäger“, nämlich „Ka 1081“. Was weiter mit der Sammlung Kann geschah, ist typisch für die NS-Zeit: Zunächst wurden Bilder für das sogenannte „Führermuseum“, Hitlers Museumsprojekt in Linz ausgewählt und auch Hermann Göring suchte sich Werke für seine Privatsammlung heraus. Zahlreiche Werke der Moderne gelangten als Tausch- oder Verkaufsware auf den internationalen Kunstmarkt. Wieder andere wurden zerstört. Auch Massons „Jäger“ war eigentlich für die Vernichtung vorgesehen.
Nach der Befreiung von Paris durch die Alliierten im August 1944, versuchte Kann seine inzwischen europaweit verstreuten Werke zurückzubekommen und kontaktierte die Commission de Récupération Artistique (CRA). Diese Einrichtung unterstützte die Rückgabe von geraubten Kunstwerken an ihre ursprünglichen Eigentümer*innen. 1947 konnten rund 700 an Kann restituiert werden. Darunter fand sich auch „Der Jäger“, der der Vernichtung auf unbekannte Weise entgangen war. Als Kann 1948 in London verstarb, fehlte noch von der Hälfte seiner Kunstsammlung jede Spur. Nachfahr*innen bemühten sich auch Jahrzehnte danach noch um Wiedergutmachung und Rückerstattung.
Nach der Restitution gelangte Massons „Jäger“ auf den Kunstmarkt und über Stationen in der Schweiz, den USA und in Italien schließlich um 1982 in die Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch. Diese ganze Geschichte erzählt uns der Blick auf die über Jahrzehnte vergessene Rückseite. Als meine Kolleginnen und ich Massons Gemälde am Ende des Tages wieder an die Wand hängen, sehen wir es mit anderen Augen.
Die Nationalgalerie nahm im März 1942 eine Überweisung vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda in Empfang: Eine Studie zum „Eisenwalzwerk“… weiterlesen
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