Im Museum für Fotografie wird mit „Vogelschau und Froschperspektive“ ausgezeichnete „Fotografie für Kinder“ gezeigt, die auch Erwachsene in eine Schule des Sehens einlädt
Text: Irene Bazinger
Wer regelmäßig schreibt, kennt diesen frustrierenden Satz: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Oft stimmt er ja, egal, wie treffend und plastisch ein Artikel, ein Internet-Eintrag oder ein Schulaufsatz formuliert ist. Und dann dies: Kaum tritt man unterm Dach im Museum für Fotografie in die Ausstellung „Vogelschau und Froschperspektive“, kommt man aus dem Staunen nicht heraus: 48 Fotos mit magisch leuchtenden Kugeln auf schwarzem Grund erwarten uns, öffnen den Blick in einen geometrisch strukturierten Kosmos, aus dem das Chaos verbannt wurde und in dem jetzt alles seine Ordnung hat. Aber ist das wirklich so? Doch wohl eher nicht, denn Daniel T. Braun hat diese angeblichen Himmelskörper mit Handykamera und einem billigen Taschenteleskop bei seinen Streifzügen durch ganz und gar irdische Gefilde in Ausschnitten etwa von Äckern, Straßen oder Wolken entstehen lassen. Diese Planeten sind keine Planeten, sie sehen nur so aus. Man soll seinen Augen nicht immer trauen: Das ist wahr und das macht Spaß!
Anregend und charmant performativ beginnt diese Ausstellung, die von der Kuratorin Christine Kühn mit ihrer fürs Begleitprogramm zuständigen Ko-Kuratorin Katja Böhlau als „Fotografie für Kinder“ entwickelt wurde. Sie umfasst zehn assoziativ gruppierte Kapitel mit rund 240 Exponaten aus der fotografischen Sammlung der Kunstbibliothek sowie mit einer konzentrierten Auswahl druckgrafischer, zeichnerischer und plastischer Werke und vier Filmen. Zusammen entwerfen sie, erläutert Kühn, „einen Weg, um über Fotografie auf kindgerechte Weise nachzudenken“. Insofern tragen die einzelnen Abschnitte Titel wie „Schultage“, „Spiel“ oder „Fantasiereisen“ und nähern sich damit dem Tagesablauf von Kindern an. Diese werden als vollwertiges Publikum angesprochen und mit ästhetischer wie inhaltlicher Vielfalt in ihrer Offenheit und Neugier zum genauen Betrachten eingeladen. Es ist im schönsten Sinne eine „Schule des Sehens“, und die ist natürlich auch für Erwachsene höchst empfehlenswert. Das Spektrum mit den Gebrauchsweisen, den Gestaltungs- und Ausdrucksformen der Fotografie reicht von den Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Fotogrammen aus dem 21. Jahrhundert, von Automatenbildern um 1910 bis zu digitalen Fotomontagen zur Illustration in einer Tageszeitung 2021.
Es kommt eben auf den Standpunkt und die Kreativität
Die Begriffe „Vogelschau“ und „Froschperspektive“ werden übrigens wortwörtlich genommen. Denn der Apotheker Julius Neubronner versorgte Anfang des 20. Jahrhunderts seine Kunden per Brieftauben mit den gewünschten Medikamenten. Als eines Tages eines seiner besten Tiere verschwunden war und erst vier Wochen später zurückkehrte, wollte er wissen, was die Flugboten bei ihren Transportflügen eigentlich erlebten. Er baute einen kleinen Fotoapparat mit automatischem Selbstauslöser und zwei Objektiven, den er ihnen in Rucksäckchen umschnallte. Rund 12 Aufnahmen gelangen pro Flug, die zeigen, wie die Vögel von hoch oben die Welt sehen – die Menschen sind zu Zwergen geschrumpft, die Blickwinkel verzerrt, Schienen oder Straßen erscheinen als geometrische Muster. Diese unabsichtlichen Abstraktionen weisen weiter etwa zu den konstruktivistischen Kompositionen eines László Moholy-Nagy, der 1929 eine Frau und zwei Kinder am Strand festhielt, die sich inmitten eines völlig aufgewühlten Sandstreifens befinden – als hätten ihn Kohorten pflichtvergessener Brieftauben durchtrippelt…
Zur Verdeutlichung der „Froschperspektive“ dient eine Arbeit von Willi Ruge, der 1927 einen „Mann mit Kamera“ von so tief unten fotografierte, dass dessen Kopf geradezu winzig wirkt, die Hosenbeine jedoch wie Türme hochragen.
Es kommt eben auf den Standpunkt an, von dem aus jemand „knipst“, und es kommt auf die Kreativität an, mit der dies geschieht. Einerseits wird uns vorgeführt, dass die Bilder bewusste Interpretationen der Realität sind, andererseits lässt sich begreifen, wie polymorph die Möglichkeiten sind, von ihr zu erzählen. Jürgen Klauke schildert in „Sonntagsneurosen“ (1991) als stilvolle Selbstinszenierung mit Spazierstöcken und Regalen voller Männerhüte, wie er manchmal die Zeit ausbremst und die Last der Langeweile zelebriert. Dagegen tobt das Leben im Kapitel „Straßentheater“, vor allem in Ludwig Windstossers „Farbenspiel der Lichter und Reklamen“ (1968–1972), in dem sich das nächtliche West-Berlin als grandiose Collage aus Straßenbeleuchtung, Autoscheinwerfern, Schaufensterdekorationen bündelt: Die Stadt wird zur strahlenden Projektionsfläche und zum verheißungsvoll flimmernden Sehnsuchtsort.
Die meisten Fotos allerdings sind schwarz-weiß, wie auch die aus 21 Einzelbildern bestehende Serie „Der Bus“ von Richard Boulestreau (1994), während seiner China-Reise in Nanjing angefertigt. Wie in einer Galerie sind hier von Busfenster zu Busfenster die Porträts der eng aneinander gedrängten Passagiere zu sehen. Man spürt die Ungeduld und den Wunsch der Menschen, das Fahrzeug möge sie endlich an ihre Zielorte bringen.
Fotografisch wird alles aufbereitet, was das Leben ausmacht
So werden die Besucher*innen dieser Ausstellung, egal, welchen Alters, in die Bilder hineingezogen, sie können an den dargebotenen Situationen teilhaben und erfassen, wie sie gemeint sind. Das ist kein neues Verfahren. Schon aus dem Jahr 1928 stammt die Fotografie „Lotte“ von Max Burchartz, auf der er das Gesicht seiner Tochter nur halb zeigte: Auge, Nase, Mund, der dunkle Hut, die Sommersprossen – von allem ist bloß die Hälfte da. Und sofort setzt sich das Porträt des Mädchens im Kopf der Betrachter*innen zusammen, die es vielleicht sogar um ein feiertägliches Mäntelchen zu schwarzen Lackschuhen figürlich erweitern.
Kinder stehen immer wieder im Mittelpunkt, ob die hochwohlgeborene Maidie im weissschimmernden Seidenkleid mit Pelzbesatz auf einem Foto von James Craig Annan (1892) oder das ganz an den rechten Rand gedrängte Arbeiterkind auf Albert Renger-Patzschs „Industriegebiet in Essen“ (1929). Neben Schnappschüssen und Momentaufnahmen sieht man, wie sich die Menschen – lange vor Instagram – gern in Pose warfen und sorgsam aufreihten, wenn sie fotografiert werden wollten, und wie sie sich mitunter darüber amüsierten. Denn einst gab es in den Studios Spielzeug für die Kinder, damit es ihnen leichter fiel, vor der Kamera stillzuhalten. Übermütig setzten sich um 1910 fünf erwachsene Männer ins Fotoatelier von Paul Otto Martin in Dresden und holten je ein Spielzeug dazu – ein Schaf, eine Puppe, zwei Teddybären, eine Katze auf Rädern: Ein verschmitzter Jux, um sich als würdig wie kindisch zu erweisen, als reif wie infantil.
Es ist ein inspirierender Augenschmaus von enormer Bandbreite, der hier geboten wird. Auch echte und künstliche Tiere haben darin ihren Platz, allerlei Nahrungsmittel oder jahreszeitliche Stimmungen samt entsprechenden Freizeitaktivitäten. Kurz und gut, zu bewundern ist alles, was das Leben ausmacht – von den Sonogrammen, auf denen ein Ungeborenes zu erkennen ist, bis zur Aufnahme eines um 1890 verstorbenen Kindes im weißen Totenkleid im Bett. Souverän verbindet die hinreißende Ausstellung die Verlaufsformen unseres Daseins ebenso wie die Räume und Zeiten, die historischen Gebräuche und die heutigen Usancen. Ob allein oder in Gruppe, in der Schule oder bei der Arbeit, als Stereofotografie oder Tintenstrahldruck, als Ferrotypie oder Postkarte, als Rollfilm oder Stummfilm – immer freilich achtet sie den Menschen als Maß aller Dinge. Das sollte man gesehen haben!
Die Sammlung Fotografie erhielt den Nachlass der Künstlerin Leni Riefenstahl, außerdem eröffnete jüngst eine große Schau zu Künstlerporträts im 20…. weiterlesen
Unsere Webseite verwendet Cookies. Diese haben zwei Funktionen: Zum einen sind sie erforderlich für die grundlegende Funktionalität unserer Website. Zum anderen können wir mit Hilfe der Cookies unsere Inhalte für Sie immer weiter verbessern. Hierzu werden pseudonymisierte Daten von Website-Besuchern gesammelt und ausgewertet. Das Einverständnis in die Verwendung der Cookies können Sie jederzeit widerrufen. Weitere Informationen zu Cookies auf dieser Website finden Sie in unserer Datenschutzerklärung und zu uns im Impressum.
Funktional Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.
Kommentare