„Der Krieg hat meine Pläne verändert“ – Die ukrainische Kunstkritikerin Olesia Sobkovych im Gespräch
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Die ukrainische Kunstkritikerin Olesia Sobkovych hat ihre Heimat aufgrund des russischen Angriffskrieges verlassen. Jetzt arbeitet sie im Rahmen der Ukraine-Förderlinie der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Hermann Reemtsma Stiftung im Bode-Museum, wo sie ihre Arbeit fortführt.
Frau Sobkovych, Sind Sie unmittelbar nach Kriegsbeginn am 24. Februar nach Deutschland gekommen?
Nein, nicht sofort. Ich brauchte Zeit, um zu verstehen, dass im 21. Jahrhundert ein solches Phänomen wie ein ausgewachsener Krieg möglich ist. Ein Krieg, der entgegen des gesunden Menschenverstands, des Völkerrechts, den demokratischen Idealen und den europäischen Werten begann.
Wie hat sich der Krieg auf Ihre Arbeit und Ihr Leben in der Ukraine ausgewirkt? Woran haben Sie in der Zeit vor dem Krieg in der Ukraine gearbeitet?
Meine Tätigkeit als Kunstkritikerin war in den letzten sechs Jahren mit zwei Schwerpunkten verbunden:
Zum einen meine wissenschaftliche Arbeit: Ich untersuchte die Besonderheiten der Entwicklung und Funktionsweise der modernen ukrainischen Kunst und der Kyiver Kunstkritik des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Der zweite Fokus meiner Tätigkeit war das Kuratieren und Gestalten von künstlerischen und kunsthistorischen Ausstellungen und Projekten. Diese Projekte waren dem russisch-ukrainischen Krieg, der traditionellen Volkskunst und ihrer Verbindung mit modernen künstlerischen Praktiken sowie der Entwicklung der öffentlichen Kunst in der Ukraine gewidmet.
Was die Veränderungen betrifft, die der Krieg für mein Leben und meine Kreativität mit sich brachte: In diesem Sommer sollte eine weitere Etappe der internationalen Biennale „Skulptur unter freiem Himmel“ stattfinden, bei der ich als Ko-Kuratorin fungiere. Der Einmarsch Russlands verhinderte jedoch die geplante Durchführung dieses Projekts. Auch die Verteidigung meiner Dissertation wurde verschoben. Der Krieg hat also meine Pläne, oder vielmehr den Zeitpunkt ihrer Umsetzung, verändert.
Zweifellos ist der Krieg eine Prüfung und bringt Veränderungen mit sich. Ich versuche jedoch, sie als Chancen zu sehen, als Möglichkeiten für positive Veränderungen in mir und eine Verbesserung meines beruflichen Niveaus.
Sie arbeiten jetzt als eine von mehreren Wissenschaftler*innen, die aus der Ukraine fliehen mussten, in einer Einrichtung der SPK. Was genau machen Sie im Bode-Museum? Konnten Sie Ihre Forschungen ohne Probleme fortsetzen?
Ich werde von der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Hermann Reemtsma Stiftung gefördert. Dank der Pionierarbeit, die das Bode-Museum im Bereich kuratorisch-wissenschaftliches Outreach leistet, kann ich meinen Hintergrund in zeitgenössischer Kunst in ein Projekt einbringen, das zeigen wird, wie viel wir aus den Skulpturen- und Byzantinischen Sammlungen des Bode-Museums über die Ukraine im 21. Jahrhundert lernen können.
Wie ist das Arbeitsumfeld und wie ist die Arbeit mit der Sammlung im Bode-Museum?
Die Arbeitsatmosphäre ist sehr freundlich und professionell, geprägt von Umsicht, Konsequenz, Beständigkeit und wissenschaftlichen Kenntnissen. Das ist in jeder Arbeitsphase präsent und spürbar. Daher ist meine Arbeit mit der Sammlung sehr fruchtbar. Ich vertiefe mein Wissen, übernehme die Erfahrungen meiner Kolleg*innen bei der Gestaltung von Projekten, und dieser Prozess geht weiter. Ich bin meinen Kolleg*innen vom Bode-Museum, der Ernst von Siemens Stiftung und der Herman Reemtsma Stiftung sehr dankbar für die Gelegenheit, diese Erfahrungen zu sammeln und die Möglichkeit einer fruchtbaren Zusammenarbeit.
Wie ist Ihre Perspektive nach dem Ende Ihrer Zeit in Berlin? Glauben Sie, dass Sie in die Ukraine zurückkehren und Ihre Arbeit nahtlos fortsetzen können?
Es gibt die Überzeugung, dass ein*e wahrer Künstler*in Werke schafft, weil er oder sie einfach nicht anders kann. Kreativität ist ihre Essenz, ihr Leben und ihr Hobby zugleich. Meiner Meinung nach ist es bei Wissenschaftler*innen genauso. Wir erforschen, bemühen uns, das Unsichtbare und Unverständliche sichtbar, verständlich, relevant und interessant zu machen. Nach dem Ende der Ukraine-Förderlinie werde ich also meine wissenschaftliche und kuratorische Arbeit fortsetzen und ich hoffe, dass es möglich sein wird, dies auch in der Ukraine in Ruhe zu tun.
Auf der politischen Ebene wird viel darüber gesprochen, wie der Westen die Ukraine mit Waffen und Geld unterstützen kann. Wie könnten Ihrer Meinung nach westliche Museen und Kultureinrichtungen der Ukraine helfen, ihr Erbe zu bewahren?
Die Antwort auf diese Frage besteht aus drei Komponenten: Bewahrung, Popularisierung, Wiederherstellung der historischen Wahrheit. Die Bewahrung des kulturellen Erbes besteht darin, seine Errungenschaften für die Gegenwart zu präsentieren und zu aktualisieren. Das Erbe muss „lebendig“ sein, mit der heutigen Zeit kommunizieren und in sozio-psychologische und sozio-kulturelle Zusammenhänge eintauchen. Und wir sprechen hier nicht nur über den lokalen ukrainischen, sondern auch über den weltweiten Kunstraum.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass unsere Kultur mit Fortschritt und Erfolg in Verbindung gebracht wird und für die internationale Gemeinschaft attraktiv wird. Das wird unsere Chancen, ein mächtiger Akteur auf der Weltbühne zu werden, erheblich erhöhen, was angesichts des Einmarsches russischer Truppen in das Gebiet der Ukraine äußerst wichtig ist.
Eine wirksame Hilfe westlicher Kultureinrichtungen bei der Popularisierung des ukrainischen Erbes ist also möglich, wenn sie ihre Verbindungen zum internationalen künstlerischen Prozess offenlegen und wissenschaftliche Foren, Ausstellungsprojekte und andere Initiativen organisieren, die zur Verwirklichung des oben genannten Ziels beitragen sollen. Solche Initiativen werden unter anderem von der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Hermann Reemtsma Stiftung unterstützt.
Kulturelles Erbe ist die Identifikation des Volkes, sein Bewusstsein für seine Rolle und seinen Platz auf der Weltkarte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine beträchtliche Anzahl von Kulturdenkmälern der Ukraine in das Gebiet der modernen Russischen Föderation gebracht und als Errungenschaften der „großen russischen Kultur“ vereinnahmt. Das Gleiche geschah und geschieht immer noch. Ukrainische Forscher*innen schreiben darüber, organisieren Ausstellungen, die diese Narrative vermitteln. Doch jetzt ist es an der Zeit, dass europäische Wissenschaftler*innen von Museums- und Forschungseinrichtungen ihre Aufmerksamkeit auf die Definitionen von „russischer“ oder „ukrainischer“ Kunst richten. So hat beispielsweise die National Gallery in London in diesem Jahr das Gemälde von Edgar Degas aus der Serie „Russische Tänzerinnen“ in „Ukrainische Tänzerinnen“ umbenannt. Wir sind sicher, dass eine solche sorgfältige Auseinandersetzung mit dem „Russischen“ weltweit und auch in Zukunft fortgesetzt werden muss. Es ist dringend notwendig, dass die europäische Gemeinschaft die Identität der ukrainischen Kultur versteht.
Glauben Sie, dass Kultur, Wissenschaft und Kunst in der Lage sein werden, Brücken zwischen den Menschen zu bauen und die Schwierigkeiten der Zukunft zu überwinden?
Eine interessante Frage. Ich glaube, dass Kultur und Kunst jedem von uns helfen, die eigene Identität zu finden und die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen dem Nationalen und dem Globalen zu verstehen, was im Hinblick auf die Idee der Globalisierung äußerst wichtig ist. Die Globalisierung zeigt Besonderheiten jeder Kultur auf. Sie lehrt uns, diese Kulturen zu respektieren und regt dazu an, die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Kulturen als einen Prozess der gegenseitigen Bereicherung und nicht der Zerstörung zu betrachten.
Darüber hinaus ist das Vorhandensein einer entwickelten Kultur und Wissenschaft eine Garantie für die Existenz und Verbreitung des menschlichen kritischen Denkens. Es ist genau das kritische Denken, das dabei hilft, den Schwerpunkt richtig zu setzen, die Substitution von Konzepten zu erkennen und Fragen aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen, bevor man eine Entscheidung trifft. Wissenschaft, Kultur und Kunst sind also zweifellos die notwendige Kraft, die hilft, die Bedrohung durch mangelnde Toleranz und das Vorhandensein von Missverständnissen auf soziokultureller und politischer Ebene auszugleichen und zu verringern.
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