„Die Kamera ist ein mächtiges Werkzeug“ – Ein Kriegstagebuch aus der Ukraine
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Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, reiste die in Berlin lebende Fotografin Mila Teshaieva in ihre Heimatstadt Kiev. Das dabei entstandene Tagebuch wird nun in einer Ausstellung im MEK gezeigt. Wir sprachen wir mit der Künstlerin über ihre Erfahrungen vor Ort.
Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, reiste die in Berlin lebende Fotografin Mila Teshaieva in ihre Heimatstadt Kiev. Sie wollte diesen dramatischen historischen Moment für ihr Land und Europa miterleben und festhalten: Von den ersten Kriegstagen im März, als russische Truppen Kiev einzukesseln versuchten und die Menschen in Panik flohen, bis zu den letzten Apriltagen, als die erdrückenden Folgen der Kriegsverbrechen in der gesamten Region um Kiev entdeckt wurden. Teshaieva, die seit 2016 Mitglied der Fotoagentur OSTKREUZ ist, blieb in der ganzen Zeit vor Ort, half und begleitete ihre Landsleute, die Kamera immer dabei. Das dabei entstandene Tagebuch, das zuerst auf der Internetplattform dekoder.org veröffentlicht wurde, enthält sehr eindrückliche, intime Aufzeichnungen ihrer Erlebnisse in den ersten Kriegsmonaten in Bild und Wort.
Nun werden Auszüge aus dem Tagebuch, gemeinsam mit den zeitgleich entstandenen Fotografien, in der Ausstellung „Splitter des Lebens“ im Museum Europäischer Kulturen gezeigt. „Unserem Museum, das sich unter anderem auf Veränderungen des alltäglichen Lebens in Europa konzentriert, ist Mila Teshaieva schon seit Längerem verbunden“, sagt Elisabeth Tietmeyer, die Direktorin des MEK. „Als wir von ihrem Tagebuch-Projekt erfuhren, war für uns daher sofort klar, dass wir daraus eine Ausstellung machen müssen.“ Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ist ebenfalls beeindruckt von den gezeigten Bildern: „Mila Teshaievas Fototagebuch vermittelt einen Eindruck des Kriegsalltags, der in seiner eindringlichen Bildsprache außerordentlich nah geht. Es freut mich, dass wir diese wichtige Ausstellung in so kurzer Zeit realisieren konnten. Dafür möchte ich sämtlichen Beteiligten herzlich danken, allen voran der unglaublich engagierten Künstlerin, aber auch dem Kuratorium Preußischer Kulturbesitz für dessen großzügige Unterstützung.“
Im Vorfeld der Ausstellungseröffnung sprachen wir mit der Künstlerin über die Ausstellung, ihre Erfahrungen in Kiev und die politische Dimension des Krieges.
Warum hast du dich entschieden, nach Kriegsbeginn in die Ukraine zurückzukehren, während alle anderen verzweifelt versuchten, das Land zu verlassen?
Mila Teshaieva: Weil ich wusste, dass dies ein bedeutender historischer Moment war, vielleicht vergleichbar mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Wir haben so etwas alle im Film oder auf Fotos gesehen, aber ich wollte Zeuge dieses Moments sein, es mit eigenen Augen sehen und verstehen, wie es wirklich ist. Und es war mir völlig klar, dass ich nicht in Berlin bleiben konnte. Ich musste nach Kiew gehen. Ich musste bei meinen Leuten und in meinem Land sein. Dabei ging es nicht einmal um die Fotografie, sondern darum, als Zeuge vor Ort zu sein.
Du hast gesagt, du wolltest nicht den Krieg fotografieren, sondern das Leben während des Krieges dokumentieren. Hat das geklappt? Ist es dir gelungen, einen umfassenden Einblick in das Leben während des Krieges zu gewinnen?
Monuments in Kyiv got covered by sand bags to avoid destruction by air raids.
Ich glaube, es ist mir gelungen, die Fragmente dieses Lebens einzufangen. Den Mut der Menschen, die fest entschlossen waren, Kiew gegen den letzten russischen Panzer zu verteidigen, oder die absolute Verzweiflung der Menschen, die geflohen sind, ohne zu wissen, ob sie jemals zurückkommen können. Ich habe dokumentiert, was übrigblieb, als sich die Russen zurückzogen, als die Menschen nach 35 Tagen des Terrors ihre Unterkünfte verließen. Die Emotionen waren sehr intensiv: Glück, dass es vorbei war, aber auch Unglauben, dass sie überlebt hatten, weil sie sich des Traumas noch nicht bewusst waren. Die Menschen waren überwältigt von dem Ausmaß dessen, was sie durchgemacht hatten. Es war eine immense Katastrophe.
In den Texten in der Ausstellung steht, dass es während dieser Ereignisse für dich eine sehr persönliche Angelegenheit war, zurückzukehren und in deiner Heimatstadt zu sein. Andererseits sagtest du aber auch, dass du dokumentieren wolltest. War beides von Anfang an da – die persönliche Betroffenheit und der Drang, die Ereignisse zu dokumentieren –, oder hattest du zuerst den Impuls, zurückzugehen, und hast dich dann verpflichtet gefühlt, alles festzuhalten?
Zuerst war es nur ein Impuls. Ich wollte dabei sein. Die Entscheidung fiel gleich am ersten Tag, als der Krieg begann. Aber dann hatte ich natürlich als Fotograf meine Kamera dabei, und ich weiß, dass sie ein mächtiges Werkzeug ist. Ich wurde von einer Zeitschrift gebeten, einige Fotos zu machen, und so begleitete ich einen bekannten Kriegsberichterstatter und meine OSTKREUZ-Kollegin und Fotografin Johanna Maria Fritz. Wir waren in einem sehr kleinen Auto unterwegs und saßen zu viert auf Kanistern mit 50 Litern Benzin, mit Schutzwesten und Helmen. Wir wussten nicht wirklich, wohin wir fahren würden, alles war zu diesem Zeitpunkt sehr unklar. Wird die Stadt in Trümmern liegen? Wird es weitere Bombardierungen geben? Was geschieht mit all den Menschen? Es war nicht fassbar, unwirklich. Aber wenn man in die Stadt kommt, in der man geboren wurde und aufgewachsen ist, dann fühlt man sich sofort wie zu Hause, als ob einem nichts passieren könnte. Ich denke, das ist vielleicht ein Grund, warum viele Menschen Kiew, Bucha und Irpin nicht verlassen haben: Weil man sich zu Hause sicher fühlt und sich nicht vorstellen kann, dass jemand mit einer Waffe ins Haus kommen und einen umbringen könnte.
Tatyana, the volunteer of Zoo Patrol in Kyiv dedicate her days rescuing home animals from closed flats. In the first days of war many people left in panic, thinking of just some days of absence and left the cats and dogs inside closed apartments. in the last weeks they get in contact with Zoo Patrol in Kyiv and ask to rescue them.
In einem der Texte in der Ausstellung schreibst du, dass du Fotos von grausamen Szenen gemacht hast und mit dir gerungen hast, ob du sie einem Verlag geben sollst oder nicht. Formierte sich bei dir irgendwann ein Gefühl der Verantwortung, als du anfingst, die Dinge zu dokumentieren?
Ja, es gab einen bestimmten Moment. Es war der erste Tag, nachdem die Russen die Region Kiew verlassen hatten. Wir fuhren nach Bucha, und es war eine unglaubliche Landschaft des Todes. Stell dir vor, du fährst eine Straße entlang, überall Zerstörung, und du musst ganz langsam und vorsichtig nach rechts und links ausweichen, um die Toten, die auf der Straße liegen, nicht zu überfahren. Ich konnte mir vorher nicht vorstellen, dass ich so etwas erleben würde. An diesem Tag bin ich zwischen den Toten umhergelaufen und habe sie fotografiert, und eines der Bilder habe ich sofort im Webmagazin Decoder und in den sozialen Medien veröffentlicht. Ich habe auch meine Agentur OSTKREUZ gebeten, die Bilder zu verbreiten, weil ich das Gefühl hatte, dass es in der ganzen Welt gesehen werden muss. Wer hätte zu Beginn des Krieges gedacht, dass es einmal so weit kommen würde – Zivilisten, die einfach auf der Straße erschossen werden. Ich musste das unbedingt zeigen, um öffentlich zu machen, dass hier etwas Barbarisches und Wahnsinniges passiert.
Welche Reaktionen hast du bekommen?
Mir ist aufgefallen, dass diese Bilder in Deutschland in den Medien nicht sehr willkommen waren. Ich glaube, nur der SPIEGEL hat die Bilder veröffentlicht, während die übrigen Medien sich offenbar scheuten, ihren Lesern die abscheulichsten Bilder des Krieges zuzumuten. Und ich verstehe das, diese Szenen sind nicht einfach anzusehen. Aber wie soll die Welt von den Gräueltaten erfahren, die in der Ukraine geschehen sind – und immer noch geschehen –, wenn sie nicht gezeigt werden?
Kommen wir zurück zur Ausstellung – sie zeigt eine Auswahl der Bilder, die du während deines Aufenthalts in der Ukraine gemacht hast, kombiniert mit Texten. Was waren die Kriterien für die Auswahl und was ist das Konzept hinter der Ausstellung?
Die Ausstellung folgt einer chronologischen Reihenfolge. Man folgt mir Tag für Tag, beginnend mit dem ersten Tag, an dem ich in einem völlig leeren und verlassenen Kiew ankam. Die Bilder und Texte geben einen Einblick in das Leben während des Krieges: Wie sich die Menschen auf die Verteidigung der Stadt vorbereiten, wie sie in Bunkern und Kellern leben, wie der Krieg immer näher rückt und auch wie die Menschen erfahren, was im Rest des Landes vor sich geht. Und so geht es weiter bis zum April, als die Welt erfährt, was in den Städten und Dörfern, in denen die russischen Besatzer waren, passiert ist. Die Ausstellung folgt im Wesentlichen den verschiedenen Entwicklungsphasen in den ersten Kriegsmonaten.
Die Texte, die die Bilder begleiten, geben einen sehr intimen, persönlichen Bericht wieder – sind das tatsächlich Auszüge aus deinem Tagebuch aus dieser Zeit?
Ja, es ist mein Tagebuch. Das Besondere an dieser Ausstellung ist, dass der Text genau die gleiche Gewichtung hat wie die Bilder. Der Text beschreibt nicht die Bilder und die Bilder illustrieren nicht den Text – sie sind zwei eigenständige Seiten der Geschichte.
Die Ausstellung wurde innerhalb eines sehr kleinen Zeitrahmens initiiert und geplant – wie konnte sie so schnell zustande kommen?
Es war unglaublich. In den ersten Märztagen schrieb mich Elisabeth Tietmeyer, die Direktorin des MEK, an und fragte: „Kannst du dir vorstellen, eine Ausstellung über dein Tagebuch zu machen?“ Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade in der Ukraine angekommen, und es gab nur zwei Einträge in meinem Tagebuch. Sie bot mir also an, eine Ausstellung über ein Tagebuch zu machen, das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existierte, was ich unglaublich mutig und eine starke Aussage des Museums finde. Ich fühle mich durch dieses Vertrauen sehr geehrt, zumal ich meine Rückkehr nach Deutschland mehrmals verschieben musste. Wir sprachen zum ersten Mal Anfang März darüber und es dauerte bis zum 12. Mai, bis wir uns endlich trafen und mit der Planung begannen. Wir haben die Ausstellung also in etwa einem Monat gemacht, mit der ganzen Planung, dem Layout, den Übersetzungen und dem Druck. Es ist unglaublich, dass das geklappt hat.
Im Moment gibt es in Deutschland und anderen europäischen Ländern eine Menge zivile Unterstützung und Solidarität. Die politische Debatte um Themen wie Waffenlieferungen und finanzielle Hilfe scheint jedoch eher schwierig und spaltend zu sein. Bist du der Meinung, dass Kultureinrichtungen, Kunst und Wissenschaft in Europa gute Arbeit bei der Unterstützung der Ukraine leisten? Oder glaubst du, dass sie mehr tun könnten, und wenn ja, was könnte das sein?
Die Kultureinrichtungen tun im Moment viel mehr als die Politiker. Die politische Haltung Deutschlands in diesem Konflikt kann ich nicht wirklich nachvollziehen und finde sie inakzeptabel, vor allem wenn man die historische Verantwortung bedenkt. Es scheint, als ob viele Politiker in Europa glauben, dass der Krieg irgendwann zu Ende sein wird und sie danach mit Putin einfach wieder zur Tagesordnung übergehen können. Für mich ist das absurd. Wie können sie nicht sehen, was hier geschieht? 77 Jahre lang haben wir uns an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert, und jetzt, wo er sich wiederholen könnte, schauen die Menschen einfach weg? Ich habe den Eindruck, dass Kulturschaffende und Wissenschaftler in der Lage sind, die historischen Parallelen zu erkennen, während Politiker das irgendwie nicht tun, und ich verstehe nicht, warum.
Inhabitants of Irpin cross river under the ruined bridge, which connects Irpin with Kyiv and at the moment is the only escape point from the city. Ukraine 2022.
Glaubst du, dass Kultureinrichtungen in der Zukunft, wenn dieser Konflikt hoffentlich beendet ist, wieder Brücken zwischen den Menschen bauen können?
Es wird viel Zeit und Mühe kosten, aber ich glaube, dass es am Ende gelingen kann. Es gibt tolle Künstler:innen, Schriftsteller:innen und andere Menschen in Russland, die alle gegen diesen Krieg sind. Und ich applaudiere jedem in Russland, der mutig genug ist, dagegen aufzustehen und seinen Protest auf die Straße zu tragen. Aber ich verstehe einfach nicht, warum so viele es einfach geschehen lassen – warum sind sie nicht in der Lage, es zu ändern, es zu stoppen? Jeden Tag werden in der Ukraine Hunderte von Menschen getötet – wofür? Es ist nicht leicht zu verzeihen. Eines Tages werden natürlich die Brücken zwischen unseren Völkern wieder aufgebaut werden, aber das ist kein Thema für heute.
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