Die „Toiles de Jouy“ aus dem Kunstgewerbemuseum, oder: Stofffragmente der Museumsgeschichte
Kuratorin Katrin Lindemann hat während des Corona-Lockdowns Zeit gehabt, die Depots zu durchstreifen und sich auf eine textile Spurensuche zu begeben.
Text: Katrin Lindemann
Die Schließung der Museen und damit der Wegfall sämtlicher Termine ermöglicht es einem als Kuratorin endlich einmal in Ruhe durch die Depots zu streifen und sich das ein oder andere textile Fragment, Accessoire oder Kleidungstück genauer anzusehen. Dabei begegneten mir drei Objekte, so genannte „Toiles de Jouy“, die ich bereits für meine Dissertation untersucht hatte – und nun für den Blog noch einmal genauer unter die Lupe nehmen möchte.
Beginnen wir mit der Frage: Was ist überhaupt ein „Toile de Jouy“? Als Sammelbegriff wird die Bezeichnung häufig für Druckstoffe aus dem 18. und 19. Jahrhundert verwendet, auf denen figürliche Szenen abgebildet sind. Das Neue und Besondere daran waren sowohl das Material – Baumwolle – als auch das maschinelle Druckverfahren, mit dem die Motive auf den Stoff gebracht wurden. Doch was können wir von diesen Stoffstücken lernen? Was erzählen sie uns und warum stehen sie in Verbindung mit der Geschichte des Museums?
Schauen wir uns dazu einen Druckstoff an, der noch nach handwerklich-traditionellen Methoden von Hand bedruckt ist (Abb. 1). Der Druckstoff zeigt eine stehende Dame mit Kavalier in typischer Tracht des 18. Jahrhunderts. Der Kavalier ist in einem kragenlosen Herrenrock und Allongeperücke gekleidet. Die Dame trägt ein Kleid mit Reifrock und Schürze. Sie steht an einem Podest gelehnt, hinter dem ein Baum hervorragt; ihren rechten Arm hat sie im Redegestus ausgestreckt. In einem kleineren Maßstab hockt in einem zweiten Bildfeld eine Person mit spitzer Kappe neben einem Baum. Sie spielt mit einem Hündchen, das die Pfote gibt. Ein fortfliegender Vogel schneidet das Motiv an. Die figürlichen Darstellungen sind umgeben von Blumen, Bäumen und floralen Ranken. Das Motiv besteht somit aus zwei Szenen. Diese wurden händisch mit sogenannten Druckmodeln per Direktdruck auf den Stoff gebracht. Der Modeldruck war in Europa die früheste Methode, Darstellungen auf Stoffe aufzubringen und ist vergleichbar mit dem Blaudruck.
Mit dem Voranschreiten der Industrialisierung entwickelte sich ein neues Druckverfahren, das seine Ursprünge in der Goldschmiedekunst hat. Durch die Gründung neuer Kolonien kamen auch neue Stoffe nach Europa, sogenannte „Indiennes“‚ „Calicos“ und „Chintze“, die mit ihren leuchtenden Farben auf Baumwolle und Seide ihre Zeitgenossen begeisterten, jedoch anfänglich nur einem wohlhabenderen Personenkreis zugänglich waren. Bedingt durch die große Nachfrage nach diesen Motiven aus der orientalischen Pflanzenwelt begannen englische, französische und niederländische Manufakturen ab 1670 die Gestaltung dieser Dessins kostengünstiger, und vor allem gewinnbringend, nachzuahmen. Die Beliebtheit begründete sich insbesondere durch den vielseitigen Einsatz sowohl als Kleider- als auch Dekorationsstoff.
Neue Technik, feinere Darstellungen
Als es zu aufwendig wurde, für jede Farbe und jedes Motiv einen eigenen Druckmodel herzustellen, entwickelte eine irische Manufaktur eine Maschine, die ein halb-kontinuierliches Druckverfahren mit Hilfe von Druckplatten aus graviertem Kupfer anwandte. Diese Technik verbreitete sich rasend schnell in ganz Europa, insbesondere jedoch in Frankreich. Ursprünglich zur Vervielfältigung von Kunstwerken auf Papier gedacht, wurde die Technik auf das Bedrucken von Stoffbahnen abgeleitet. Dieses Tiefdruckverfahren auf Kupferplatten erlaubte nun im Gegensatz zum Holzmodeldruck eine viel feinere Darstellungsweise, die mit feinen Schattierungen arbeiten konnte, selbst wenn nur monochrom, also mit einer Farbe, gedruckt wurde.
Für die Kupferplatten wurde neben den allseits beliebten floralen Motiven auch auf Genreszenen zurückgegriffen, wie man sie aus Gemälden von François Boucher (1703–1770) oder Jean-Honoré Fragonard (1732–1806) kannte. Aber auch Fresken, wie das von Guido Reni 1614 fertiggestellte Aurora-Fresko im Garten-Casino des Palazzo Rospigliosi in Rom, dienten als Motivvorlage, so auch für das Stück „Le char de l’Aurore“: Es zeigt eine Szene aus der griechisch-römischen Mythologie. Im Zentrum befindet sich der Gott Apoll im Sonnenwagen, vor den vier galoppierende Pferde gespannt sind. Die Quadriga ist umgeben von einem Reigen aus sieben, in antikisierenden Gewändern gekleideten jungen Mädchen, die vermutlich die Horen darstellen. Sie begleiten, auf Wolken schreitend, den Wagen des Apolls. Ihnen voraus schwebt Aurora, die Göttin der Morgenröte und des anbrechenden Tages. Sie blickt zu Phosphoros zurück, der die Gestalt eines geflügelten Putto angenommen hat und den Morgenstern personifiziert. Er selbst schwebt über dem Viergespann und trägt eine verzierte Fackel. In der rechten unteren Ecke löst sich der Wolkenhintergrund auf und öffnet die Aussicht auf eine weitläufige Landschaft, vor deren Küste sich zwei Ruinen erheben.
Die gesamte Szenerie ist in Bewegung, sie erscheint wie ein Zug aus Figuren, der von links nach rechts über das Himmelsgewölbe zieht. Im Gegensatz zu Renis Fresko, das durch seinen goldenen Rahmen abgeschlossen wirkt, wird dieses Motiv auf dem Druckstoff (Abb. 3) von weiteren bildlichen Darstellungen, wie Gian Lorenzo Berninis’ Marmorskulptur von Apoll und Daphne aus der Galleria Borghese in Rom, 1622–1625, ergänzt. Es zeigt, dass sich die Motivsuche der Kupferplattengraveure nicht nur auf die Genremalerei beschränkte, sondern auch Skulpturengruppen in die Motivzusammenstellung eingebunden wurden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Vorlage nicht das dreidimensionale Objekt von Bernini war. Es muss vielmehr in der Reproduktionsgrafik bzw. in Vorlagenwerken zu suchen sein, die europaweit über die Sammlung der Galleria Borghese kursierten. Die Reproduktionsgrafik hatte sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verbreitet.
Heimtextilien
In dieser Zeit begannen vermehrt Verleger in Rom, und später auch in Paris, damit, illustrierte Bücher mit druckgrafischen Darstellungen von Kunstwerken zu verlegen. Dass dem Graveur auch ein Reproduktionsstich des Freskos von Guido Reni als Vorbild diente, scheint ebenfalls wahrscheinlich. Es ist auffällig, dass in den bekannten Reproduktionsstichen besonderer Wert auf die Umsetzung der leuchtenden Farbigkeit des Freskos in feine Graunuancen gelegt und künstlerische Freiheit in der Wahl des Bildausschnitts ausgelebt wurde. Der Graveur der Manufaktur Petitpierre & Cie., aus der das Stück „Le Char de l’Aurore“ stammt, hingegen reduziert die Darstellung auf eine kleine Wolkeninsel, verzichtet auf die gloriolenähnliche Hintergrundgestaltung. Und die Wahl von Renis – unter den Zeitgenossen äußerst beliebtes – Fresko als Motiv, war für Petitpierre & Cie. gleichfalls ein Garant für den kommerziellen Erfolg seines figürlichen Baumwolldruckstoffs.
Doch wurden diese speziellen Stoffe nicht etwas als Kleiderstoff genutzt – zumal mit einem Rapport von bis zu einem Meter ausgestattet – sondern viel eher als Ausstattungstextil an Wänden, Sitzgelegenheiten, Betthimmel oder Fenstervorhänge. Ein Beispiel dafür sind die beiden Stücke „L’agréable Leçon oder L’Art d’aimer/Die angenehme Lektion oder Die Kunst des Liebens“ (Abb. 4) und „Dites merci oder Le retour du bon père/ Sag Danke oder Die Rückkehr des Großvaters“ (Abb. 5). Aus mehreren Einzelteilen verbunden zu einer großen Fläche, dienten die Stücke sehr wahrscheinlich als Überdecke eines Bettes. Die Kanten sind an der Unterseite volutenförmig abgerundet und die gesamte Decke ist rautenförmig von Hand durch einen Punktstich mit dem ungefärbten Unterstoff verbunden.
Ist es weniger fraglich, welche Funktion diese zu einer Decke verbundenen Stoffe in einer Museumssammlung haben – erzählen sie doch von einer Kulturgeschichte der Raumausstattung – stellen Stoffe, wie das oben besprochene Stück „Stehende Dame mit Kavalier“ (Inv. Nr. 1883,941), den Betrachter vor eine größere Herausforderung. Welchen Nutzen hatte dieser Stoff für die Sammlung nach seinem Erwerb 1883 aus einem Antiquariat?
Die vollständige Stoffsammlung
Dem ersten deutschen Kunstgewerbemuseum war seit 1867 eine „Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums“ angeschlossen. Ziel war es, Handwerkern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, und die Qualität der von ihnen produzierten Gegenstände in ästhetischer und handwerklicher Weise zu verbessern. Gleichzeitig sollte aber auch der Geschmack der Museumsbesucher verbessert werden. Von Beginn an gehörten auch Textilien zu der im Museum präsentierten Vorbildersammlung. Seit ihrer Gründung wuchs die Textil-Abteilung des Museums rasch an, sodass bereits der Museumsführer von 1894 die Stoffsammlung als eine der vollständigsten beschreibt. Das Hauptaugenmerk bei den Zugängen lag auf einer umfangreichen Darlegung der textilen Techniken und der Entwicklung der Ornamentik in der Seidenweberei, also auf traditionell-künstlerischen Aspekten.
In diesen Aspekten muss auch die Begründung zum Ankauf des Stofffragments „Stehende Dame mit Kavalier“ zu suchen sein. Obwohl es sich um einen recht einfachen weißgrundigen Baumwolldruck mit braun-schwarzen Konturlinien handelt, hat er seine motivischen Bezüge im Rotdruck, seine technischen Bezüge jedoch in der Papiertapete des 17. Jahrhunderts bzw. in der Schwarzstickerei des 16. Jahrhunderts. Gerade diese Querverweise und -bezüge zu artverwandten Gattungen könnten auf die Nutzung als ein technisches Muster hinweisen. Präsentiert wurden die Sammlungsstücke, ähnlich der Kupferstichsammlung, auf Tafeln montiert und in Schränken, Pultschränken oder auf Drehgestellen in der Galerie untergebracht, um einzeln oder in Gruppen den Besuchern zum Studium vorgelegt zu werden.
Was erfahren wir nun von den Stoffen? Bis heute erzählen uns solche Stoffmuster also auf den 2. Blick viel mehr als es ihre bloße Erscheinung vermuten lässt. Sie berichten von neuen Herstellungstechniken und ihren Vorlagen aus der Malerei, Skulptur und Reproduktionsgrafik. Durch ihren Zuschnitt und Spuren auf dem Fragment wird uns ein Bild darüber vermittelt, wie die Stoffe von ihren Zeitgenossen verwendet wurden, etwa zur Raumausstattung. Gleichzeitig erzählen sie auch von ihrer Verwendung im musealen Kontext als Inspirationsquelle für Handwerker, Entwerfer und Museumsbesucher. So kann allein die bis heute beibehaltene Aufbewahrung, wie z. B. auf einer Tafel montiert, die musealen Verwendung von vor über 100 Jahren verdeutlichen und damit zum lebendigen Erinnern an die Anfänge des Kunstgewerbemuseums beitragen.
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