Drahtseilakt mit Ahnengeschichte: Objekte ziehen ins Humboldt Forum
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Im Mai 2021 sind die letzten Großobjekte des Ethnologischen Museums Berlin ins Humboldt Forum eingebracht worden – u.a. ein rund 600 kg schwerer und fast neun Meter langer Wappenpfahl der kanadischen First Nation der Haida
Text: Sven Stienen und Jonas Dehn
Selten war der Umzug der Sammlungen aus dem Ethnologischen Museum ins Humboldt Forum solch ein sprichwörtlicher Drahtseilakt wie an diesem bewölkten Dienstagmorgen im Mai. Eine Crew von Logistiker*innen, das Team des Ethnologischen Museums und eine Handvoll Pressevertreter*innen und Schaulustige haben sich vor der Nordfassade des Berliner Schlosses eingefunden, um die spektakuläre Einbringung der letzten Großobjekte zu verfolgen.
Die Objekte sind bereits angeliefert worden und warten in großen Holzkisten auf ihre Verladung. Mit einem Kran sollen die Kisten in den zweiten Stock gehoben werden – und über den Balkon, von dem einst Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik Deutschland“ ausgerufen haben soll, ins Innere des künftigen Humboldt Forums manövriert werden. Es wurde dafür eigens das Geländer des Balkons abgeschraubt, mehrere angeseilte Mitarbeiter der Spedition warten oben auf die sperrige Fracht.
„Auf diesen Moment haben wir in den letzten drei Jahren hingearbeitet“, sagt Monika Zessnik, die Kuratorin für Nordamerika am Ethnologischen Museum, ohne den Blick vom Geschehen abzuwenden. „Jetzt darf nichts mehr schiefgehen.“ Kurz hatte man überlegt, die ganze Aktion zu verschieben, wegen des Wetters. Und tatsächlich geht ein böiger Wind, der bei den Beteiligten für Anspannung sorgt. Doch die Fachleute haben nach gründlicher Risikoabwägung entschieden, die Aktion heute abzuwickeln und nun gibt es kein Zurück – die Objekte warten bereits.
Chief Stithldas Wappenpfahl
Als erstes soll die größte der drei Kisten eingebracht werden. In ihr befindet sich ein Zedernholzpfahl der kanadischen First Nation der Haida. Der fast neun Meter lange Pfahl wurde vermutlich erstmals um 1875 aufgestellt und zierte das Haus von Chief Stithlda in Old Masset auf Haida Gwaii, einer Inselgruppe an der Küste vor British Columbia, Kanada. Solche reich mit Schnitzkunst verzierten Pfähle sind Haus-, Wappen- oder Erinnerungspfähle – sie repräsentieren die Geschichte und Identität eines Clans und ehren dessen Ahnen.
Der Wappenpfahl der Haida war eines der ersten Objekte seiner Art, das nach Europa gelangte, und ist daher für die Museumsgeschichte von besonderer Bedeutung.. Außer der Gestalt einer Schamanin sind auch Bär, Wolf, Frosch und an der Pfahlspitze ein Adler zu erkennen. Der Pfahl wurde vermutlich von Chief Stithlda anlässlich der Neuerrichtung seines Hauses bei dem Künstler Charles Edenshaw in Auftrag gegeben. Nach Stithldas Tod erwarb der norwegische Sammler Johan Adrian Jacobsen 1881 im Auftrag der Berliner Museen den Pfahl von dessen Bruder. Jacobsens Reise nach Nordamerika war der erste konkrete Sammelauftrag des Königlichen Museums für Völkerkunde und dessen damaligem Direktor Adolf Bastian.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Pfahl zunächst als verschollen, während er sich tatsächlich „kriegsbedingt verlagert“ in St. Petersburg befand. Erst 1975 kehrte er nach Deutschland zurück – als Geschenk Russlands an den „sozialistischen Bruderstaat“ DDR, wo er gemeinsam mit zahlreiche anderen Objekten des heutigen Ethnologischen Museums im Grassi Museum in Leipzig unterkam. In Berlin wusste man bis in die 1980er Jahre hinein nicht, dass der Pfahl überhaupt noch existierte – es wurde vermutet, dass er nach seiner Auslagerung in den Flakbunker am Zoologischen Garten 1945 zerstört worden war. 1990 kam der Wappenpfahl schließlich als Teil der „Leipzig-Rückführung“ mit weiteren Objekten wieder nach Berlin. 1992 wurde er zum letzten Mal in einer Ausstellung im Martin-Gropius-Bau öffentlich gezeigt, danach kam er ins Dahlemer Depot – die Ausstellungsflächen in Dahlem boten keinen Platz für das Großobjekt.
Zentimeterarbeit am Balkon
„Die Wappenpfähle spielen nach wie vor eine große Rolle für die First Nations“, erklärt die Nordamerika-Spezialistin Monika Zessnik. „Die Kulturproduktion dieser Menschen war lange Zeit unterbrochen. Die Ausübung ihrer Traditionen war verboten, die Kinder wurden in Internaten, so genannten Residential Schools nach europäischen Vorstellungen zwangserzogen, nicht zuletzt daher ist die Bedeutung historischer Objekte für die Identität der Menschen heute noch sehr wichtig.“
Nun treffen die Logistik-Fachleute die letzten Vorbereitungen für den „Take-Off“. Halteriemen werden gesichert, der feste Sitz und die Balance des Gewichts ein letztes Mal geprüft, dann gibt es das „Go“: Die große Holzkiste hebt ab und schwebt an einem Drahtseil vom überlangen Arm des Hebekrans langsam Richtung Himmel.
Die Logistiker haben gute Arbeit geleistet, alles ist gut verzurrt und das übergroße Paket bewegt sich kaum, als kräftige Böen über den Vorplatz des Stadtschlosses fegen. Es dauert vielleicht zehn Minuten, dann schwebt die Kiste genau vor dem Balkon im zweiten Stock, wo bereits angeseilte Männer warten und die Fracht entgegennehmen. Zentimeter für Zentimeter arbeitet man sich nun durch die Balkontür voran.
Es scheint alles gut zu gehen, doch dann gibt es doch noch Probleme. Der Kran steht nicht optimal und das Paket muss durch die andere Türseite eingebracht werden – eine halbe Ewigkeit scheint die Kiste in der Luft zu hängen, während die Logistiker die Balkontür entfernen, um mehr Platz zum Manövrieren zu schaffen. Nach einigen zähen Minuten können die letzten Schaulustigen mit steifem Nacken schließlich beobachten, wie die Kiste langsam im Inneren des Schlosses verschwindet – der kniffligste Teil der Reise ist geschafft.
Erste Aufstellung seit 30 Jahren
Ein paar Tage später geht es bereits etwas entspannter zu. Der Pfahl liegt quer im Ausstellungssaal und harrt seiner Aufstellung: Ein Kran und eine Hebebühne stehen bereit. Pandemiebedingt sind nur wenige Menschen vor Ort, wenn der Pfahl nun zum ersten Mal seit etwa 30 Jahren aufgestellt wird, auch die Vertreter*innen der Haida können leider nicht in Berlin dabei sein. Sie nehmen aber per Video-Livestream zumindest virtuell teil und Chief Stithlda Frank Collison richtet per Telefonschaltung aus Kanada die Grüße der Haida aus. Er freue sich, per Zoom an der Aufstellung teilnehmen zu können, und hoffe natürlich auch, alle Beteiligten bald persönlich treffen zu können. Der Wappenpfahl sei für seine Kultur sehr wichtig und er sei geehrt, mit anderen Nationen, die sich für die Haida-Kultur interessieren, Beziehungen zu pflegen.
Daran anknüpfend berichtet Kuratorin Monika Zessnik von einer Reise des Ausstellungsteams nach Haida Gwaii vor zwei Jahren, die den Ausgangspunkt für die Ausstellungspräsentation bildete, die in Kooperation mit dem Haida Gwaii Museum entstand. Die Ausstellung, die im Auftrag der Stiftung Humboldt Forum mit Kolleg*innen aus dem Haida Gwaii Museum und der Kuratorin, Daniela Kratzsch, entsteht, beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, in verschiedenen Kapiteln würden historischen und aktuelle Interaktionen zwischen dem Regenwald, den lokalen First Nations und den europäischen Kanadiern präsentiert.
Im Saal sind die Vorbereitungen für den heutigen Tag sorgsam getroffen worden: Der Sockel, auf dem der Wappenpfahl nach der Aufstellung stehen soll, ist speziell dazu konstruiert, das hohe Gewicht – immerhin mehr als 600 kg – zu tragen. Er wurde per 3D-Scan gefertigt, damit der Pfahl passgenauen Halt bekommt und der sichere Stand gewährleistet ist. In der Höhe ist eine Wandhalterung vorbereitet, an der der Holzpfahl befestigt wird, um ein Umkippen nach vorn zu verhindern. Insgesamt ist die Haltekonstruktion sehr zurückhaltend gestaltet: So kann der Wappenpfahl ungestört seine Wirkung entfalten.
Als sich die Arbeiter der Spedition an die Arbeit machen, wird es still. Der Kran surrt und zieht langsam die Seile, an denen der Pfahl mit Schaumstoffpolstern befestigt ist, stramm. Dann setzt sich auch der Pfahl selbst in Bewegung und richtet sich nach und nach auf. Die Speditionsmitarbeiter gehen sehr behutsam vor, es gibt keine Eile. Während sich die Spitze in die Höhe hebt, schieben die Arbeiter von unten nach, bis der Pfahl aufrecht steht und in Millimeterarbeit auf den Sockel gehoben wird. Als der Wappenpfahl schließlich fest an seinem Platz steht, gibt es Applaus: Eine gewaltige logistische Aufgabe ist vollbracht. Nun wartet der Pfahl auf die Besucher*innen: Ab 2022, wenn der Ostflügel eröffnet, wird man ihn im Humboldt Forum bestaunen können.
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