Magical Soup. Eine Reise in die Geschichte der Medienkunst
Lesezeit 6 Minuten
Anna Catharina-Gebbers und Charlotte Knaup betreuen im
Hamburger Bahnhof die Ausstellung „Magical Soup“. Hier werfen sie einen
Blick auf die Geschichte der Medienkunst und erklären, was sie leisten
kann.
Text: Anna Catharina-Gebbers und Charlotte Knaup
„Babylon,
Babylon, Babylon“: In einer hypnotischen Endlosschleife ist diese
melancholische Zeile aus dem gleichnamigen Lied des Popmusikers David
Grey zu hören, während Bilder einer in orangefarbenes Licht getauchten,
kargen Wüstenlandschaft vorbeiziehen. Ruinen erscheinen. Die Kamera
tastet Grabstätten und Paläste ab. Hände heben Scherben auf und halten
sie ins Bild. Dazwischen zeigen Einstellungen das moderne Bagdad und das
babylonische Ischtar-Tor im Berliner Pergamonmuseum.
Diese Szenen
stammen aus „Artefacts“ (2011) von Cyprien Gaillard und sind in der
Gruppenausstellung „Magical Soup“ zu sehen, die das Verhältnis von
Hören, Sehen und gesellschaftlicher Prägung erkundet. Insbesondere Musik
hat die Kraft, imaginäre Welten zu erzeugen und mythische Stätten wie
die antike Stadt Babylon auferstehen zu lassen. Gaillards Bilder sind
von einem fast schmerzhaften Realismus: Die verlassenen Ruinen sehen wir
neben Soldaten im Irakeinsatz. Die Bilder entstanden 2011, im letzten
Jahr der US-geführten Besatzung, die auf den aufgrund angeblicher
Beweise für Massenvernichtungswaffen initiierten Irakkrieg von 2003
folgte. Für den Film reiste Gaillard mit einer Schutztruppe zu den
archäologischen Fundstätten. Seine Bilder aus Berlin zeigen das
Ischtar-Tor, das Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Archäologen
ausgegraben, nach Berlin gebracht und 1930 rekonstruiert worden war.
Die
Zusammenführung verschiedener Zeitalter in Gaillards Bewegtbildern
spiegelt sich in der Wahl der Medien: Die mit der Handykamera erstellten
Videos übertrug der Künstler vom zeitgemäßen Digitalformat auf das eher
historische Medium des 35mm-Analogfilms und lässt sie nun im Museum von
einem imposanten Projektor vorführen.
„Magical
Soup“ ist eine Reise in die Geschichte der Medienkunst. Die
Nationalgalerie verfügt über eine der umfangreichsten musealen
Medienkunstsammlungen in Europa. Die Bestände bedeutender historischer
Videokunst wurden in den letzten Jahren um herausragende neuere
zeitbasierte Arbeiten erweitert. Die Gruppenausstellung zeigt auf über
2000 qm zentrale Werke, darunter auch zahlreiche Leihgaben aus der
Friedrich Christian Flick Collection, aus denen sich die Ausstellungen
in den Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs in den vergangenen Jahren
wesentlich speisten. Mit dabei sind Arbeiten von Videokunst-Pionierinnen
und -Pionieren wie Nam June Paik, Charlemagne Palestine, Ulrike
Rosenbach oder Keiichi Tanaami, von multimedial arbeitenden
Künstlerinnen und Künstlern wie Nevin Aladağ, Stan Douglas, Cyprien
Gaillard, Douglas Gordon, Rodney Graham, Anne Imhof, Pipilotti Rist,
Lawrence Weiner, Nicole Wermers oder David Zink Yi sowie jüngere
künstlerische Positionen von Korakrit Arunanondchai, Trisha Baga, Dineo
Seshee Bopape, Christine Sun Kim, Sandra Mujinga und Sung Tieu.
Ausgehend vom Verhältnis zwischen Ton, Bild und sozialem Raum versammelt
die Präsentation Medienkunstwerke, Installationen und Papierarbeiten
von den 1970er-Jahren bis zur unmittelbaren Gegenwart.
Genauso wie
Gaillards „Artefacts“ erzählt „Deux Devises“ (1982–83) von Stan Douglas
von verschiedenen Wirklichkeiten. Im ersten Teil der Projektion ist ein
Lied des französischen Komponisten Charles Gounod zu hören. Doch statt
eines Bildes von Sänger oder Besungener laufen die nüchternen, ins
Englische übersetzten Textzeilen des Liedes über die Projektionsfläche.
Im zweiten Teil wird ein Song des Bluesmusikers Robert Johnson aus den
1920er-Jahren von fotografischen Selbstporträts des Künstlers begleitet,
in denen sein Mund Phoneme artikuliert, die jedoch nur gelegentlich
synchron zum Lied sind. „Deux Devises“ unterläuft die
Publikumserwartung: Obwohl die Wahrnehmung danach strebt, will sich die
der Stimme zugeschriebene Magie nicht mit der Wirklichkeit der Bilder
vereinen.
So wie Musik Vorstellungsräume eröffnen kann, können
Bilder Klangräume heraufbeschwören, die über Leinwand und Bildschirm
hinausführen. Töne haben die Kraft, Räume physisch zu erschüttern, und
Sprache kann wie in Sung Tieus Werk „No Gods, No Masters“ (2017) zur
Kriegsführung eingesetzt werden. Sprache ist vielfältiger, als wir
annehmen, wie Werke von Christine Sun Kim, Künstlerin und Aktivistin für
Gebärdensprachenübertragung, zeigen. Um Sprache, Töne und Musik
kreisend, bewegen sich die Werke in „Magical Soup“ zwischen genauer
Beobachtung, radikalem Selbstausdruck und bewusster Dekonstruktion von
Identität. Greifbar werden Sichtweisen auf eine Realität, die sich im
Fluss befindet und die immer wieder nach Erweiterungen bisheriger
Gewissheiten verlangt.
„Mit
‚magisch‘ im Gegensatz zu ‚mythisch‘ sollte angedeutet sein, daß das
Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter
ihr zurückhält“, schrieb Franz Roh 1925. So umriss der Kunstkritiker vor
fast einhundert Jahren den Magischen Realismus. Dieser resultierte für
ihn aus neuen Arten, das Vertraute zu sehen und zu beschreiben, sowie
neuen Entwicklungen im Alltag und sollte die Darstellung von
Wirklichkeit auf besonders präzise Weise sichtbar machen. Roh beschrieb
mit dieser Kunstströmung auch eine neue Sichtweise auf die empirische
Wirklichkeit, indem in der Kunst eine andere Wirklichkeit geschaffen
wurde.
Dieser spekulative Realismus drückt sich etwa in den
techno-animistischen Werken von Korakrit Arunanondchai aus, in der eine
Drohne für den Götterboten Garuda und die Performerin Boychild für seine
Widersacherin, die Erdschlange Naga, steht. Diese
Selbstverständlichkeit findet sich auch im spekulativen Feminismus der
raumgreifenden Installation „The Violet Revs“ (2017) von Nicole Wermers:
Mit den Lederjacken einer offenbar weiblichen Motorradgang, die über
weißen Plastikstühlen hängen, „besetzt“ diese Gruppe den öffentlichen
Raum. Die Belegung von Raum durch hinterlassene Jacken oder Handtücher
ist so geläufig, dass wir dies für ebenso selbstverständlich nehmen wie
die Annahme, dass die Gang real ist.
Der Titel der Ausstellung
legt eine Verbindung zum Lied über die „schöne Suppe“ nahe, mit dem
Lewis Carroll in „Alice im Wunderland“ (1865) dem Auseinanderfallen von
Worten und deren Sinn eine Parodie gewidmet hat. Aber Carroll überzeugt
uns durch die Genauigkeit der Beschreibung von der Realität der
Sachverhalte. Und so klingt in „Magical Soup“ an, dass Bedeutungen und
damit auch gesellschaftlich oder fiktional erzeugte Räume umso
selbstverständlicher wirken, je genauer sie dargestellt werden. Schon
der Autor Alain Robbe-Grillet 1965 schrieb über Franz Kafka: „Im
Endeffekt ist nichts phantastischer als die Genauigkeit.“
Dieser Text erschien zuerst im MuseumsJournal 2 / 2020.
Anna-Catharina Gebbers ist Kuratorin, Charlotte Knaup kuratorische
Assistentin am Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin,
Staatliche Museen zu Berlin
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