Susannas lange Reise: Auf den Spuren der Sammlung Mosse
Eine Multimediastation in der Alten Nationalgalerie informiert über einen besonderen Raubkunstfall und dessen glücklichen Ausgang: Am Beispiel der »Susanna« von Reinhold Begas wird die bewegte Geschichte der jüdischen Familie Mosse und ihrer Kunstsammlung erzählt.
Text: Yvette Deseyve & Emily Oberkönig
Die Geschichte der Susanna entstammt dem Buch Daniel im Alten Testament: Die Tugendhaftigkeit der als wunderschön beschriebenen jungen Frau wird darin auf eine harte Probe gestellt. Zwei betagte Richter beobachten sie beim Bade und drängen sie zum Geschlechtsverkehr. Als Susanna sich weigert, verleumden die beiden Alten sie und versuchen, sie hinrichten zu lassen. Der unerschütterliche Glaube Susannas bringt ihr letztendlich Gerechtigkeit: Die Alten werden der Lüge überführt und Susanna wird freigesprochen.
Diese Erzählung wurde zu einer in der Kunstgeschichte vielfach dargestellten Parabel auf Gottesfurcht und integres Verhalten. Der Reiz ihrer künstlerischen Umsetzung bestand nicht zuletzt auch in der Möglichkeit einer erotisch konnotierten, auf sinnliche Reize zielenden Bildfindung.
Auch der deutsche Bildhauer Reinhold Begas (1831–1911) schuf eine Darstellung der Susanna. Er konzentrierte sein Werk ganz auf die Protagonistin und entschied sich gegen die kunsthistorische Tradition einer Figurengruppe. Allein die Körperwendung, der Blick und das Überstreifen des schützenden Tuchs deuten auf die Anwesenheit der beiden Alten hin. Das eigentlich zum Verbergen der Nacktheit gedachte Tuch entwickelte Begas gleichsam zur Präsentationsfläche des sinnlichen Körpers. Mit dieser Inszenierung des voyeuristischen Blicks zieht der Bildhauer den Betrachter selbst in das unerlaubte Geschehen hinein.
Rudolf Mosse und seine Sammlung
Die öffentliche Biografie der Marmorskulptur begann 1873 in Wien. Auf der damaligen Weltausstellung präsentierte der Künstler seine Skulptur zum ersten Mal einem internationalen Publikum. Begas konnte die Skulptur zunächst nicht verkaufen, aber 35 Jahre später, 1908, fand sie sich im Besitz des Berliner Verlegers Rudolf Mosse wieder.
Mosse, 1843 geboren, begründete einen der erfolgreichsten Zeitungsverlage der Weimarer Republik. Eine gesellschaftlich und politisch höchst einflussreiche Persönlichkeit seiner Zeit, galt Mosse 1912 auch als zweitreichster Mann Preußens. Sein beachtliches Vermögen erlaubte ihm den Kauf zahlreicher Immobilien, darunter mehrere Rittergüter und das Schloss Schenkendorf bei Berlin. 1882 ließ er sich zudem ein repräsentatives Wohnhaus am Leipziger Platz errichten, das sogenannte »Mosse-Palais«, in dem er eine bedeutende Kunstsammlung zusammentrug. Dort fand sich, umgeben von Werken zeitgenössischer Bildhauer und einer Büste der Ehefrau Mosses von Begas, auch dessen „Susanna“ wieder.
Mosses Kunstsammlung, die dieser in den 1880er- und 1890er-Jahren zusammengetragen hatte, umfasste mehrere tausend Werke und wurde von dem zeitgenössischen Kunstkritiker und Journalist Max Osborn im Jahr 1912 als »eine der großartigsten und reichhaltigsten deutschen Sammlungen« bezeichnet.
Das „Mosseum“ und die Zwangsübertragung
Ab 1910 war ein Teil der Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich. In seinem prachtvollen Palais präsentierte Mosse in 20 Sälen über drei Stockwerke verteilt seine Kunstsammlung. Der Sammlungsschwerpunkt lag auf zeitgenössischen Gemälden des Realismus, Ausnahmen bildeten vereinzelte Werke des Naturalismus und einige Alte Meister. Neben Arbeiten namhafter Künstler, darunter Adolph Menzel, Max Liebermann und Hans Thoma, erwarb Mosse zahlreiche Werke junger und bisher unbekannter Künstler, die er auf diese Weise finanziell unterstützen wollte. Neben Gemälden und Skulpturen umfasste die in Kunstkreisen als »Mosseum« bekannte Sammlung Kunstgewerbe, Tapisserien, Bücher, ägyptische und römische Kunstwerke, Benin-Bronzen, Teppiche, Stickereien, ostasiatische Objekte und Möbel. Nach seinem Tod 1920 erbte Rudolf Mosses Adoptivtochter Felicia Lachmann-Mosse die Sammlung.
Doch Felicia Lachmann-Mosse und ihr Mann hatten das Erbe in schwierigen Zeiten zu verwalten. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler nahm die Hetze der Nationalsozialisten gegen den Mosse-Konzern zu und es wurden mehrfach Publikationsverbote verhängt. Gleichzeitig drangen SA-Formationen in die Privatvilla der Mosses in der Maaßenstraße ein und die Familie wurde mit dem Entzug der Auslandspässe bedroht. 1933 wurde die Kunstsammlung der Familie Lachmann-Mosse von den Nationalsozialisten entzogen. Die Zwangsübertragung und damit faktische Enteignung der Familie Lachmann-Mosse gewährleistete im Gegenzug der Familie Auslandspässe und somit Ausreisemöglichkeiten in die Schweiz. Man überführte die geraubte Sammlung Mosse in eine Stiftung und verkaufte zahlreiche Werke über die Auktionshäuser Rudolph Lepke und Union.
Der Weg der »Susanna« in die Alte Nationalgalerie
Der weitere Weg der »Susanna« lässt sich gut nachvollziehen. Sie gehörte nicht zu den bei Rudolph Lepke und Union versteigerten Werken. 1936 stellte die Akademie der Künste sie aus. Der Katalog nennt als Leihgeberin Anny Lederer, die Frau des Bildhauers und Begas-Verehrers Hugo Lederer.
Offenbar aus einem öffentlichen Kunstlager gelangte die Marmorskulptur 1946 durch eine sowjetische »Trophäenkommission« nach Leningrad/St. Petersburg. Gemeinsam mit anderen Rückgaben wurde sie 1978 dem Völkerkundemuseum in Leipzig überwiesen und 1994 treuhänderisch der Nationalgalerie übergeben, die das Werk seit 2001 als Fremdbesitz ausstellte. 2016 wurde die Skulptur an die Erben der Familie Mosse zurückgegeben und 2017 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erneut für die Nationalgalerie erworben.
Neben der »Susanna« gelangten auf verschiedenen Wegen zwischen 1942 und 1994 acht weitere Objekte aus der Sammlung Mosse in die Staatlichen Museen zu Berlin. 1942 kaufte die Antikensammlung aus Privatbesitz einen römischen Kindersarkophag mit Darstellungen des Gottes Eros, der 1934 auf der Auktion der Sammlung Mosse angeboten worden war. Ebenfalls in die Auktion einbezogen waren zwei Objekte ägyptischen Ursprungs, ein Opferbecken und ein Eingeweidekrug. Diese tauchten erst 1970 in Brandenburger Privatbesitz wieder auf und wurden vom Ägyptischen Museum in Ost-Berlin angekauft.
Nach dem Krieg
Unmittelbar nach Kriegsende 1945 stellte Kurt Reutti, Mitarbeiter des Berliner Magistrats, im Garten des Mosse-Palais die Skulptur eines liegenden Löwen von August Gaul sicher, die der Bildhauer 1902 im Auftrag von Rudolf Mosse für die Eingangshalle seiner Villa angefertigt hatte, und übergab sie im Mai 1949 der Nationalgalerie auf der Museumsinsel. In den 1950er-Jahren übergab ein Kommando der Deutschen Grenzpolizei aus Schenkendorf bei Königs Wusterhausen den Staatlichen Museen weitere vier Objekte: zwei Steinlöwen chinesischer Herkunft sowie zwei liegende Windhunde. Die vier Werke gelangten in die neu entstandene Ostasiatische Sammlung auf der Museumsinsel.
Alle neun Werke wurden zwischen 2015 und 2016 an die Erben restituiert, der bereits erwähnte Sarkophag, der Löwe von Gaul und Begas „Susanna“ konnten von den Staatlichen Museen zu Berlin zurückerworben werden.
Die weitere Suche nach dem Verbleib der Sammlung
Ähnlich wie in den beschriebenen Fällen wurden ab 1933 tausende Bilder, Skulpturen, kunstgewerbliche Objekte, Bücher und Antiquitäten aus der Sammlung Mosse in die ganze Welt verstreut – nur ein kleiner Teil konnte bisher ausfindig gemacht und den rechtmäßigen Erben zurückgegeben werden.
Seit 2017 erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin gemeinsam mit der Erbengemeinschaft der Familie Mosse, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit den Staatlichen Museen zu Berlin und weiteren Projektpartnern in der „Mosse Art Research Initiative“ (MARI), wo sich die von den Nationalsozialisten entzogenen Werke heute befinden. Die Forscherinnen und Forscher haben die Spur zu 115 Werken aufgenommen und arbeiten daran, die einzelnen Stationen und Wege der Werke bis zu ihrem heutigen Standort nachzuvollziehen und die genauen Verlustumstände während des NS-Regimes zu klären. Ziel ist es auch, Erkenntnisse über das Verwertungssystem von entzogenem Kulturgut in der Frühphase des Nationalsozialismus zu gewinnen.
Die Ergebnisse der Forschungen sind auf der Datenbank des MARI-Portals einsehbar, durch die Veröffentlichung wollen die Projektbeteiligten auch die Chance erhöhen, weitere Informationen zur Lokalisierung und Identifizierung der Sammlung zu erhalten. MARI ist die erste öffentlich-private Partnerschaft mit Beteiligung der Nachfahren in der Provenienzforschung und gilt als einzigartig. Mit den vereinten Kräften wird es hoffentlich gelingen, viele weitere Objekte aus der Sammlung Mosse ausfindig zu machen und, so wie die „Susanna“ und die weiteren Objekte der Staatlichen Museen zu Berlin, ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben. Die „Susanna“ von Begas steht heute in der Alten Nationalgalerie, daneben befindet sich eine Multimedia-Station, die die bewegte Geschichte des Objektes und der Sammlung Mosse erzählt.
Die „Mosse Art Research Initiative“ ist ein Projekt der Freien Universität Berlin gemeinsam mit der Erbengemeinschaft der Familie Mosse und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit den Staatlichen Museen zu Berlin. Beteiligt sind außerdem die Kulturstiftung der Länder, die Stiftung Jüdisches Museum Berlin und das Landesarchiv Berlin sowie als Kooperationspartner die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, das Wallraf-Richartz-Museum Köln, das Museum Wiesbaden, das Museum der Stadt Worms und die Mathildenhöhe Darmstadt. Das Projekt wird durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg und das Mosse Art Restitution Project gefördert.
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