Tafelkultur in Krisenzeiten: Wir müssen dieses kulturelle Erbe jetzt schützen

Porzellankuratorin Claudia Kanowski aus dem Kunstgewerbemuseum über 230 Jahre „Kurländer Muster“, die ewige Sehnsucht nach dem weißen Gold und darüber, was uns der Genuss von Kultur gerade jetzt bedeuten sollte.
Interview: Ingolf Kern
Was macht eine Porzellankuratorin im home office, Frau Kanowski?
Claudia Kanowski: Obwohl wir technisch nicht wirklich auf „home office“ eingestellt sind,
kann ich doch vieles von zu Hause aus gut machen – sogar mit mehr Ruhe
und Konzentration als bisweilen im Büro. Ich arbeite zum Beispiel an
einem Katalogheft zur Ausstellung „Flora, Fauna, Fabelwesen. Malerei auf Keramik: Grita Götze, Heidi Manthey, Sonngard Marcks“
die (nach bisheriger Planung) im Mai 2020 in Schloss Köpenick, der
Dependance des Kunstgewerbemuseums, eröffnen soll. Bei der Ausstellung,
auf die ich mich sehr freue, geht es um einen Epochendialog. Die
zeitgenössischen Keramiken werden temporär in die Dauerausstellung von
Schloss Köpenick integriert, so dass sich viele überraschende und sehr
reizvolle Querverbindungen zu den historischen Artefakten ergeben. Die
Besucherinnen und Besucher können sich auf eine Entdeckungstour durch
die Zeiten begeben.
Außerdem können wir in „Corona-Zeiten“ unser
Publikum online erreichen. So beliefere ich auch die Online-Redaktion
der Staatlichen Museen zu Berlin gerade mit kleinen Geschichten zum
Porzellan – dazu lässt sich unendlich viel Spannendes erzählen. Nur ist
das für mich kein gleichwertiger Ersatz dafür, den Besucherinnen und
Besuchern „live“ etwas aus unseren exquisiten Sammlungen zu zeigen und
zu erläutern. Die menschlichen Kontakte und die originalen Kunstwerke
sind digital nicht zu ersetzen. Aber das kommt ja hoffentlich bald
wieder.
Trotz Corona-Krise gibt es in diesem Jahr
eigentlich ein kleines Porzellanjubiläum zu feiern: 1790 beauftragte
Peter von Biron, der Herzog von Kurland, die Königliche
Porzellan-Manufaktur Berlin mit der Gestaltung eines repräsentativen
Tafelservices. Anlass war sein Umzug in den Osten Berlins, aufs Schloss
Friedrichsfelde, wo er sich mit seiner dritten Ehefrau niederließ. Zur
neuen Frau und dem neuen Wohnsitz gehörte natürlich auch eine neue
Einrichtung – inklusive neuem Porzellan. Weil es das modernste,
prächtigste und innovativste werden sollte, bestellte er es bei der KPM
Berlin. Was ist das besondere an Kurland?
Das „Kurländer Muster“ gehört zu den frühen Servicemodellen der KPM im ausgeprägt
klassizistischen Stil. Charakteristisch sind die plastischen
antikisierenden Tuchgehänge als Randmotiv, in Verbindung mit glatten,
steilwandigen Formen der einzelnen Serviceteile. Das Modell wurde
bereits Mitte der 1770er Jahre entwickelt und ist an damals modernen
englischen Silberformen orientiert. Dass es erst 1790 mit der Bestellung
des Herzogs von Kurland zur vollen Entfaltung kam, hängt indirekt mit
Friedrich dem Großen zusammen. Der preußische König war 1786 verstorben.
Er hatte die private Berliner Porzellanmanufaktur 1763 übernommen und
zur Königlichen gemacht. Zeitlebens war er ein glühender Verehrer des
französisch geprägten Rokokostils gewesen. Erst nach seinem Tod konnte
die geschmackliche Trendwende zum strengeren klassizistischen Stil auch
bei der KPM vollzogen werden. Das „Kurländer Muster“ wurde zu einem der beliebtesten Berliner Service, bis heute.

Kein
Mensch weiß ja heute mehr, was das Herzogtum Kurland und Semgallen war,
allein die Erinnerung an die Tafelfreuden des 18. Jahrhunderts hat sich
erhalten und wird auch in der Porzellansammlung des Kunstgewerbemuseums
bewahrt. Ging es bei dieser Tafelkultur mehr um Tradition oder mehr um
Innovation? Und wie zeigte sich das?
Ganz klar stand die
Innovation im Vordergrund – aber auf der Grundlage tradierter
Repräsentationsformen. Allein das Material Porzellan war im 18.
Jahrhundert etwas Innovatives. Als seltener Import aus Fernost war es in
Europa schon seit Marco Polos Zeiten bekannt. Aber erst 1708 entdeckten
der Alchemist Johann Friedrich Böttger und der Naturwissenschaftler
Ehrenfried Walther von Tschirnhaus in Meißen die genaue Zusammensetzung,
das „arcanum“, des weißen, hart brennenden Porzellans, und zwei Jahre
später wurde die erste europäische Porzellanmanufaktur gegründet.
Auch war es ein Novum, dass fürstliche Festtafeln mit Porzellan – und
nicht mit vergoldetem Silber – eingedeckt wurden. Das Porzellan eignete
sich eigentlich viel besser als wärmeleitendes Metall dazu, heiße
Speisen und Getränke zu servieren. Silbergeschirr war jedoch seit jeher
Statussymbol der Fürsten und blieb es auch noch das ganze 18.
Jahrhundert hindurch. Dennoch wurde das „weiße Gold“ zur ernsthaften
Konkurrenz und kam immer öfter, auch bei offiziellen Anlässen, auf die
Tafel.
Traditionell ist hingegen die Serviceform. Im „Kurland“- und
anderen Porzellan-Servicen der Zeit spiegelt sich das „service à la
française“ wider, wie es am Hof in Versailles ausgeprägt worden war. Bei
jedem Gang kamen einheitlich gestaltete Serviceteile auf die Tafel,
jeweils in streng symmetrischer Anordnung. Diese Art der Serviceform
ging vom silbernen Tafelgeschirr auf die Porzellane über.
Im
Kunstgewerbemuseum kann man sich an unseren beiden Standorten, am
Kulturforum und in Schloss Köpenick, ein Bild von der Tafelkultur des
18. Jahrhunderts machen: Hier wie dort haben wir Tafeln mit dem
„Breslauer Tafelservice“ der KPM eingedeckt, ein wunderschönes Service
des Rokoko, das Friedrich der Große für das Breslauer Stadtschloss
bestellt hat.
In der Neupräsentation der Porzellan- und
Fayencesammlung zeigen Sie, wie das 18. Jahrhundert zum Jahrhundert des
Porzellans wurde. Unter Fürsten, Aristokraten und vermögendem Bürgertum
war man regelrecht süchtig nach dem „weißen Gold“, man sprach von der
„maladie de porcelaine“. Wer sich das exklusive Porzellan nicht leisten
konnte, griff zur Fayence, um seine Tafeln, Konsolen, Kaminsimse und
Kommoden zu schmücken. Warum war das so?
Man muss sich das
vergegenwärtigen: Seit dem Mittelalter hatte man sowohl in Europa als
auch im Orient, wohin die chinesischen Porzellane über die Seidenstraße
gelangt waren, danach gestrebt, hinter das Geheimnis des Porzellans zu
kommen, hatte jahrhundertelang experimentiert und imitiert. Als August
der Starke dann endlich für sich reklamieren konnte, die erste westliche
Porzellanmanufaktur gegründet zu haben, da war das nicht nur fürstliche
Liebhaberei, sondern vor allem auch eine Machtdemonstration. Alle
Fürsten wollten es ihm gleich tun, Firmenspionage und Abwerbung von
Fachkräften war an der Tagesordnung. Friedrich der Große beschlagnahmte
die Meißener Manufaktur während des Siebenjährigen Krieges sogar, bevor
er ab 1763 mit der KPM seine eigene Manufaktur in Berlin hatte. Der
erste Modellmeister der KPM, Friedrich Elias Meyer, kam übrigens von der
Meißener Manufaktur nach Berlin. Dass die „maladie de porcelaine“ sich
auch in der Hocharistokratie verbreitete, erstaunt nicht, es war
allerdings eine Frage des Geldes.
In der Neupräsentation der
Porzellane und Fayencen im Kunstgewerbemuseum wird diese neben vielen
anderen Geschichten zum Porzellan erzählt und mittels der reichen
Bestände veranschaulicht. Man sieht ostasiatisches Porzellan neben
Imitationen aus Delfter Fayence, prachtvolles frühes Meißener Porzellan
und auch viele KPM-Porzellane von höchster Qualität. Man erfährt etwas
zur Tafelkultur, zu den damals neuen Luxusgetränken Tee, Kaffee,
Schokolade, zum Mode- und Musikgeschmack und damit zu den Lebenswelten
der Aristokratie und des gehobenen Bürgertums im 18. Jahrhundert.

Und
wie wird das 21. Jahrhundert in die Porzellangeschichte eingehen? Sind
wir noch zu einer Tafelkultur fähig oder haben wir längst ganz andere
Sorgen?
Gerade jetzt, wo wir gezwungenermaßen auf unser
häusliches Umfeld zurückgeworfen sind, können wir uns manches bewusster
machen. Zum Beispiel, wieviel uns der Genuss von Kultur – dazu gehört
auch die Tafelkultur – bedeutet. Gute Dinge zu kochen, den Tisch mit
schönem Porzellan einzudecken und Gäste zu empfangen, all‘ das wünschen
wir uns gerade jetzt vielleicht mehr denn je. Von den großen, im 18.
Jahrhundert gegründeten Porzellanmanufakturen existieren heute in
Deutschland nicht mehr viele: Meißen, die KPM Berlin, Nymphenburg und
Fürstenberg. Sie gehören auf jeden Fall zum kulturellen Erbe, das es zu
schützen gilt. Die Manufakturen arbeiten hart daran, ihre glanzvolle
Tradition in die Gegenwart fortzuführen und mit den heutigen
Lebensformen zu verbinden – so wie das der KPM im ausgehenden 18.
Jahrhundert mit dem „Kurländer Muster“ ja auch gelungen ist. Und wir als
Konsumenten können sie dabei unterstützen.
Porzellanmanufakturen
sind ja heute nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern haben über die
Jahrhunderte eine unglaubliche Kulturleistung erbracht. Was erfahren die
Besucherinnen und Besucher darüber in unseren Sammlungen?
Die Porzellanmalerei wurde zu Recht in das bundesweite Verzeichnis
Immaterielles Kulturerbe aufgenommen. In den Traditionsmanufakturen wird
dieses Handwerk seit Jahrhunderten gepflegt und weitergegeben. Gleiches
gilt für das Modellieren, Bossieren, Glasieren und Brennen, alles
Arbeitsschritte, die zur Porzellankunst dazugehören. Das ist aufwendig,
daher hat gutes Porzellan heute noch seinen Preis, ist aber für viel
breitere Kreise erschwinglich als im 18. Jahrhundert.
Die Sammlungen
des Kunstgewerbemuseums zeigen handwerkliche Qualität auf höchstem
künstlerischen Niveau, durch die Jahrhunderte hinweg. Dies zu bewahren,
zu vermitteln und lebendig zu halten, ist die Aufgabe von uns
Museumsleuten.

Eigentlich wollten Sie
gemeinsam mit dem Musikinstrumenten-Museum im Mai die schöne Reihe
„Porzellan und Musik“ starten. Was wird jetzt daraus?
Die
Reihe wird stattfinden, allerdings muss der Start vermutlich in den
Herbst verlegt werden. Vielleicht noch kurz dazu, worum es eigentlich
geht:
Im Kunstgewerbemuseum und im Musikinstrumenten-Museum, beide
benachbart am Kulturforum gelegen, haben wir seltene und empfindliche
Sammlungsstücke, die nur in Vitrinen gezeigt werden können. In der Reihe „Porzellan und Musik“ wollen
wir sie „erlebbar“ machen, ohne sie aus den Vitrinen zu holen. So lässt
sich anhand von Porzellanfiguren, die Musik zum Thema haben, der
Musikgeschmack jener Zeit ablesen. Die originalen Instrumente dazu sind
im Musikinstrumenten-Museum zu finden. In Gesprächskonzerten vor
Originalen, einem Familiennachmittag und Tandemführungen, die jeweils in
beiden Häusern stattfinden, werden Porzellane zum Klingen und
Musikinstrumente zum Erzählen gebracht. Das Ganze wird finanziert durch
das Kuratorium Preußischer Kulturbesitz.
Kommentare
Vielen Dank für den spannenden und sehr lesenswerten Beitrag. Dem Appell, die noch bestehenden Manufakturen in jedem Fall zu erhalten, möchte ich mich uneingeschränkt anschließen.
Ich kann es gar nicht erwarten, endlich wieder in Ihr wundervolles Haus zu kommen und bin sehr auf die neu geordnete Sammlung gespannt.