Ethnologisches Museum:

Von Böhmen an den Amazonas: Was Glasperlen uns über Weltbeziehungen verraten

© Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum

Im Ethnologischen Museum zeugen Gegenstände aus Glasperlen von weltweiten Handelsbeziehungen. Vier Perlenschurze aus Amazonien sind derzeit im Bode-Museum ausgestellt – Ethnologin Andrea Scholz erklärt, welche Rolle sie für indigene Völker spielen.

Text: Andrea Scholz

Als der deutsche Sammler Theodor Koch-Grünberg 1911 seine Südamerika-Reise vom Tafelberg Roraima zum Fluss Orinoko antrat, hatte er als Tauschgegenstände neben Äxten, Streichhölzern und Macheten auch kiloweise Glasperlen im Gepäck. An vielen Orten unterwegs stieß die glitzernde Ware auf großes Interesse – Mayudu! Mayudu! – die Frauen von der indigenen Gruppe der Ye’kwana wussten genau, welche Tauschobjekte sie für sich selbst bevorzugten, wie der Sammler in seinen Reiseerzählungen berichtete.

Glasperlen sind nicht einfach nur glitzernde Massenware, mit denen Indigene vermeintlich von westlichen Reisenden und Händler*innen übervorteilt wurden, sondern Indikatoren für Beziehungen und größere Verflechtungen. Erfunden wurden Glasperlen vermutlich ca. 4000 Jahre vor unserer Zeitrechnung im alten Ägypten und zeitgleich in Mesopotamien. Bereits die Römer nutzten Glasperlen in großen Mengen für den Handel und den Tausch mit anderen Völkern. Von ca. 1200 bis 1700 hatte Venedig ein Monopol auf die Herstellung von Glasperlen. In diese Zeit fiel die erste Kolonisierung Amerikas, so dass Christoph Columbus mit großer Wahrscheinlichkeit venezianische Glasperlen in den Taschen trug, als er das erste Mal amerikanischen Boden betrat.

Das Geheimnis der Massenherstellung der nur etwa ein bis zwei Millimeter großen Rocailles, Basis u.a. für die Perlenwebereien der Ye’kwana, verbreitete sich vermutlich von Venedig aus nach Holland und Böhmen (heute Tschechien). Zentrum der böhmischen Perlenherstellung war die Stadt Jablonec nad Nisou (ehemals Gablonz an der Neiße), wo sich ab dem 18. Jahrhundert die stark auf den Export ausgerichtete „Gablonzer Industrie“ entwickelte, ein Zusammenschluss von mittleren und kleinen Produzenten von Glasperlen, Glasschmuck und Lüsterketten. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Theodor Koch-Grünberg böhmische Perlen als Tauschwaren erwarb, als er 1911 nach Brasilien und Venezuela aufbrach. Die von Deutschen geprägte Gablonzer Industrie verlegte ihre Produktionsorte nach dem zweiten Weltkrieg in die Gegend um das bayrische Kaufbeuren; die Tradition der Glasperlenherstellung ist aber auch im eigentlichen Jablonec seit 1945 bis heute ungebrochen.

© Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum

Glasperlen sind der Schlüssel zur Schönheit

Die Ye’kwana bevorzugen noch heute Perlen der ehemals staatlichen Marke Jablonex vor der nunmehr meist chinesischen Konkurrenz. Daran erkennt man nicht nur den Sachverstand der Ye’kwana und der tschechischen Hersteller*innen, sondern auch, dass die tschechische Glasperlenproduktion auch jetzt noch stark auf den Export in Überseemärkte ausgerichtet ist. Vermutlich sind die Ye’kwana mit den Glasperlen aus unserem Nachbarland besser vertraut, als viele deutsche Liebhaber*innen der Perlenfädelei.

Damals wie heute spielen vor allem die Rocailles im Kunsthandwerk der Ye’kwana eine wichtige Rolle. Beim Ritual der ersten ‚Schmückung‘ erhalten vier Monate alte Kinder ihre ersten Perlenkettchen, nach der ersten Menstruation bekommen junge Frauen aufwendig gewebte Perlenschurze, die sie fortan unter ihrer Kleidung und offen nur bei Festen tragen. Bunt gemusterte Schmuckstücke aus Perlen wie Hals-, Körper- und Fußbänder werden von Männern und Frauen gleichermaßen getragen.

Laut den Ye’kwana ist ihr eigener Schöpfer Wanaadi, oder Majaanuma, der Urheber der Glasperlen. Der Held im Mythos Kwamaashi, Enkelsohn von Wanaadi, wurde von seinem Großvater mit Glasperlen ausgestattet, um den Jaguar zu töten, der seine Mutter ermordet hatte. Auf den gleichen Schöpfungsakt führen die Ye’kwana auch verschiedene Farben zur Körperbemalung und das hölzerne Schwert zurück, mit dem Kwamaashi, bemalt und geschmückt mit Glasperlen, den Jaguar schließlich zur Strecke brachte. Die Glasperlen sind der Schlüssel zur Schönheit, die als mächtige Waffe gegen den Feind wirkte und den Ye’kwana bis heute Stärke verleiht.

© Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum

Kein Plunder sondern begehrtes Material

Zwar halten sich die Ye’kwana für die eigentlichen Besitzer*innen der Perlen, sind aber für den Erwerb auf den Tausch mit den ‚Weißen‘ angewiesen, die das Monopol über die Herstellung besitzen. Für die indigenen Tauschpartner*innen von Theodor Koch-Grünberg waren die Glasperlen daher eben kein billiger Plunder, sondern begehrte Primärmaterialien für Körperschmuck, ähnlich wie Federn, Tierzähne, Krallen, Fasern oder Samen. Alle diese Materialien tragen die Handlungsmacht ihrer spirituellen Besitzer und Überbringer in sich. Für viele indigene Gruppen im Amazonasgebiet entstehen und bestehen menschliche Körper in der Kombination solcher Elemente, die von außen kommen und weiterhin eine Beziehung mit ihren Besitzern aufrechthalten. Die Farben der Glasperlen tragen ebenso wie beispielsweise die Farben von Federn eine eigene lebendige Bedeutung.

Es wäre daher auch falsch anzunehmen, Glasperlen hätten zuvor verwendete Naturmaterialien „verdrängt“. Vielmehr erzählen Glasperlen von Beziehungen zum „Anderen“, der Innovation hervorbringt und das „Eigene“ bereichert, indem er das Netzwerk erweitert. Gegenstände aus Glasperlen zeugen von der die Dynamik ästhetischer Praktiken im Amazonasgebiet.

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