Wir sind doch selber Venedig: Das Humboldt Forum zeigt, wie sich Ost-Berlin eine Biennale mit rein sozialistischer Kunst schuf und die Bruderländer dazu einlud
Text: Kevin Hanschke
Ost-Berlin, vier Jahre nach dem Mauerbau. Die DDR lebt den Traum einer gerechteren Gesellschaft – und will ihn auch zeigen. In der Eingangshalle des Alten Museums, die von mächtigen Säulen bestimmt wird, stehen Wände mit Plakaten, die von allen Kontinenten aus, eine lange Reise in den Arbeiter-und-Bauern-Staat unternahmen. Die sozialistischen Brüderländer zeigen aus Anlass des 20. Jahrestag des Kriegsendes das Beste, was ihre zeitgenössische Kunst so zu bieten hat. „Intergrafik“ nennt sich die erste internationale Kunstausstellung, die in Ost-Berlin stattfindet. 420 Werke aus 21 Ländern werden präsentiert. Neben grafischen Arbeiten, die sich „sozialistischen“ Themen widmen, werden Plakate und politische Grafik wie Flugblätter, Fotomontagen, Karikaturen und Wandzeitungen gezeigt. Die Schau ist vor allem als modernes Agitprop-Spektakel geplant, das den Weltgeist der künstlerischen Revolution in das eingemauerte Land tragen soll. Aber nicht alles ist ideologisch verfärbt.
Anerkennung, Internationalismus, Austausch
Der offiziellen Kulturpolitik der DDR geht es um Anerkennung, Internationalismus, Austausch und Zusammenarbeit mit den sozialistischen Staaten der Welt. Besonders das dazugehörige Symposium sorgte für einen globalen Kunstaustausch, der, was die Erforschung betrifft, lange ein Schattendasein in rein westdeutschen Geschichtserzählung fristete.
Das übernimmt nun das Humboldt Forum mit seiner Ausstellung „Über Grenzen – künstlerischer Internationalismus“. Spannend an diesem Projekt ist der Blick auf den sozialistischen Kulturaustausch und die auswärtige Kulturpolitik, aber auch die Migrationsgeschichten der DDR, die die Ausstellung, in den Kontext der Gegenwart setzt. Kerstin Pinther, Kuratorin des Museums für Asiatische Kunst und des Ethnologischen Museums, hat die Ausstellung konzipiert und sich in einer mehrjährigen Recherche dem Thema gewidmet. Die Schau verbindet historische Archivmaterialien mit Gegenwartspositionen.
Die DDR, sagt Pinther, sei kein abgeschlossener oder homogener künstlerischer Raum gewesen, sondern habe sich ab den Sechzigerjahren durch vielfältige künstlerische Außenbeziehungen mit den Bruderländern, intensiven internationalen Austausch und angesehene Künstlerresidenzen ausgezeichnet. Zudem war die DDR auch eines der größten Einwanderungsländer unter den Warschauer-Pakt-Staaten. Die Migration war durch Abkommen mit Ländern wie Kuba, Mosambik und Vietnam geregelt. Neben der Vertragsarbeit bot Ostdeutschland politisch Verfolgten aus Griechenland, Spanien, Chile oder Südafrika Exil. „Das inhaltliche Spektrum in unserer Ausstellung reicht von der offiziellen Außenkultur- und Migrationspolitik der DDR gegenüber den befreundeten Ländern, über die Intergrafik, bis hin zu (post)migrantischen Erinnerungskulturen“, sagt Pinther.
Revolutionäre Grenzgänger
Sowieso ist die „Intergrafik“ der Kumulationspunkt der Schau – denn früher als in West-Berlin begann mit dieser Weltkunstpräsentation im Ostteil der Stadt eine neue Kultur internationaler Biennalen im geteilten Deutschland. Humanistische Kunst aus den sozialistischen Bruderländern hat die Auswahl, die durch die Künstlerverbände der DDR getroffen wurde, dominiert. Der Schwerpunkt lag auf Ländern in Afrika, Südamerika und Asien – beispielsweise Ghana oder Algerien, Vietnam, Kuba und Chile. Es ging der DDR-Führung darum, durch auswärtige Kunstpolitik politischen und wirtschaftlichen Einfluss in diesen Ländern zu generieren und diesen gegenüber den Vereinigten Staaten und dem Westen zu verteidigen.
Alle in der Schau gezeigten Künstler:innen eint, dass sie für ihre Zeit revolutionäre Grenzgänger waren, wie der aus Japan stammende Fotograf Seiichi Furuya, der das Ost-Berlin der späten Achtzigerjahre porträtierte. Seine Bilder, insbesondere die 600 Fotografien umfassende Serie „Berlin-Ost 1985-87“, sind intime Momentaufnahmen von den Straßen der Hauptstadt der DDR – die Leuchtreklamen auf der Karl-Marx-Allee, ein gelber Kiosk mit Zeitschriften, eine S-Bahnfahrt nach West-Berlin über den Mauerstreifen zum Lehrter Stadtbahnhof oder die Festlichkeiten zum Stadtjubiläum. Zwischen 1984 und 1987 lebte er mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn als Dolmetscher einer japanischen Baufirma zunächst in Dresden und dann in Ost-Berlin.
Schwingungen der Revolutionsmusik
Es sind solche Transitgeschichten, die Pinther und ihr Team inspiriert haben, weiterzuforschen. Beispielsweise auch im Feld der Musik. Inmitten des Ausstellungsraumes finden sich Schallplatten aus den Siebzigerjahren: „Rote Lieder, Schallplatte vom 8. Festival des politischen Liedes 1978“, „Intersongs: Festival des Politischen Liedes“ von 1973 oder die aufwendig gestaltete „Zeitschrift zum Festival des politischen Liedes“, für deren Gestaltung Peter Porsch und sein Jamepo-Kollektiv verantwortlich war. Das Kollektiv übertrug die Schwingungen der Revolutionsmusik in ihre Typografien. Das Festival des politischen Liedes selbst wurde 1970 bis 1990 von der Band „Oktoberklub“ organisiert und brachte tausende Musikerinnen und Musiker aus allen Ländern der Welt nach Ost-Berlin. Auf den Straßen erklangen französische und italienische Kampfeslieder, irische Folk Songs und lateinamerikanische Klassiker der sozialistischen Bewegungen – „El pueblo unido“ und „Venceremos“.
Ganz im Gegensatz zu diesen heroischen Sounds stehen Mio Okidos Arbeiten aus der Reihe „Die Märtyrer“ von 2022. Die Siebdruckarbeiten zeigen matte und verblasste Porträts von Politiker:innen, die für ihr sozialistisches Engagement ermordet wurden und in der DDR als Held:innen des kommunistischen Widerstandes verehrt wurden. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg beispielsweise. Sie eint, dass sie mit der Wende in Vergessenheit gerieten. Mit ihrer Videoinstallation „ostdeutsch/migrantisch“ von 2024 will Okido zudem Menschen eine Stimme geben, die vor 1990 nach Ostdeutschland migriert sind. Minh Duc Phams Textilwerk „Präsente – Für die Ewigkeit“ widmet sich hingegen der besonderen Rolle von vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen in der DDR und nach der Wiedervereinigung.
Die Kunst der DDR differenzierter betrachten
Der Titel ist inspiriert vom Kunstfaserstoff „Präsent 20“ , der anlässlich des 20. Jahrestages der DDR entwickelt wurde. Die lachsfarbene, gewällte Skulptur setzt sich aus acht genähten Orchideenblüten zusammen und reflektiert die kunsthandwerklichen Fähigkeiten dieser Diaspora. Das Interesse an der Materialität von Erinnerungen teilt auch Su-Ran Sichling, die die Designgeschichte der DDR mit ihren besonderen Formen, Farben und Gestaltungselementen in den brüchigen Kontext der Nachwendezeit setzt. Ihre „Gelehrtensteine“, eine Skulpturenserie, sind aus dem typischen Waschbeton, der den Wohnungsbau der DDR prägte und das Antlitz der ostdeutschen Städte bis heute bestimmt – sie sollen das Innen und Außen aufbrechen. Für Pinther und die beteiligten Künstlerinnen und Künstler sei es an der Zeit, die Kunst der DDR und die kulturpolitische Entwicklung differenzierter zu betrachten, das sei ein zentrales Ergebnis der Recherchen zur Ausstellung. „Unser Ziel ist es Sichtbarkeit zu schaffen, nicht nur für die Internationalität der DDR-Kunst, sondern auch für die Kunstproduktion von Gruppen, die abseits der Mehrheitsgesellschaft tätig waren und ein avantgardistisches Oeuvre geschaffen haben“, sagt Pinther.
Dazu passend wurde auch Maithu Bùis Videoarbeit „Rausblick“ ausgewählt, die ein Plädoyer für die Freiheit und die Flucht aus dem Post-Biedermeier sowohl der DDR als auch der Gegenwart ist. Ausgangspunkte bilden das Humboldt Forum und der abgerissene Palast der Republik, dessen Stahlskelett für den Burj Khalifa in Dubai recycelt wurde. Auch das ist eine gänzlich unerwartete Verbindung, die die ehemalige DDR heute mit der weiten Welt hat. Es gibt wohl keinen besseren Ort als dieses Haus der Weltkulturen, um die Geschichten des „Weltstaats“ DDR zu zeigen und das zudem kurz vor dem 60. Jubiläum der ersten „Intergrafik“, die gegenüber im Alten Museum stattfand.
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