Wer waren wir und wenn ja, wie viele? Bewegte Zeiten in der Archäologie
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Mehr als 2000 archäologische Objekte, darunter Sensationsfunde wie die berühmte Himmelsscheibe von Nebra, sind in der Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ zu sehen. Statt einer reinen Leistungsschau wollen die Ausstellungsmacher zeigen, dass Archäologie auch politische Dimensionen haben kann.
Text: Karolin Korthase
„Goodbye, Europe!“, „Ist das noch mein Land?“, „Entfremdung“ – mit solchen Überschriften versuchte eine bekannte deutsche Wochenzeitung in den vergangenen Monaten die Stimmung in Deutschland und Europa einzufangen. In vielen Ländern freuen sich Rechtspopulisten über wachsende Zustimmung oder regieren bereits. Sie bedienen nationalistische Ressentiments und punkten bei den Wählern mit Kritik an der Europäischen Union und mit Hartherzigkeit gegenüber Migranten und Geflüchteten. Was das alles mit Archäologie zu tun hat?
Ziemlich viel, meint Matthias Wemhoff. Der Mittelalterarchäologe ist Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte und hat die Ausstellung „Bewegte Zeiten“ federführend mitkonzipiert. Anhand der vier großen Themenmodule Mobilität, Austausch, Konflikte und Innovation zeigen er und seine Kollegen, dass der Mensch und die Gesellschaften, in denen er lebte, schon immer in Bewegung waren. Die Idee einer konstanten Dorfgemeinschaft oder einer geschlossenen Gruppe ist für Wemhoff aus archäologischer Perspektive nicht haltbar: „Wenn ich mir archäologisches Material anschaue, kann ich über einen sehr langen Zeitraum hinweg beim besten Willen nichts Nationales finden.“
Zwei große bundesweite Archäologieausstellungen habe es in den letzten Jahrzehnten gegeben, erzählt der Experte. 1975, im Jahr des Denkmalschutzes, wollte man vor allem zeigen, was im Boden steckt und wie wichtig historische Überlieferungen sind. 2002/2003, in der ersten gesamtdeutschen Ausstellung, war die Euphorie über die Wiedervereinigung noch spürbar. Damals ging es darum, im Sinne einer Leistungsschau möglichst viel zu präsentieren.
„Sicherheiten werden plötzlich in Frage gestellt“ Und 2018? „Jetzt sind wir in einer anderen Zeit, in der wir feststellen, dass vieles nicht so stabil ist, wie wir dachten. Sicherheiten werden plötzlich in Frage gestellt und ein längst überwunden geglaubter Nationalismus kehrt zurück.“ Die Archäologie bekommt Wemhoff zufolge dadurch eine andere Relevanz, sie kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nach Ansicht des Archäologen ist es nun Aufgabe der Wissenschaft aufzuzeigen, dass menschliche Gesellschaften zu allen Zeiten mit ähnlichen Problemen und Herausforderungen gekämpft haben. „Daraus lässt sich vielleicht etwas Kraft und Gelassenheit schöpfen, um mit unserer eigenen Zeit umzugehen“, hofft er.
Dieses Ziel verfolgten die Ausstellungsmacher mit großem Aufwand. Mehr als 2000 Objekte von mehr als 70 Leihgebern sind in der Schau im Gropius Bau zu sehen. Die Bereitschaft, eine so große Ausstellung zu unterstützen und dafür auch wertvolle Exponate aus den eigenen Sammlungen zu verleihen, sei bei den Landesarchäologen und Museumsmachern sofort da gewesen, erinnert sich Matthias Wemhoff. Schließlich gehe es auch darum, „die Besucher von der Sinnhaftigkeit und dem Wert unserer Arbeit zu überzeugen – gerade weil sie aufwändig ist, viel kostet und Bauverzögerungen mit sich bringt“.
Im Themenmodul „Innovation“ erwarten die Besucher unter anderem die bronzezeitliche Himmelsscheibe von Nebra, die für sechs Wochen aus Halle verliehen wird, sowie 3000 Jahre alte, mit mysteriösen Kalendersymbolen verzierte Goldhüte. Im Ausstellungsbereich „Austausch“ liegt der Fokus hingegen auf Handelsbeziehungen und Waren. Dass es schon vor 4000 Jahren überregionalen Handel gegeben hat, zeigen der Goldhort von Gessel mit seinen 82 Goldspiralen und der Kupferschatz von Oberding, der aus 796 gebündelten Barren zu je einem Kilo besteht.
Der Mensch ist nicht erst seit Erfindung von Eisenbahn oder Schifffahrt mobil Zwei absolute Sensationsfunde der vergangenen Jahre gehören zu den Highlights im Modul „Konflikte“: 1996 entdeckte ein ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger im Tollensetal bei Neubrandenburg einen mehr als 3000 Jahre alten Oberarmknochen, der von einer Pfeilspitze durchbohrt war. Archäologen förderten daraufhin hunderte zertrümmerte Schädel, Schwerter, Pfeile und Holzkeulen zu Tage. Das Gebiet gilt seitdem als ältestes archäologisch fassbares Schlachtfeld.
Aus einer anderen Zeit, aber nicht minder konfliktbeladen, ist der so genannte Berliner Skulpturenfund. 2010 wurden bei Grabungen vor dem Roten Rathaus 16 brandgeschädigte Skulpturen der klassischen Moderne wiederentdeckt, die in den 1930er Jahren von den Nationalsozialisten in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt worden waren. Den Brand in einem Depot hatten nur die Werke aus Stein, Keramik oder Bronze überstanden. Diese und weitere Funde in der Ausstellung zeigen, dass Bilderstürme nicht nur im fernen Irak, in Syrien oder Afghanistan stattfinden, sondern auch untrennbar mit der europäischen Geschichte verbunden sind.
Das Modul „Mobilität“ komplettiert das breite Themenspektrum, das die Ausstellung abdeckt. Der Mensch ist nicht erst seit der Erfindung von Eisenbahn, Postkutsche oder Schifffahrt mobil, sondern konnte schon immer rund 30 Kilometer am Tag zurücklegen. 16 Geschichten zeichnen die zum Teil unglaublichen Wanderungsbewegungen einzelner Menschen nach. Woher der Europäer überhaupt kommt bzw. wie er sich genetisch zusammensetzt, wird auf Basis der Genom-Forschung diskutiert. Neue Analysemethoden zeigen, dass drei Gruppen ihren genetischen Fingerabdruck im europäischen Genpool hinterlassen haben: vor etwa 40.000 Jahren die ersten Homo Sapiens als Jäger und Sammler, um 6000 v. Chr. die ersten Ackerbauern und Viehzüchter und um 3000 v. Chr. Einwanderer, die auf Pferden weit aus dem Osten kamen.
Eine Matroschka-Puppe mit vielen Schalen Ganz im Sinne von Richard David Prechts Buchtitel „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ habe jeder Mensch viele Identitäten, sagt Matthias Wemhoff, „wie bei einer russischen Matroschka-Puppe mit ihren Schalen“. Eine Identität nur auf eine Nationalität zu stützen, greife zu kurz, ist sich der Archäologe sicher. Besonders Deutschland sei vor allem regional geprägt und bestehe wesentlich aus regionalen Identitäten. Hier könne ein Blick auf die Fakten der Archäologie hilfreich sein. Lohnenswert ist dieser Blick auch in Hinsicht auf die separatistischen Tendenzen, die es derzeit in Europa gibt. Denn nicht nur der Mensch war schon immer in Bewegung, sondern auch seine Ideen und die Dinge, die er erschuf.
Direkt nach der Gründung von Köln im 1. Jahrhundert n. Chr. entstand eine römische Hafenmauer, deren imposante Eichenbohlen im Zuge eines UBahn-Baus vor einigen Jahren freigelegt wurden. Im Lichthof des Gropius Baus sind nun 20 dieser Bohlen vor dem Hintergrund der illusionistisch errichteten Hafenmauer ausgestellt. Vor ihnen, sozusagen im Hafenbecken, ist „römischer Abfall“ aus Tonscherben und mehr in Vitrinen zu sehen. Er zeigt, dass Handelsware aus vielen unterschiedlichen Teilen Europas nach Köln gelangt sein muss und dass es schon damals einen regen Austausch gegeben hat.
So bestätigt die Archäologie, dass schon vor mehreren tausend Jahren die Grundlagen eines gemeinsamen Europas gelegt wurden, aus denen in den folgenden Jahrhunderten ein einzigartiges kulturelles Netzwerk entstand, das uns bis heute prägt.
Die Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ (21.9.2018 bis 6.1.2019) ist eine Kooperation des Museums für Vor- und Frühgeschichte und Teil des Europäischen Kulturerbejahres 2018. Sie steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und wird gefördert durch die Staatsministerin für Kultur und Medien und das Kuratorium Preußischer Kulturbesitz.
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