„Wir teilen dieselbe Welt und müssen lernen, menschlich zu sein“
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Die Kunsthistorikerin Liudmyla Kozeko arbeitet als Stipediatin in der Alten Nationalgalerie. Zusammen mit ihrer Tochter musste sie die Ukraine verlassen und versucht nun, mit kulturellen Angeboten ukrainischen Kindern in Berlin zu helfen
Interview: Elena Then
Wie hat sich der Krieg auf Ihre Arbeit und Ihr Leben in der Ukraine ausgewirkt? Woran haben Sie vor dem Krieg gearbeitet?
Ich bin Kunsthistorikerin und habe verschiedene Berufserfahrungen, unter anderem in einer Museumseinrichtung. Zuletzt habe ich ein Jahr im Nationalen Forschungs- und Restaurierungszentrum der Ukraine gearbeitet – dann kam der Krieg. Am 24. Februar 2022 änderte sich das Leben für alle Ukrainer*innen. Es war unklar und beängstigend zugleich, warum dies alles geschah. Natürlich stellte sich die Frage der eigenen Sicherheit, alle Gedanken drehten sich um mein Kind. Als russische Schützenpanzer in meiner Straße aufkreuzten und anfingen, zu schießen, mussten wir evakuiert werden. So sind wir in Deutschland gelandet. Erst dachten wir, wir würden ein paar Wochen bleiben und dann nach Hause zurückkehren. Was in der Ukraine geschieht ist Wahnsinn. Es kann nicht so weitergehen, die Menschen müssen das erkennen und das sinnlose Blutvergießen beenden. Aber wahrscheinlich wird das noch Zeit brauchen. Ich war also gezwungen zu kündigen, und auch meine Tochter brach ihr Studium in der Ukraine ab.
Liudmyla Kozeko (2. v. re.) mit ukrainischen Geflüchteten in der Alten Nationalgalerie (c) Privat
Der Krieg hat fast alle Menschen auf der Welt betroffen… So viele Länder in Europa haben den Ukrainer*innen ihre Herzen geöffnet. Das ist etwas Unglaubliches!
Ich empfand die Zeit der Evakuierung als eine neue Etappe, als neue Chance für persönliches Wachstum. Eine große Anzahl von Museen, ein vielfältiges kulturelles Leben, europäische Geschichte und Kunstwerke, die ich plötzlich besuchen und erleben konnte. Und dann ich habe ich angefangen, nach Stellen zu suchen.
Wie haben Sie von dem SPK-Stipendienprogramm erfahren, als Sie in Berlin ankamen?
Die große Mehrheit der Geflüchteten sind Mütter mit Kindern unterschiedlichen Alters. Die Menschen waren gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, einige Familien verloren alles, was sie besaßen. Das ist eine große Herausforderung und eine stressige Situation für alle. Wir fanden uns in einer anderen Gesellschaft, einem anderen kulturellen Umfeld wieder. Wie viele Ukrainer:innen in Deutschland wurden wir von fürsorglichen Menschen, Freiwilligen und ganz normalen deutschen Familien empfangen, die uns in dieser schwierigen Zeit ihr Herz öffneten.
Ich wollte mithelfen und unsere Familien in Deutschland unterstützen – das tun, was ich tun kann. Ich dachte, ich könnte als ehrenamtliche Führerin in einem Museum in Berlin arbeiten. Meiner Meinung nach könnte dies ukrainischen Kindern helfen, sich von Stress und möglichem Heimweh zu erholen, psychischen Stress abzubauen und die neue Umgebung über die Kultur des Landes besser kennen zu lernen. Und für mich war es natürlich auch eine Fortsetzung des Studiums der deutschen Kunst, für das ich mich seit meiner Studienzeit interessiere.
Ich habe Heidi Meyer, bei der meine Tochter und ich leben, von meinen Ideen erzählt. Sie arbeitet an der Staatsbibliothek. Ich bin ihr sehr dankbar für den herzlichen Empfang und die Hilfe in jeder Angelegenheit, sie ist immer bereit, sich mit mir zu treffen. Heidi verschickte Briefe und half bei der Suche nach den notwendigen Informationen. Es stellte sich heraus, dass es sehr interessante Museumsprogramme für Ukrainer*innen gibt, die gastfreundlich einladen, Museen und Ausstellungsräume kostenlos zu besuchen. Die Alte Nationalgalerie reagierte auf meinen Vorschlag und bot mir ein Stipendienprogramm an.
Woran genau arbeiten Sie in der Alten Nationalgalerie? Konnten Sie Ihre Forschung ohne Probleme fortsetzen?
Ich bin fasziniert von der reichen Sammlung europäischer, vor allem deutscher Kunst des 19. Jahrhunderts in der Alten Nationalgalerie. Die vielfältige Kultur Deutschlands aus dieser Zeit, mit vielen großen Namen in Literatur, Kunst und Musik, die sogar Schulkindern bekannt sind, ist sehr inspirierend.
Mir wurde bei allem geholfen, was ich brauchte. Ich konnte mit meinen Kolleg*innen, insbesondere mit der Kuratorin Viktoria Graf alle beruflichen Fragen besprechen. Sie gaben mir Ratschläge und machten Vorschläge, wie ich es besser machen könnte, aber sie schränkten mich nicht ein, setzten mir keine Grenzen. Ich hatte eine gewisse Freiheit im kreativen Ausdruck.
Ich nannte mein Programm „Wo die Helden leben…“. Die Werke aus der Sammlung des Museums inspirierten mich dazu, mich historischen literarischen Quellen zuzuwenden, deren Bilder von Künstler*innen in Stein oder Farbe auf Leinwand reproduziert wurden. Von der Antike bis zur Romantik, von griechischen Mythen bis zu altdeutschen Sagen, Legenden und Volksmärchen. Im nationalen Aufstieg Deutschlands im 19. Jahrhundert, im Appell an die Folklore, im Wunsch nach Einheit und Integrität, sah ich viele Gemeinsamkeiten mit der Gegenwart in der Ukraine. Die Rückbesinnung der ukrainischen Gesellschaft auf ihre nationale Kultur, die Achtung ihrer Kultur, ihrer Sprache, ihres Volksliedes und ihrer Malerei lässt eine starke Gesellschaft entstehen, die ihre tiefen Wurzeln erforscht und sich ihres Platzes und ihrer Rolle im Leben der europäischen Länder bewusst ist. Diese Kulturwissenschaften sind zu einer Art Dialog zwischen zwei Kulturen geworden, der deutschen und der ukrainischen, zwei Welten, in denen es leicht ist, viele Gemeinsamkeiten zu erkennen.
Ich möchte das Programm von jedweder Abgehobenheit fernhalten. Es geht um Menschen. Um jeden, der in unserer Zeit lebt oder einmal gelebt haben wird, denn Geschichte wird von Menschen gemacht, von ganz normalen Menschen, die einfach ihre Arbeit machen. Sie folgen ihren Träumen, dem Ruf der Seele. Sie träumen und scheitern und machen sich dann wieder auf den Weg. Es geht um Märchen, die von Generation zu Generation in der Volkslegende weiterleben, die Künstler*innen zu Kunstwerken inspirieren und die Menschen zum emotionalen Erleben und zur Vertiefung innerer Reflexionen anregen.
Haben Sie bei Ihrer Arbeit hier in Berlin neue Erkenntnisse gewonnen?
Ja, das Stipendienprogramm hat mir viele Möglichkeiten eröffnet. In erster Linie geht es um das Kennenlernen der Kolleg*innen, ihrer Skills und der Museumssammlungen. Dies ist eine wichtige Erfahrung, eine Art Erneuerung, eine Veränderung der Sichtweise, eine Erweiterung der praktischen Kenntnisse und der beruflichen Fähigkeiten. Ich war sehr daran interessiert, mehr über die Arbeit von Museen und Restaurierungswerkstätten zu erfahren, über die professionelle Zusammenarbeit zwischen Kolleg*innen verschiedener Museumseinrichtungen. Ich bin sehr beeindruckt von der Offenheit, der Bereitschaft zum Wissens- und Erfahrungsaustausch und dem Interesse der deutschen Kolleg*innen an einer kreativen Zusammenarbeit, an der Schaffung gemeinsamer Programme oder Projekte.
Was werden die nächsten Schritte in Ihrer Arbeit sein? Was sind Ihre Pläne für die nahe Zukunft?
Ich hoffe wirklich, dass ich das mit der Alten Nationalgalerie entwickelte Projekt für ukrainische Familien weiterführen kann. Natürlich möchte ich in Zukunft auch deutsche Kunst studieren. Deshalb konzentriere ich mich auch darauf, Deutsch zu lernen.
Glauben Sie, dass Kultur, Wissenschaft und Kunst Brücken zwischen den Menschen bauen und die Schwierigkeiten der Zukunft überwinden können?
Genau das geschieht jetzt gerade. Kreativität verbindet die Menschen und hebt sie in einem gemeinsamen Akt der Schöpfung oder der emotionalen Wahrnehmung auf eine hohe Ebene der menschlichen Existenz, wo es keine Feindschaft, kein Böses und keine Grausamkeit gibt. Kultur und Kunst können die Herzen öffnen und den Geist rein halten. Es ist ein Weg, uns selbst kennenzulernen und den anderen zu akzeptieren, ein Weg, auf dem wir lernen, die Einzigartigkeit des anderen zu lieben und zu respektieren. Wo wir in den vielen Unterschieden das sehen, was uns eint. Wir teilen dieselbe Welt, und wir müssen lernen, sie zu schützen und in Harmonie zu leben.
Wie können wir der Ukraine helfen, ihr nationales Erbe zu bewahren?
Unter den Bedingungen des Krieges in der Ukraine ist dies natürlich eine sehr dringende Frage. Die ukrainischen Museen und Restaurator*innen haben jetzt einen großen Bedarf. Ich weiß, dass viele deutsche Institutionen und Stiftungen materielle Hilfe mit Materialien oder Ausrüstungen leisten, die jetzt so notwendig sind. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz unterhält ebenfalls ein umfangreiches Hilfsprogramm für die Ukraine. Ich bin der Verwaltung der Stiftung, insbesondere Claudia Fritzsche, sehr dankbar.
In Zukunft wird es möglich sein, gemeinsame staatliche Programme oder Projekte zwischen unseren Ländern zu schaffen. Dadurch könnten alle Probleme, die im Leben der kulturellen und künstlerischen Organisationen während des Krieges auftraten, koordiniert und gelöst werden.
Ich denke, die wichtigste Hilfe ist die Offenheit für den Dialog, der Wunsch, zuzuhören und auf die bestehenden Bedürfnisse einzugehen. Ich würde mir einen gemeinsamen Raum für deutsche und ukrainische Kreativ- und Kunstinstitutionen wünschen, der es ihnen ermöglicht, professionelle Informationsquellen zu nutzen, Erfahrungen auszutauschen, gemeinsame Museums- und Kulturprojekte, wissenschaftliche Diskussionen oder die Erforschung von Kunstdenkmälern zu entwickeln. Ich bin sicher, dass das Kennenlernen von Kolleg*innen aus beiden Ländern der erste Schritt zu mehr ist. Es gibt genug kreatives Potenzial auf beiden Seiten!
Wie ist Ihre Perspektive nach dem Stipendium? Glauben Sie, dass Sie in die Ukraine zurückkehren und Ihre Arbeit ohne Unterbrechung fortsetzen können?
Natürlich möchte ich in meine Heimat, zu meiner Familie und meinen Freund*innen zurückkehren. Ich hoffe, dass es bald so weit ist. Bis dahin werde ich neue Erfahrungen sammeln, neue Kenntnisse und Fähigkeiten in meiner Arbeit erwerben. Dafür bin ich all den Menschen dankbar, die daran beteiligt sind und die eine solche Möglichkeit bieten.
Die Stipendien für ukrainische Forscher*innen werden von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien der Bundesrepublik Deutschland finanziert.
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