Zehnerpack: Spuren ukrainischer Kunst und Kultur im Kupferstichkabinett
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Der russische Angriffskrieg in der Ukraine bedroht nicht nur Menschenleben, sondern auch die Kultur des Landes. Im Kupferstichkabinett befinden sich viele Werke, die auf die lange Geschichte ukrainischer Kunst verweisen.
Text: Lea Hagedorn, Andreas Schalhorn, Dagmar Korbacher
Vor mehr als zwei Monaten, am 24. Februar 2022, begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser Krieg hat inzwischen unzählige Menschen auf grausame Weise ihres Lebens, ihrer Familien oder ihrer Heimat beraubt. Noch stets bringt er unvorstellbares Leid über die Bevölkerung zwischen Charkiw, Kiew, Lwiw, Odessa und Mariupol. Doch nicht nur die Menschen, auch die Kunst und Kultur der Ukraine sind in Gefahr. Während Museen durch Bomben zerstört werden, wird die Existenz einer ukrainischen Kunst, Kultur und Tradition vom russischen Angreifer geleugnet. Für ein europäisches Kunstmuseum wie das Kupferstichkabinett ist der Krieg daher auch ein Weckruf und eine Aufforderung zu einer differenzierteren Darstellung kunst- und kulturhistorischer Zusammenhänge. So hat sich in der Kunstgeschichte seit Jahrzehnten der aus westlicher Sicht ebenso praktische wie pauschalisierende Sammelbegriff „russisch“ eingebürgert, beispielsweise im Hinblick auf die so genannte „russische“ Avantgarde im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dies wird den komplexen multinationalen und multiethnischen Kontexten, aus denen die Künstler*innen stammen und in denen die Kunstwerke entstanden, nicht gerecht. Die Region im Osten Europas zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer im Allgemeinen, aber vor allem das heutige Staatsgebiet der Ukraine im Besonderen, wurden durch wechselnde Herrschaftsverhältnisse und Zugehörigkeiten geprägt. Teile der Region gehörten im Laufe der Jahrhunderte zur königlichen Republik Polen-Litauen, zum Russischen Kaiserreich, zum Habsburgerreich, zum Reich der Osmanen und zur Sowjetunion. So entstand eine ganz eigene, vom Austausch verschiedener Nationen, Sprachen und Religionen geprägte Kultur, die Künstler bis heute inspiriert. Wir haben uns auf die Suche nach Spuren dieser ukrainischen Kunst- und Kulturlandschaften in den Beständen des Kupferstichkabinetts begeben. Damit wollen wir einen Beitrag dazu zu leisten, das reiche kulturelle Erbe der Ukraine als Teil der vielfältigen Kunstgeschichten Europas vor Zerstörung und Verleugnung zu schützen.
1. & 2. Jean Balthasar De La Traverse (1770 – nach 1808)
Der gebürtige Franzose Jean Balthasar De la Traverse bereiste das russische Zarenreich und angrenzende Gebiete. In einem Skizzenbuch hielt er Ansichten von Landschaften direkt vor Ort fest. Bei diesem auf beiden Seiten bezeichneten Blatt handelt es sich um eine einzelne Seite aus einem solchen Skizzenbuch, die zu einem unbekannten Zeitpunkt daraus gelöst worden ist. Sie zeigt auf der Vorderseite eine malerische Ansicht von Ruinen auf der Halbinsel Krim, die an die griechische Besiedlung des Gebiets in der Antike erinnern. Vermutlich gehörten sie zu der im zweiten Jahrhundert v. Chr. gegründeten skythischen Stadt Neapolis.
Auf der Rückseite ist ebenfalls eine Stadtansicht in einer Landschaft skizziert. Bemerkenswerterweise hat der Zeichner mit kyrillischen Buchstaben den krimtatarischen Namen der Siedlung, nämlich Akmes[ci]dt, festgehalten. Im späten 18. Jahrhundert, kurz bevor die Zeichnung entstand, war das Gebiet unter russische Herrschaft gekommen. Durch ein Dekret Katharinas der Großen waren damals die Krimtataren teilweise vertrieben und die Stadt Simferopol gegründet worden, deren Name mit Bleistift auf dem Blatt offenbar später hinzugefügt wurde.
3. Kasimir Malewitsch
Kasimir Malewisch gehört zu jenen Künstlern, die landläufig als Hauptvertreter der „russischen“ Avantgarde-Kunst der 1910er und 1920er Jahre verstanden werden. Gleichwohl wurde der Begründer des Suprematismus, für das sein heute bedeutendes gleichnamiges Buch von 1920 – im belarussischen Witebsk erschienen – ein wichtiges Dokument darstellt, 1893 in Kiew geboren – seine Eltern waren polnischer Herkunft.
4. & 5. Alexander Archipenko
Alexander Archipenko, einer der bedeutendsten Vertreter der modernen Skulptur, wurde 1887 in Kiew geboren. Einigen Jahren des Kunststudiums in Kiew und freier Tätigkeit in Moskau folgt 1908 der Umzug nach Paris, wo er sich in seiner figurativen Plastik mit den Errungenschaften des Kubismus in der Malerei beschäftigt. Die beiden Lithographien Stillleben (noch deutlich vom Kubismus geprägt)und Drei Akte entstanden wenige Jahre vor seiner Emigration in die USA, die 1923 gemeinsam mit seiner deutschen Frau Gela Forster erfolgte. Archipenko verstarb 1964 in New York.
6. Leoníd Semjónowitsch Chishínski
Nach einem Studium an der ukrainischen Kunstakademie in Kiew und der Fakultät für Grafik in Leningrad betätigte sich Leoníd Chishínski (1896–1972) als Maler und vor allem Grafiker. Als überaus produktiver Buchillustrator fertigte er zahlreiche Umschlagentwürfe und Bilder zu Märchensammlungen. Sein Holzstich zur „Geschichte von Jersch Jerschowitsch, dem Kaulkarpen“ besitzt eine surreale Anmutung. Er gehört zu einer Serie von elf Blättern für „Satirische Erzählungen aus dem alten Russland“.
7. Anatolij L’vovič Kaplan zu Mendele Moicher Sforim
Mendele Moicher Sforim, ein bedeutender, aus Odessa stammender Protagonist der neujüdischen Literatur, verarbeitete im 19. Jahrhundert in seinen Schriften mit humoristischem Blick die Eindrücke, die er auf zahlreichen Reisen durch die jüdischen Siedlungsgebiete gewonnen hatte. Auch Anatolij L’vovič Kaplan (1917–1980), der 1976 Sforims bekannte Erzählung „Fische der Krumme“ mit seinen ebenso einfachen wie kraftvollen Radierungen illustrierte, entstammte dem jüdischen Kulturkreis, der sich über mehrere Länder – die Ukraine eingeschlossen – erstreckte. Geboren wurde er im belarussischen Rahatschou.
8. Arnd Schultheiß / Igor Markevitch
Der Leipziger Maler und Graphiker Arnd Schultheiß (1930–2021), selbst musisch begabt, schuf im Rahmen seines großen druckgraphischen Projekts „Studien aus dem Konzertsaal“ Porträts namhafter Dirigenten und Musiker. So entstand 1985 posthum auch dieses Bildnis des in Kiew geborenen Dirigenten und Komponisten Igor Markevitch (1912–1983), der schon früh mit seiner Familie nach Frankreich zog. Bereits in den 1930er Jahren hatte Markevitch als „russischer“ Dirigent einen guten Ruf, seine internationale Karriere startete jedoch erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
9. Sergej Anufriev
Der 1964 in Odessa geborene Sergej Anufriev gehörte der Künstler*innengruppe des Moskauer Konzeptualismus an, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion international große Aufmerksamkeit hervorrief. Ihre Vertreter*innen hatten bereits in den 1980er Jahren jenseits jeder staatlichen Bevormundung radikal neue Konzepte von Schrift und Zeichen erprobt, mit dem Ziel, die avantgardistischen Vorläufer Anfang des 20. Jahrhunderts, darunter Kasimir Malewitsch, ironisch zu brechen. Auch folkloristisch-märchenhafte Bildformen werden – wie in diesem Werk – neu belebt.
10. Juri Leiderman
Der 1963 in Odessa geborene Juri Leiderman entwarf 1996 für sein Laboratorium Europäischer Grabschriften Elefanten-Anamorphosen, die er auch in Zeichnungen festhielt. Auch Leidermann hatte sich in den 1980er Jahren den Moskauer Konzeptualisten angeschlossen, lebt und arbeitet jedoch seit 1990 in Berlin. In diesem Werk blickt er über die Grenzen Europas hinaus: „Tatsächlich sind [die Elefanten] Anamorphosen, die irgendwie ‚surreal‘ und ‚halluziniert‘ aussehen. Und doch verdanken sie sich einer exakten geometrischen Verzerrung. In der Installation wurden Fragmente von Elefanten gleichsam als ‚Drähte benutzt, die die Völker der Dritten Welt und Grabschriften für Europäer verbinden.“
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