Solidarität aus der Sammlung: Ukrainische Kultur im MEK
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Der russische Angriffskrieg in der Ukraine löst Empören und Hilflosigkeit aus. Das Museum Europäischer Kulturen (MEK) reagiert mit einer solidarischen Präsentation von Highlights aus der reichen Kulturgeschichte des Landes.
Seit dem 24. Februar 2022 befindet sich die Ukraine im Krieg. Der Angriff russischer Truppen auf die Ukraine verletzte völkerrechtswidrig die Grenzen dieses souveränen Staates. Für die Bevölkerung bedeutet dies unvorstellbares Leid. Zahlreiche Menschen starben, Millionen befinden sich auf der Flucht. Auch das kulturelle Erbe der Ukraine ist in Gefahr: Manche Museen konnten ihre Sammlungen evakuieren, andere sind durch die Kampfhandlungen bereits zerstört worden. Damit verschwinden nicht nur Kulturgüter. Mit ihnen verliert die ukrainische Bevölkerung die materiellen Zeugnisse ihrer kulturellen Identität.
„Mit der Zerstörung von Museen und Kulturgütern gehen Erinnerungsträger verloren“, sagt Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums Europäischer Kulturen (MEK). „Mit ihnen wird das Wissen um die historische Vielfalt der Region verbunden, die neoimperialen Vereinnahmungsversuchen entgegensteht. Als kulturanthropologisches und kulturhistorisches Museum bewahren wir die Objekte und das damit verbundene Wissen – beides können wir unseren Kolleg*innen in der Ukraine nach dem Krieg zur Verfügung stellen.“
Frühes Sammlungsinteresse
Die Ukraine grenzt an Belarus, die Republik Moldau, Polen, Rumänien, Russland, die Slowakei und Ungarn. Im Laufe der Geschichte wechselte die Herrschaft über das heutige Staatsgebiet mehrfach: Teile davon gehörten zum Königreich Polen-Litauen, zum Russischen Zarenreich, zum Reich der Habsburger, zum Osmanischen Reich und zur Sowjetunion. Es entwickelte sich hier ein einzigartiges Mit- und Nebeneinander an Sprachen, Religionen und Kulturen. Diese Vielfalt prägt das seit 1991 unabhängige Land und die ukrainische Gesellschaft bis heute.
Auch die Volks- und Völkerkunde interessierte sich schon lange für die Ukraine. Die Sammler*innen des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigten sich jedoch nicht mit Staaten. Sie erfassten „Ethnien“, Orte und „Kulturlandschaften“. Besonders faszinierte sie das vermeintlich traditionelle Landleben. Noch in den 1930er-Jahren, als die meisten der hier gezeigten Objekte gesammelt wurden, sahen sich viele der Sammler*innen als Bewahrer*innen einer „unberührten Volkskultur“. Kulturgüter, die moderne Entwicklungen gespiegelt hätten, blieben unbeachtet. Die so entstandenen Daten sind für uns heute oft schwierig: Ortsnamen haben seitdem gewechselt oder waren nie offiziell. „Kulturlandschaft“ ist ein ebenso vage und schwer zu definierendes Konzept wie „Ethnie“. Die Objekte, die das Museum Europäischer Kulturen in seinem aktuellen „Bewegungsmelder“ präsentiert, vermitteln dennoch einen Eindruck von der großen religiösen und kulturellen Vielfalt in der Ukraine.
Eindrücke vom Kriegsalltag
Die Objekte der Sammlung des MEK helfen, aktuelle Geschehnisse historisch einzuordnen. Der Fokus liege jedoch auf der Gegenwart, betont Direktorin Tietmeyer: „Deshalb bereiten wir gerade eine Ausstellung mit der in Berlin lebenden ukrainischen Fotografin Mila Teshaieva vor. Sie war in den letzten Wochen in Kiew und anderen Städten. Ihre fotografischen Eindrücke vom Kriegsalltag werden zusammen mit ihren textlichen Erinnerungen ab Mitte Juni bei uns zu sehen sein.“
Das MEK pflegt schon länger immer wieder Kontakte in die Ukraine. Eine Kulturhistorikerin aus Kiew hat sich mit der krimtatarischen Sammlung des Museums beschäftigt und erhielt dafür ein Stipendium der Staatlichen Museen zu Berlin. „Zudem standen wir bis vor ein paar Jahren in regelmäßigem Austausch mit Museumskolleg*innen und Künstler*innen von der Krim, die sich mit krimtatarischer Kunst und Kultur befassten. Dieser Kontakt brach nach der Annexion des Gebietes durch Russland allerdings ab”, erklärt Tietmeyer.
Historische Objekte
Dieser Krug aus dem belarussisch-russisch-ukrainischen Grenzgebiet wurde bei Aufnahme ins damalige Museum für Völkerkunde den „Ukrainern“ zugeordnet. Wer sind die „Ukrainer“? Einerseits gibt es eine ostslawische, sprachlich und religiös vielfältige Gruppe, die sich als ethnisch ukrainisch versteht. Andererseits bezeichnet man so die Staatsbürger*innen des heutigen ukrainischen Staats.
Die Holzdose ist eines der ältesten Museumsobjekte des MEK aus dem östlichen Europa. Sie stammt laut Karteikarte aus „Podolien”. Dieses Gebiet liegt heute in der südwestlichen Ukraine und dem nordöstlichen Teil der Republik Moldau. Es gehörte im Laufe seiner Geschichte bereits zu Polen, zum Osmanischen Reich und zur Sowjetunion.
Ivan Senkiv, Mitarbeiter des Berliner Museums für Völkerkunde, ordnete den Halsschmuck den „Bojken“ der Westukraine zu. Die Bojk*innen lebten ursprünglich in den Karpaten der Ukraine und Polens. Auf dem Land werden ihre Traditionen zum Teil weitergeführt; in den ukrainischen Städten vermischen sich heute die kulturellen Besonderheiten der vielen Kulturerbegemeinschaften der Ukraine.
Die Huzul*innen lebten lange als Hirt*innen in den Karpaten. Als der Nussknacker vor Jahrzehnten in die Sammlung des Museums aufgenommen wurde, vermerkte man als Herkunft „Huzulenland“. Es bezeichnet ein Siedlungsgebiet, keinen Staat. Heute liegen viele Teile davon in der Ukraine, viele Huzul*innen verstehen sich als Ukrainer*innen.
Die Krimtatar*innen sind als Muslim*innen auf der Krim in der Minderheit. Stalin ließ 1944 viele von ihnen als „nicht-russische Ethnie“ nach Usbekistan deportieren. Dort wurde der Teppich in den 1960er-Jahren von einer Krimtatarin hergestellt. Zwar konnten die Krimtatar*innen ab 1988 auf die Halbinsel zurückkehren, doch sie bleibt umkämpft: Im Jahr 2014 besetzten und annektierten sie russische Truppen.
Anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine präsentiert das Museum Europäischer Kulturen in einer Vitrine im Foyer den „Bewegungsmelder“ – derzeit ausgewählte Objekte aus seiner Sammlung. Sie illustrieren das jahrhundertelange Zusammenleben verschiedener Kulturen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Der „Bewegungsmelder“ greift regelmäßig aktuelle Themen auf und erläutert ihre Relevanz für das Museum und seine Sammlung. Seit Mitte März nutzt das MEK diesen Ort, um seine Solidarität mit allen Menschen auszudrücken, die sich dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine entgegenstellen. Ihr Einsatz trägt auch dazu bei, das reiche kulturelle Erbe der Region vor der Zerstörung zu schützen und das Wissen um ein plurales Miteinander zu bewahren.
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