„Alle hatten nur einen Wunsch: Avantgarde zu sein“ – Ralph Gleis über die Secessionen
Lesezeit 6 Minuten
Mit der neuen Ausstellung „Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann“ widmet sich die Alte Nationalgalerie dem Aufbruch künstlerischer Avantgarden in den Kunstmetropolen München, Wien und Berlin um 1900. Ralph Gleis, Direktor des Hauses, im Gespräch über sein Museum und den Drang nach Individualität und Freiheit in der Kunst um die Jahrhundertwende.
Interview: Manuel Brug
Herr Gleis, Sie sind 2017 als Leiter der Alten Nationalgalerie angetreten und sind seit der Neuaufstellung des Nationalgalerie-Verbundes 2022 offiziell Direktor des Hauses – warum sind sie gern an der Alten Nationalgalerie?
Ralph Gleis: Es ist die herausragende Epochensammlung zum langen 19. Jahrhundert in Deutschland und ein international renommiertes Museum mit einem großartigen Team. Schon die Qualität und der Ausrichtung der Sammlung ist einzigartig. Draußen über dem Eingangsportal steht zwar „Der Deutschen Kunst 1871“, dies ist aber nur bedingt richtig. Denn das Gebäude wurde erst 1876 fertiggestellt, und auch die Sammlung zeigt nicht nur deutsche Kunst, sondern diese im breiten europäischen Kontext. Zudem wurde die Sammlung 1861 von privater Hand gestiftet – und nicht vom preußischen König, wie es das Reiterstandbild suggerieren mag.
Wie schaffen Sie es, dass die Alte Nationalgalerie als Sammlung des 19. Jahrhunderts aktuell und relevant erscheint?
RG: Das hängt stark vom Programm und von der Art der Vermittlung der Themen ab. Das 19. Jahrhundert war in meinen Augen eine sehr spannende Epoche und eine Phase von zahlreichen Experimenten, die sich in immer schnellerer Folge ablösten. In allen Bereichen der Gesellschaft, in der Technik wie in der Kunst ist dies eine Übergangszeit auf dem Weg zu unserer Zeit. Bereits der Historismus ist als Teil der modernen Bewegung zu betrachten: Alle Stile sind nun frei verfügbar, können neu kompiliert werden. Während vorher das Prinzip der Sukzession stand, entwickelt sich ein zeitgleicher Pluralismus wie wir ihn heute in der Kunst kennen.
Das Gebäude suggeriert ein wenig eine staatstragende Art …
RG: … aber die Sammlung beinhaltet eben gleichermaßen Bilder des Arbeiteralltags, etwa Menzels „Eisenwalzwerk“ und der Emanzipation auf vielen gesellschaftlichen Gebieten. In der Ausstellung „Kampf um Sichtbarkeit“, die im Rahmen des föderalen Programms immer noch durch die Bundesländer tourt, haben wir zum Beispiel gezeigt, wie die Rolle der Künstlerinnen im 19. Jahrhundert war. Obwohl sich frühere Direktoren kaum für weibliche Positionen in der Kunst ihrer jeweiligen Zeit interessiert haben, gibt es einige Beispiele in der Sammlung. Aber es sind nicht sehr viele. Selbst der berühmte Impulsgeber und Visionär in Sachen Impressionismus, Hugo von Tschudi, beachtet leider weder Berthe Morisot noch Camille Claudel. Hier ist also noch ein großes Wachstumspotential für das Museum.
Wie ist das Verhältnis von ausgestellten Gemälden zu Skulpturen in der Alten Nationalgalerie?
RG: Grundsätzlich ist es wie bei jedem Museum: Wie bei einem Eisberg, bei dem nur die Spitze über dem Wasser herausragt ist in der Dauerausstellung nur ein Teil der Sammlung zu sehen. Wir haben ungefähr gleich viele Gemälde wie Skulpturen in der Sammlung, aber ausgestellt sind im Haupthaus auf der Museumsinsel deutlich mehr Gemälde. Dafür haben wir mit der Friedrichswerderschen Kirche noch eine Zweigstelle allein für die Skulpturen, die wir nach acht Jahren Bauschadensanierung endlich wieder eröffnete konnten und die auch von den Besuchern sehr gut angenommen wird. Hier zeigen wir in der Neuaufstellung analog zum Haupthaus nicht mehr nur die Berliner Bildhauerschule als lokale Nabelschau, sondern ebenso die internationalen Vorbilder und Netzwerke in denen diese Kunst entstand. Zudem gibt es ein weitgehend mit unseren Skulpturenbeständen bestücktes Museum für Christian Daniel Rauch an dessen Geburtsort Bad Arolsen in Nordhessen. Bei Sonderausstellungen versuchen wir, wenn möglich, alle Kunstgattungen zu berücksichtigen. Denn gerade diese Vielfalt macht den besonderen Reiz der Alten Nationalgalerie aus.
RG: Es gibt ein sehr gutes Team am Haus, das diesen Gang durch das lange 19. Jahrhundert so abwechslungsreich wie überraschend zu gestalten weiß. Einige der Stellschrauben dafür konnte ich seit meiner Berufung drehen, etwa indem ich Yvette Deseyve als Kuratorin für Skulptur berufen konnte. Es ist aber auch eine sehr gute Konstellation aus Menschen, die hier schon sehr lange wirken, die die Sammlung bis ins Detail kennen und jüngeren Kolleg*innen, die neue Konzepte und Ideen mitbringen und das Museum mitformen wollen. Die Häuser, die Sammlung und das Team – damit sehe ich die Alte Nationalgalerie bestens aufgestellt.
Das ist auch in der Außenwirkung ein Prozess vieler Jahre …
RG: Ja, es hat schon mit meinen Vorgängern begonnen, die vermehrt die Sammlungen erschlossen und daraus Themen entwickelt haben. Mein eigener Impuls liegt neben der Lust am Interdisziplinären darin, die Projekte als internationale Kooperationen anzulegen. Denn so haben wir eine noch stärkere Sichtbarkeit bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcen – gerade in Zeiten, in denen ökonomische wie ökologische Nachhaltigkeit immer wichtiger werden. Zum Beispiel bei der stark zeitgenössisch gedachten, tiefbohrenden Gauguin-Ausstellung, die wir 2022 mit der Carlsberg Glyptoteket ausgerichtet haben. Die war so angelegt, dass wir bewusst mit den exzellenten Sammlungsbeständen aus einem Museum gearbeitet haben. Hier ging es weniger um eine Retrospektive, als um die konkrete Fragestellung, wie heute mit Gauguin umgehen und wie wir seine Bedeutung einschätzen.
RG: Natürlich. Und auch hier gilt wieder: international, vergleichend, entdeckend. Mit dem Fokus auf die drei Maler Klimt, Stuck und Liebermann, die in Berlin, München und Wien an den sezessionistischen Bewegungen teilnahmen und ihren eigenen Weg suchten. Der Zeitpunkt für diese Ausstellung war bewusst gewählt, denn als ehemaliger Kurator am Wien Museum, wusste ich, dass wir jetzt, wo die dortige langjährige Renovierung in die finale Phase geht, die einmalige Chance haben, um möglichst viele Leihgaben bekommen zu können. So kriegen wir allein vom Wien Museum über 100 Kunstwerke, darunter 45 Klimt-Zeichnungen. Die Kolleg*innen waren wirklich sehr großzügig, wir hatten bei der Objektauswahl quasi eine carte blanche. Die Ausstellung geht dann im nächsten Jahr nach Wien und wir senden unserseits hochkarätige Leihgaben dorthin.
Der Ansatz der Ausstellung ist also das Gemeinsame der Secessionen?
RG: Genau, es geht um das übergreifende Prinzip der Secessionen – nicht um die lokale Ausprägung. Wir wollen zeigen, welche Entwicklungen es in den Secessionen gleichzeitig gab und auch wie diese auch auf internationale Stars wie Rodin oder Munch reagierten. Jede Secession bot einer Vielfalt von Stilen die Bühne, die alle nur einen Wunsch hatten: Avantgarde zu sein. Es wird eine spannende, neue Dynamik geben, wenn jetzt hier Liebermann, Stuck und Klimt nebeneinander hängen. So lesen wir die Kunstgeschichte quer, zeigen neue Verweise auf und haben zudem die vermutlich nebenbei die größte Klimt-Ausstellung in Berlin bisher. Erstmals seit 1905 ist zudem Klimts „Judith“ aus dem Belvedere zu sehen, die damals bei der Berliner Secession gezeigt wurde. Aber es gibt eben neben diesen Größen auch 80 Künstlerinnen und Künstler zu sehen und zu entdecken, von denen einige bisher nur Fachleuten bekannt waren.
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Kommentare
Sehr spannend.Ich wünsche die Ausstellung zu sehen.Vielleicht im Herbst?
Liebe Frau Beckermann, die Ausstellung läuft bis zum 22. Oktober 2023!
https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/secessionen/