#CollectingCorona: Ein Sammlungsaufruf des Museums Europäischer Kulturen
Lesezeit 6 Minuten
Das Coronavirus beschäftigt derzeit alle Menschen – doch das
Team des Museums Europäischer Kulturen (MEK) arbeitet bereits daran,
diese ungewöhnliche Situation für zukünftige Generationen in der
Sammlung des Hauses zu dokumentieren. Kuratorin Judith Schühle erklärt,
welche Eindrücke und Zeitdokumente ihr in diesen Tagen begegnen.
Text: Judith Schühle
„Seit
zwei Tagen haben wir eine zunehmende Zahl von Grippekranken; es handelt
sich scheinbar um dieselben Fälle wie in Spanien, es ist daher auch
gleich der Name ‚span. Krankheit‘ geprägt worden.“ Bei der Neuaufnahme
von Fotoalben und Tagebüchern in die Sammlung des Museums Europäischer
Kulturen fiel mir vor zwei Wochen dieser Satz direkt ins Auge. Eugen
Frey, ein junger Arzt aus Baden, der während des ersten Weltkriegs unter
anderem in Belgien, Frankreich, Bulgarien und Mazedonien als Soldat
medizinischen Dienst leistete, hatte dies am 15. Juni 1918 in seinem
Tagebuch vermerkt.
Das
Zitat zeigt, wie schnell die Grippepandemie von 1918 mit 500 Millionen
Erkrankten weltweit als „spanische Grippe“ bezeichnet wurde. Auch wenn
heute längst bekannt ist, dass diese Grippe ihren Ursprung nicht in
Spanien hatte, ist dieses Zeugnis wichtig: Es zeigt, dass Menschen
damals und heute dazu neigen, einen Virus als etwas Fremdes
darzustellen, als eine Bedrohung von außen. Für Kurator*innen in
Museen der Alltagskultur wie dem MEK sind solche persönlichen Zeugnisse
und Eindrücke sehr wichtig, denn sie geben private Einblicke darin, wie
Menschen Pandemien einordnen und mit diesen umgehen. Um dabei nicht mehr
ausschließlich auf solche Zufallsfunde wie jenen Tagebucheintrag
angewiesen zu sein, startete das MEK über seine Social Media Kanäle am
Anfang der Corona-Pandemie im März 2020 einen Aufruf: Menschen in ganz
Europa werden gebeten, Fotos, Videos und Eindrücke an das Museum
einzusenden, um für zukünftige Generationen in der Museumssammlung zu
dokumentieren, wie sich ihr Alltag durch die Corona-Pandemie verändert.
Als
Kuratorin begann ich, zuerst auf die Veränderungen in meiner eigenen
Umgebung in Berlin zu achten. Plötzlich waren die Straßen auch bei
Sonnenschein leer, schließlich sollte man zu Hause bleiben und keine
Freund*innen und Verwandten treffen. Um dennoch einen Gruß an ihre
Großmutter zu senden, malten Kinder eine große „Liebesbotschaft“ auf den
Gehsteig, die auch aus höheren Etagen gut auf Distanz zu lesen war.
Im
Supermarkt trat gähnende Leere an die Stelle voller Mehl-, Nudel- und
Toilettenpapierregale. Trockenhefe, ein Lebensmittel, das normalerweise
eher als Ladenhüter bekannt ist, war plötzlich tagelang in keinem
Supermarkt zu finden.
Aber
auch unscheinbarere Veränderungen waren zu sehen. Plötzlich klebten an
Fensterscheiben, Stromkästen und Laternenmasten im gesamten Kiez kleine
Zettel, die ein selbstproduziertes (und äußerst fragwürdiges)
Desinfektionsmittel nach einer Rezeptur des „Weltgesundheitsamts“ (das
in Wirklichkeit nicht existiert), vermarkteten.
Ein
Gabenzaun entstand über Nacht in der Nähe einer S-Bahnstation. Dort
konnten Lebensmittel und Kleidung für Menschen, die auf der Straße
leben, angebracht werden. In verschiedenen Sprachen boten so
Berliner*innen jenen Mitmenschen ihre Spenden an, die besonders darunter
litten, dass auch Hilfsorganisationen ihre normalen Angebote einstellen
mussten. Dabei fiel mir auch auf, wie sich mein Wortschatz durch die
Corona-Pandemie erweiterte – Gabenzaun zum Beispiel, aber auch N95 – ein
einfacher Mundschutz oder FFP2 – ein anderer Mundschutz. Noch vor
wenigen Wochen hätte ich nicht gewusst, was sie bedeuten.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis uns auch die ersten Einsendungen von Fotos und Eindrücken aus ganz Europa erreichten.
Neue Normalität?
In
manchen Fotos und Gedanken spiegelte sich der veränderte Alltag wieder.
So empfand Angela aus Berlin, dass sich der Alltag nun „zwischen den
Linien“ abspielt: Die meiste Zeit zu Hause verbringend, wurde ihr Blick
aus dem Fenster ihre neue Normalität. Zwischen den Linien aus Fenstern
und Häusern spielt sich nun das Leben der Menschen ab, obwohl der
Frühling nach draußen lockt.
Auch
Anna Giulia aus Italien berichtet von einer neuen Normalität: 29 Tage
lang brachten ihr Freunde, Verkäuferinnen und Freiwillige des Roten
Kreuzes ihre Einkäufe nach Hause, da sie die Wohnung nicht verlassen
sollte.
Die
Mutter von Flip schließlich sandte ein Kunstwerk ihres Sohnes ein.
Dieser war untröstlich darüber, dass sein heiß ersehntes Fest zu seinem
siebten Geburtstag nicht stattfinden konnte. Wenn es Erwachsenen schwer
fällt, die neue Normalität mit all ihren Einschränkungen zu akzeptieren,
wie muss es dann erst einem Kind ergehen? Flip setzte seine Wut in
Kreativität um – sein gemaltes Coronavirus spricht sicherlich nicht nur
ihm aus dem Herzen.
Trauer
Besonders berühren jene Impressionen, die zeigen, wie Menschen in Zeiten von Corona trauern. So berichtet Lindsay, wie schwer es fällt, einen geliebten Menschen zu verlieren, ohne Abschied nehmen zu können, da es keine Flüge mehr gibt, die eine Heimreise in die USA ermöglichen und das Trauern ohne die Trost spendenden Rituale ein Zustand ohne Abschluss darstellt. Ein Osterei, gedacht als Geschenk, zerbrochen in einem hektischen Moment, steht für sie symbolisch für die Trauer um ihre Großmutter.
Und
Carla, Studierende aus Leipzig, berichtet vom Verzicht, die Beerdigung
ihrer Großmutter in Süddeutschland zu besuchen, um ihren Großvater nicht
durch eine potentielle Ansteckung zu gefährden. Sich nah sein ohne sich
nahe sein zu können, eine private Ausnahmesituation im Rahmen einer
globalen Ausnahmesituation zu erfahren, auch das bedeutet die
Corona-Krise.
Hoffnung
Aber auch Einblicke der Hoffnung
zeigen die Fotos und Gedanken der Menschen in Europa. Regenbögen aus
Italien, aus England, aus Deutschland erreichen uns. Als Zeichen für
Sonnenschein nach heftigem Regen sind sie seit jeher ein farbenfrohes
Symbol der Hoffnung. Und auch in der Corona-Krise wurden sie schnell zur
Mut machenden Botschaft aus der Isolation in den eigenen vier Wänden
nach draußen. In ganz Europa zieren sie gerade Straßen und Fenster und
lassen hoffen, dass „tutto andrá bene“, dass alles gut werden wird.
Bleibt alles anders?
Und
auch das zeigt die Corona-Pandemie: Nicht alles bleibt anders.
Schlechte Angewohnheiten haben auch in der Krise bestand. So schickte
Stein Farstadvoll aus Norwegen, ein Forscher im Unruly Heritage Projekt
Fotos von Fläschchen mit Handdesinfektionsmittel ein: Unachtsam
weggeworfen landen sie als Plastikmüll am Strand vor Tromsø. So schlägt
sich die Coronapandemie nicht nur im Alltag der Menschen in Europa
nieder, sondern auch in der Zusammensetzung der durch sie verursachten
Umweltverschmutzung.
Das
Projekt #CollectingCorona des Museums Europäischer Kulturen geht
weiter. Senden auch Sie Fotos, Gedanken, Videos – egal in welcher
Sprache – an mek@smb.spk-berlin.de. Alle Einsendungen werden Teil eines
Sammlungskonvoluts zur Corona-Pandemie und ermöglichen so, für
zukünftige Generationen zu dokumentieren, wie die Pandemie den Alltag
der Menschen in Europa beeinflusst.
Seit Mai hat das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem mit Iris Edenheiser eine neue stellvertretende Direktorin. Im Interview erklärt sie,… weiterlesen
Unsere Webseite verwendet Cookies. Diese haben zwei Funktionen: Zum einen sind sie erforderlich für die grundlegende Funktionalität unserer Website. Zum anderen können wir mit Hilfe der Cookies unsere Inhalte für Sie immer weiter verbessern. Hierzu werden pseudonymisierte Daten von Website-Besuchern gesammelt und ausgewertet. Das Einverständnis in die Verwendung der Cookies können Sie jederzeit widerrufen. Weitere Informationen zu Cookies auf dieser Website finden Sie in unserer Datenschutzerklärung und zu uns im Impressum.
Funktional Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.
Kommentare