Im Museum Europäischer Kulturen in Dahlem verbindet die Ausstellung „ALL HANDS ON: Flechten“ Zeiten, Räume, Techniken und Menschen miteinander.
Text: Irene Bazinger
Wenn es mal wieder so richtig heiß draußen ist und die Kleider am Leibe kleben, denkt man nicht unbedingt an eine Weste. Dabei hat man das früher durchaus getan und ist zu überraschenden Lösungen gekommen. In Korea nämlich trugen die Männer unter ihrer Oberbekleidung geflochtene Rattanwesten. Die standen durch das aus dem Stamm von lianenartigen Kletterpflanzen gewonnene Material einen Spalt breit vom Körper ab. Die Luft, die sich dadurch zwischen Haut und Bekleidung sammelte, kühlte den Träger und schützt ihn vor der schwülen Hitze. Eine solche Weste vom Ende des 19. Jahrhunderts ist nun in Dahlem im Museum Europäischer Kulturen in der Ausstellung „ALL HANDS ON: Flechten“ zu bestaunen. Es sind zahlreiche und überraschende Dinge, die sich mit der jahrtausendalten Kulturtechnik erschaffen lassen. Die beiden Kuratorinnen Judith Schühle und Sofia Botvinnik haben einen großen Kosmos erforscht, um die Wunderwelt des Flechtens erfahrbar zu machen.
Im Mittelpunkt der umfassenden, inspirierten Schau steht eindeutig der Mensch, denn obwohl Maschinen und 3-D-Drucker vieles können – einen stinknormalen Korb aus Weidenrinde kriegen sie nicht hin! Dafür braucht man menschliches Handwerk, verbunden mit der Kenntnis des jeweiligen Materials und mit der Erfahrung aus der Praxis. Eine Weidenrute, Rattan oder Bambus sind Naturprodukte und als solche immer anders. Sie müssen dementsprechend flexibel verarbeitet werden. Per Maschine ist lediglich das einfache Radialgeflecht zu realisieren, sie benötigt für ihre Fabrikate jedoch unbedingt einen künstlichen, quasi endlosen Faden. So werden Katheter und Stents für den medizinischen Sektor angefertigt, aber auch Gartenschläuche für den Hausgebrauch. „Das Handwerk des Flechtens ist nicht nur historisch gebunden, sondern hat wirklich eine zukunftsfähige Hightech-Dimension“, erläutert Judith Schühle. Traditionell freilich werden ausschließlich natürliche Materialien benutzt. Die steigende Aufmerksamkeit für Nachhaltigkeit führt inzwischen dazu, dass sich etwa Sisal wieder stärkerer Beliebtheit erfreut. Ursprünglich wurde diese salzwasserbeständige und schwer entflammbare Faser zum Beispiel für Schiffstaue verwendet. Dann wurde das Plastik erfunden und Sisal hatte das Nachsehen. Inzwischen haben einige Länder die Produktion von Tauen aus Kunststoff komplett verboten, um die Verschmutzung der Meere zu bekämpfen, in denen diese Seile oft entsorgt werden.
Vom einfachen Korbmachen zur kreativen Flechtwerkgestaltung
Geflochten wird rund um die Welt, je nach Region mit Wurzeln und der Rinde der Birken, mit Espartogras, mit Palmenblattrippen und Bambus. „Es gibt überall etwas zu flechten, aber es gibt nicht überall alles“, so Sofia Botvinnik über die unterschiedlichen Ausgangsstoffe.
In Lichtenfels (Bayern) kann man sich in der einzigen staatlichen Berufsfachschule Deutschlands als Flechtwerkgestalter:in ausbilden lassen. Diese Berufsbezeichnung drückt schon aus, dass sich das Tätigkeitsfeld der Korbmacher von früher inzwischen trotz der gleichen Techniken erheblich verändert hat. Denn oft entscheiden sich die Absolvent:innen für eine künstlerische Richtung, wie Megumi Higuchi, deren faszinierende Feinflechtskulptur „Kumo“ (2020) aus geschälter Weide im Eingangsbereich präsentiert wird.
Allein von der Herstellung alltäglicher Gegenstände kann heute wohl niemand mehr leben, zumal die Konkurrenz der fernöstlichen Billiglohnländer hoch ist. Unter welch entwürdigen und ausbeuterischen Verhältnisse indes dort gearbeitet wird, verschweigt die Ausstellung nicht, ebensowenig die koloniale Vergangenheit durch den Handel mit Rohstoffen wie Sisal von Plantagen aus Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania. So werden hier die globalen Verflechtungen – das Wort bekommt seine ganz konkrete Bedeutung zurück – plastisch und sinnlich nachgezeichnet.
Zu sehen ist außerdem, dass die Resultate des Flechtens weit über den heimischen Brotkorb oder einen wärmedämmenden Topfuntersetzer hinausreichen können.
Derzeit hat man etwa im Berliner Kunstgewerbemuseum in einer großen Einzelausstellungsstellung über den Bauhaus-Künstler Erich Dieckmann (1896 – 1944) Gelegenheit zu bewundern, welch fabelhafte Sitzmöbel geflochten werden können. Neben Stahlrohrsesseln aus dem Jahr 1931 gibt es da auch einen herrlich bequemen Korbliegesessel mit Hocker (1931). Gerd Backert hat ihn 2021/2022 mit einem Gestell aus Rattan und einem Geflecht aus Peddigrohr nach einer Zeichnung Dieckmann aus der Kunstbibliothek Berlin nachgeflochen. Besucher:innen, die sich darauf betten, was ausdrücklich erlaubt ist, geraten meist, heißt es seitens des Museums, geradezu in Verzückung.
In „ALL HANDS ON: Flechten“ in Dahlem wiederum wird gezeigt, wie im indischen Bundesstaat Meghalaya aus den Luftwurzeln des Gummibaums „Lebende Brücken“ geflochten werden, um Flüsse zu überqueren. Es dauert Jahre, bis diese Meisterstücke traditioneller regionaler Ingenieurskunst begehbar sind. Dadurch verbinden sie nicht nur die Menschen an den verschiedenen Ufern, sondern zeitlich auch über Generationen hinweg. Heutzutage allerdings bereitet diesen widerstandsfähigen organischen Bauwerken der Massentourismus Probleme, weil sie für regelmäßige Busladungen von Schaulustigen mit profilierten Wanderschuhen nicht geeignet sind. Deswegen muss den Brücken, die den Menschen helfen, nun selbst geholfen werden.
Zehn Stationen laden herzlich zum Zupacken und Mitmachen ein
Die Einsatzmöglichkeiten für Flechtarbeiten sind eben überaus variabel. Eine ihrer frühen Funktionen war der Schutz von Menschen und Waren. Dazu zählen die Ummantelungen von Gegenständen aller Art, gern geflochtene Körbe um Flaschen, ferner gegen Hitze und Kälte polyvalente Hüte, Käppis, Schuhe oder der zottelige Grasmantel eines Hirten aus den Alpen. Besonders hübsch ist der Strohhut für Pferde (mit zwei Öffnungen in der Krempe für die langen Ohren!), der das Tier vor der mediterranen Sonne schützt.
Überraschend liegt dann da plötzlich das Cover einer VHS-Cassette in einer Vitrine, und zwar „Paris, Texas“, der legendäre Film von Wim Wenders, der 1984 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Ist der jetzt museumsreif? Irgendwie schon, bloß nicht als Film, sondern als Material. Als nämlich an der Ludwig-Maximilians-Universität München analoge Datenträger digitalisiert wurden und anschließend weggeschmissen werden sollten, griff die Designerin Waltraud Münzhuber zu. Für ihre Art des Upcycling entwickelte sie eine spezielle Technik, um aus den geretteten Magnetbändern Körbe zu kreieren. Je länger ein Film, desto größer wird der Korb. Kurze Kinderfilme ergeben also eher niedrige Körbe, doch ein fast vierstündiges Hollywood-Epos wie „Vom Winde verweht“ wird zu einem geräumigen Gefäß. Origineller haben Form und Inhalt wohl selten zueinander gefunden.
Beim Flechten werden flexible Materialien zu einem stabilen Gegenstand verbunden. Was diese simple Definition in der Praxis bedeuten kann und wie vielfältig die Resultate sind, lässt sich an zehn sehr familienfreundlichen Hands-On-Stationen (zwei sind digital, acht analog) ausprobieren. Denn angesichts der mannigfachen Formen und Techniken kriegt man wirklich Lust, um selbst fröhlich zuzupacken. Und das ist möglich, egal, ob man Gummistreifen verknüpft, Rohrisolierungen verwickelt, in eine Schale mit losem Sisal greift. Dank eines ausgefeilten Farbkonzepts bringen diese Stationen überdies schöne bunte Akzente in die Ausstellung und unterstützen die gedämpften Naturfarben der Exponate.
Wie Natur und Kultur zusammengehören, zeigt der Konzeptkünstler Olaf Holzapfel in seiner begehbaren Installation „Der geflochtene Garten“. Hohe Wände aus Weiden formulieren einen offenen Raum, in dem sich Innen und Außen sowohl abwechseln wie ergänzen. Wer ihn betritt, mag sich kurz wie in einem Labyrinth fühlen, aber die Struktur und der Geruch der pflanzlichen Wandungen beruhigt sofort, ermuntert durch ihre urwüchsige Haptik – und weist unaufgeregt den Weg ins Freie. Da versteht man erst recht, warum in Deutschland das Flechthandwerk 2016 als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt wurde.
ALL HANDS ON: Flechten Museum Europäischer Kulturen Arnimallee 23, 14195 Berlin-Dahlem, Di-Fr 10-17 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr, Mo geschlossen, Tel. 030-266 42 42 42, www.smb.museum
Stühle. Dieckmann! Der vergessene Bauhäusler Erich Dieckmann. Bis 14.August 2022, Kunstgewerbemuseum Matthäikirchplatz, 10785 Berlin, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr, Mo geschlossen, Tel 030-266 424 242, www.smb.museum
Mode ist schön, doch in Zeiten globaler Wirtschaftssysteme ist sie auch ein bedeutender Faktor in Sachen Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit…. weiterlesen
Welche Vergangenheit haben Routinen, die an Objekte geknüpft sind, wenn wir diese nicht mehr benutzen? Wie etablieren sich Gewohnheiten anhand… weiterlesen
Unsere Webseite verwendet Cookies. Diese haben zwei Funktionen: Zum einen sind sie erforderlich für die grundlegende Funktionalität unserer Website. Zum anderen können wir mit Hilfe der Cookies unsere Inhalte für Sie immer weiter verbessern. Hierzu werden pseudonymisierte Daten von Website-Besuchern gesammelt und ausgewertet. Das Einverständnis in die Verwendung der Cookies können Sie jederzeit widerrufen. Weitere Informationen zu Cookies auf dieser Website finden Sie in unserer Datenschutzerklärung und zu uns im Impressum.
Funktional Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.
Kommentare